Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 II 395



83 II 395

53. Urteil der I. Zivilabteilung vom 29. Oktober 1957 i.S. Gautschi gegen
Bellaria AG Regeste

    Art. 126 OR. Verzichtet der Schuldner auf Verrechnung, wenn er Zahlung
verspricht, ohne zu wissen, dass er eine Gegenforderung hat?

Sachverhalt

    A.- Die Firma Gass & Co. führte auf Grund eines mit der Bellaria
A. G. als Bestellerin abgeschlossenen Werkvertrages vom 24. Januar
1951 Bauarbeiten aus. Obschon der Vertrag ihr die Abtretung der
Werklohnforderung verbot, trat sie am 6. September 1951 einen Teil in der
Höhe von Fr. 85'000.-- an die Schweizerische Bankgesellschaft ab. Nachdem
der Bellaria AG am folgenden Tage von der Abtretung Kenntnis gegeben worden
war, machte sie gegenüber der neuen Gläubigerin Vorbehalte hinsichtlich
der Höhe ihrer Schuld, ohne sich auf das Abtretungsverbot zu berufen. In
der Folge leistete sie der Firma Gass & Co. bis am 3. November 1951 noch
Zahlungen in der Höhe von Fr. 42'500.--. Am 13. August 1952 klagte die
Schweizerische Bankgesellschaft gegen die Bellaria AG auf Zahlung des
Restes von Fr. 70'535.-- der abgetretenen Forderung. Die Bellaria AG
widersetzte sich, indem sie unter anderem geltend machte, wegen des im
Werkvertrag enthaltenen Abtretungsverbotes sei die Abtretung ungültig. Das
Handelsgericht des Kantons Zürich hiess jedoch am 7. Juni 1956 die Klage
im Teilbetrage von Fr. 49'864.21 gut, und das Bundesgericht bestätigte
dieses Urteil am 7. November 1956.

    Am 15. September 1951 hatte die Bellaria AG mit Gass & Co. einen
zweiten Werkvertrag abgeschlossen. Am 21. November 1951 trat die
Unternehmerin von ihrer sich aus diesem Vertrage ergebenden Forderung
Fr. 16'000.-- an die Schweizerische Volksbank ab, nachdem die Bestellerin
dieser Bank am Vortage was folgt geschrieben hatte:

    "Auf Wunsch der Firma Gass & Co., Bauunternehmung, Zürich 6, bestätigen
wir Ihnen, dass wir den Betrag von Fr. 16'000.-- (sechzehntausend)
innert ca. vier Monaten zur Auszahlung an Sie gutschreiben.

    Den obigen Betrag werden wir Ihnen prompt auszahlen, sofern die
Firma Gass & Co. den ihr erteilten Auftrag für die Ausführung von
Erd-, Maurer- und Eisenbetonarbeiten Block B 2 Dübendorfstrasse 153,
in unserer Überbauung ,Kronwiese-Park' in Zürich 11, gemäss Werkvertrag
vom 15. September 1951 richtig erfüllt."

    Die Schweizerische Volksbank schrieb der Bellaria AG am 22. November
1951:

    "Wir nehmen Bezug auf Ihr Schreiben vom 20. dies und bestätigen Ihnen,
dass die rubr. Firma uns von ihrem Guthaben, herrührend aus ausgeführten
und auszuführenden Arbeiten an obenerwähnten Neubauten einen Teilbetrag von
Fr. 16'000.-- abgetreten hat, und wir bitten Sie daher um Kenntnisnahme,
dass diese Summe rechtsgültig nur noch an uns bezahlt werden kann.

    Im Sinne der mit Herrn Gautschi gehabten Besprechung wird die Firma
Gass & Co. Sie ersuchen, die uns abgetretene Summe bei erster Fälligkeit
einer Teilzahlung, spätestens jedoch innert vier Monaten, zu überweisen
und allfällige Gegenforde rungen Ihrerseits mit der noch verbleibenden
Restforderung der Firma Gass & Co. zu verrechnen.

    Wir bitten Sie, die Kenntnisnahme über die erfolgte Abtretung durch
Retournierung der inliegenden, von Ihnen zu unterzeichnenden Briefkopie
bestätigen zu wollen."

    Die Bellaria AG antwortete der Schweizerischen Volksbank am
24. November 1951 was folgt:

    "Wir erhielten Ihre Zuschrift vom 22. November 1951 und teilen
Ihnen mit, dass wir die uns zugestellte Abtretungserklärung nicht
unterzeichnen können. Wir haben Ihnen mit unserem Schreiben vom
20. November 1951 mitgeteilt, dass wir uns bereit erklären können,
aus einem Guthaben der Firma Gass & Co. aus ausgeführten und noch
auszuführenden Maurerarbeiten einen Betrag von Fr. 16'000.-- zu Ihren
Gunsten vorsorglich zu sperren. Dieser Betrag kann jedoch erst dann zur
Auszahlung kommen, wenn die Fa. Gass & Co. den Werkvertrag in allen Teilen
richtig erfüllt hat und eine allseits anerkannte Abrechnung vorliegt."

    Am 13. März 1952 trat die Schweizerische Volksbank die Forderung
von Fr. 16'000.-- an Paul Gautschi ab.

    B.- Gautschi klagte am 8. Dezember 1952 gegen die Bellaria AG beim
Handelsgericht des Kantons Zürich auf Bezahlung der Fr. 16'000.-- nebst 5%
Zins seit 10. Juli 1952 und Betreibungskosten.

    Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage, indem sie unter anderem
geltend machte, wenn die Abtretung der Forderung aus dem ersten Werkvertrag
an die Schweizerische Bankgesellschaft vom Gericht als gültig erklärt
werde, stehe ihr gegen die Masse der inzwischen in Konkurs gefallenen
Firma Gass & Co. eine Forderung auf Rückleistung von Fr. 42'500.-- zu,
die sie mit der von Gautschi eingeklagten Forderung verrechne.

    Nachdem der Prozess gegen die Schweizerische Bankgesellschaft beendet
war, hiess das Handelsgericht diese Einrede gut und wies daher am 4. Juni
1957 die Klage des Gautschi ab.

    C.- Der Kläger hat die Berufung erklärt. Er beantragt Gutheissung
der Klage, eventuell Rückweisung der Sache an das Handelsgericht zur
Bestimmung der Höhe seiner Forderung. Er macht geltend, die Schweizerische
Volksbank habe das im Briefe der Beklagten vom 20. November 1951 enthaltene
Zahlungsversprechen nach Treu und Glauben als Verzicht auf Verrechnung
betrachten dürfen.

    D.- Die Beklagte beantragt, die Berufung sei abzuweisen, eventuell
seien die Akten an das Handelsgericht zurückzuweisen zum Entscheid über die
noch nicht beurteilten weiteren Einwendungen und Einreden der Beklagten.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Schuldner kann zum voraus auf die Verrechnung verzichten. Der
Verzicht kommt durch zwei übereinstimmende gegenseitige Willensäusserungen
zustande, die ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen können (Art. 1 OR)
und die so auszulegen sind, wie die Gegenpartei sie nach Treu und Glauben
hat verstehen dürfen und tatsächlich verstanden hat (BGE 83 II 26 f.).

    Einer Äusserung des Schuldners darf nicht leichthin entnommen
werden, er wolle auf die Verrechnung verzichten, denn der Verzicht
benachteiligt ihn und entspricht daher dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
nicht. Insbesondere will nicht jeder, der Barzahlung verspricht, von
der Verrechnung absehen (VON THUR/SIEGWART, Allgem. Teil des schweiz. OR
642). Er will das namentlich dann nicht, wenn er Zahlung verspricht, ohne
um seine Gegenforderung zu wissen oder mit ihrer Entstehung zu rechnen;
auf ein Recht, das dem Schuldner nicht bewusst ist und das er auch
nicht für möglich hält, kann er nicht verzichten wollen (vgl. Entscheid
des deutschen Reichsgerichts vom 24. Februar 1910 in Zentralblatt für
freiwillige Gerichtsbarkeit und Notariat 1134; STAUDINGER, Komm. zum BGB,
9. Aufl., II 1. Teil S. 748; SOERGEL, BGB § 387 Anm. 5). Schon Art. 139
Abs. 2 aoR sah im Versprechen der Barzahlung einen Verzicht auf Verrechnung
nur, wenn der Schuldner wusste, dass er eine Gegenforderung hatte. Dass
diese Bestimmung bei der Revision des Gesetzes aufgehoben wurde, hat
nicht den Sinn, auch ein ohne Kenntnis der Gegenforderung abgegebenes
Zahlungsversprechen habe als Verzicht zu gelten. Die gesetzgebenden
Behörden wollten die Fälle, in denen ein solches Versprechen Verzicht auf
Verrechnung bedeutet, nicht vermehren, sondern gegenteils vermindern; sie
waren der Meinung, sogar ein in Kenntnis der Gegenforderung abgegebenes
Zahlungsversprechen müsse vom Richter daraufhin geprüft werden, ob es
als Äusserung des Verzichtswillens ausgelegt werden könne. Weiss der
Schuldner nicht, dass er eine Gegenforderung hat oder vor der Tilgung
seiner Schuld erlangen könnte, so ist ihm das Zahlungsversprechen nur dann
als Verzicht anzurechnen, wenn der Gläubiger nach Treu und Glauben den
Umständen entnehmen darf und tatsächlich entnimmt, der Schuldner denke
an die Möglichkeit der Verrechnung und wolle auf sie verzichten.

Erwägung 2

    2.- Das Handelsgericht ist der Auffassung, die Beklagte habe der
Schweizerischen Volksbank am 20. November 1951 das Zahlungsversprechen
abgegeben, ohne sich bewusst zu sein, dass ihre bis am 3. November 1951
vorgenommenen Auszahlungen an Gass & Co. von Fr. 42'500.-- sie von ihrer
Schuld nicht befreit hatten und sie daher den Betrag von dieser Firma
zurückfordern konnte. Der Kläger macht geltend, diese Feststellung beruhe
offensichtlich auf Versehen, denn im Prozesse gegen die Schweizerische
Bankgesellschaft hätte die Beklagte erklärt, dass sie bezahlte, weil sie
sich "auf das vertragliche Zessionsverbot gestützt habe"; er leitet daraus
ab, sie sei sich der Gefahr bewusst gewesen, nochmals zahlen zu müssen
und gegenüber Gass & Co. ein Rückforderungsrecht zu erlangen, wenn sie
mit ihrer Auffassung gegenüber der Schweizerischen Bankgesellschaft nicht
durchdringe. Damit beanstandet er jedoch lediglich die Beweiswürdigung. Das
Handelsgericht übersah nicht, dass die Beklagte den behaupteten Irrtum
über ihre Zahlungspflicht mit ihrem Vertrauen auf das vertragliche
Abtretungsverbot erklärt hat. Es leitet seine Auffassung, wonach sie um
ihr Rückforderungsrecht nicht wusste, gerade aus der eingehend begründeten
Feststellung ab, sie habe sich auf das Abtretungsverbot verlassen. Es will
damit sagen, sie sei überzeugt gewesen, dass sie wegen dieses Verbotes
durch die Zahlungen an Gass & Co. von ihrer Schuld befreit worden sei und
nicht an die Schweizerische Bankgesellschaft nochmals zahlen müsse. An
diese Würdigung ist das Bundesgericht gebunden.

    Ist demnach davon auszugehen, dass die Beklagte der Schweizerischen
Volksbank Zahlung versprochen hat, ohne zu wissen, dass ihr gegen Gass
& Co. eine Forderung von Fr. 42'500.-- zustand, so kann sie nicht den
Willen gehabt haben, auf die ihr nach Art. 169 OR zustehende Verrechnung
zu verzichten.

    Es liegt auch nichts vor, was die Schweizerische Volksbank nach Treu
und Glauben zum Schluss auf einen solchen Willen berechtigt hätte. Die
Beklagte war nicht verpflichtet, bei der Abgabe ihres Zahlungsversprechens
die Verrechnung ausdrücklich vorzubehalten. Dass sie die Zahlung von der
richtigen Erfüllung des Werkvertrages abhängig machte, ändert nichts. Aus
dieser Bedingung durfte die Schweizerische Volksbank nicht schliessen,
die Beklagte wolle keine weiteren Einreden erheben, die ihr allenfalls
zustehen könnten. Auch das Versprechen, "prompt" auszuzahlen, rechtfertigte
diesen Schluss nicht; es hatte nur den Sinn, dass die Zahlung nicht auf
sich warten lasse, sobald der Werkvertrag erfüllt sein werde. Tatsächlich
hat die Schweizerische Volksbank das Zahlungsversprechen nicht als
Verzicht auf Verrechnung ausgelegt, sonst wäre nicht zu verstehen,
weshalb sie in ihrer Antwort vom 22. November 1951 ausführte, Gass
& Co. werde die Beklagte ersuchen, allfällige Gegenforderungen nicht
mit dem abgetretenen Teil, sondern mit dem ihr verbleibenden Rest ihrer
Forderung zu verrechnen. Wollte die Schweizerische Volksbank, dass die
Beklagte keine Einrede erhebe, insbesondere nicht mit Gegenforderungen
verrechne, so konnte ihr als geschäftserfahrene Bank zugemutet werden,
eine dahin gehende ausdrückliche Erklärung zu verlangen. Im erwähnten
Satze ihres Antwortschreibens vom 22. November 1951 lag ein solches
Begehren nicht. Indem die Beklagte am 24. November 1951 die Briefkopie
ununterschrieben zurücksandte, die ihr die Schweizerische Volksbank am
22. November zur Unterzeichnung zugestellt hatte, brachte sie übrigens
zum Ausdruck, dass sie ihre Stellung als Schuldnerin nicht verschlechtern
lassen wolle.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichts des
Kantons Zürich vom 4. Juni 1957 bestätigt.