Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 83 II 141



83 II 141

22. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. Februar 1957
i.S. Albisser und Mitbeteiligte gegen Schwegler und Obergericht Luzern.
Regeste

    Besitzesschutz (Art. 926 ff. ZGB).

    1.  Das Verfahren zur Beurteilung von Besitzesschutzklagen nach
Art. 927 und 928 ZGB (ordentliches oder summarisches) wird vom kantonalen
Rechte bestimmt (Erw. 2 und 3, a).

    2.  Das kantonale Recht darf den Besitzesschutz nicht an strengere
als die vom Bundesrecht aufgestellten Voraussetzungen knüpfen. Für eine
Grunddienstbarkeit (Wegrecht) kann der Besitzesschutz (Art. 919 Abs. 2 ZGB)
auch dann angerufen werden, wenn der Eigentümer des in Anspruch genommenen
Landes ein allgemeines amtliches Verbot der Störung seines Eigenbesitzes
erwirkt hat (Erw. 3 Anfang und lit. a).

    3.  Wer den Besitzesschutz für eine Grunddienstbarkeit in Anspruch
nimmt (Art. 919 Abs. 2 ZGB), hat deren rechtlichen Bestand glaubhaft zu
machen (Erw. 3, b).

Sachverhalt

    A.- Schwegler ist Eigentümer einer Liegenschaft in Werthenstein. Am
1. September 1956 erwirkte er beim Amtsgerichtspräsidenten von Entlebuch
ein allgemeines Verbot des Befahrens einer auf seinem Boden verlaufenden
Strasse mit Motorfahrzeugen (Autos, Lastwagen, Traktoren etc.), ferner
des Betretens seiner Liegenschaft ausserhalb der bestehenden Wege und
des Laufenlassens von Hühnern, wie überhaupt jeder Besitzesstörung,
unter Strafandrohung.

    B.- Seine Nachbarn Albisser, Brechbühl und Isenschmid (sowie Koch,
der aber am Beschwerdeverfahren nicht mehr beteiligt ist) verlangten
unverzüglich die Aufhebung des Verbotes hinsichtlich der Wegbenützung
mit Motorfahrzeugen. Sie machten geltend, das streitige Wegstück sei seit
jeher ihre Zufahrtstrasse. Für deren Pflege und Unterhalt hätten sie schon
etliche Arbeit geleistet, namentlich beim Ausbau der Strasse im Winter
1952/53. Diese sei zum Befahren mit Automobilen geeignet, und heutzutage
sei die Benützung solcher Fahrzeuge auch für Bauern unentbehrlich.

    Der Beklagte widersetzte sich der Klage. Er verneinte jegliches
Durchfahrtsrecht der Kläger und erklärte, er habe zwar nichts dagegen
einzuwenden, dass sie das Strässchen "in vernünftigem Masse" mit
Pferdefuhrwerken und andern Fahrzeugen benützen, die eine ähnliche
Belastung mit sich bringen; dagegen könne er die Benützung mit Lastwagen
auch "precario modo" nicht gestatten.

    C.- Der Amtsgerichtspräsident von Entlebuch wies die
Verbotsaufhebungsklage ab, weil die Kläger nicht in der Lage seien,
urkundliche Fahrwegrechte nachzuweisen. Im gleichen Sinn entschied als
zweite Instanz die Justizkommission des luzernischen Obergerichtes. Deren
Entscheid vom 27. Dezember 1956 gelangte zum Ergebnis, es bestehe nicht
nur, was die Kläger zugegeben, kein urkundliches Fahrwegrecht, sondern
es sei auch weder eine Popularservitut noch eine Grunddienstbarkeit durch
unvordenkliche Verjährung (Immemorialverjährung) dargetan. Da die Kläger im
Verbotsaufhebungsverfahren ihre Behauptungen nicht hinreichend glaubhaft zu
machen vermochten, seien sie auf den ordentlichen Prozessweg zu verweisen.

    D.- Gegen diesen Entscheid haben die Kläger Nichtigkeitsbeschwerde
erhoben, mit der sie die Anwendung kantonalen statt eidgenössischen
Rechtes rügen (Art. 68 Abs. 1 lit. a OG). Sie machen geltend, ihre Klage
hätte als reine Besitzesschutzklage nach Art. 926 ff. ZGB, ohne Prüfung des
Rechtsbestandes, beurteilt werden sollen. Statt dessen habe das Obergericht
auf Grund einer kantonalen Prozessnorm (§ 350 Abs. 2 der luzernischen ZPO)
die Glaubhaftmachung einer materiellen Berechtigung verlangt.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 68 Abs. 1 OG ist in Zivilsachen, die nicht der
Berufung unterliegen, gegen letztinstanzliche Entscheide kantonaler
Behörden Nichtigkeitsbeschwerde zulässig, (a) wenn statt des massgebenden
eidgenössischen Rechts kantonales Recht angewendet worden ist.

    Eine Zivilsache liegt zweifellos vor, da die Kläger den Besitzesschutz
für eine Dienstbarkeit in Anspruch genommen haben. Und zwar hat die
Justizkommission des Obergerichts als letzte kantonale Instanz geurteilt.
Endlich ist nicht etwa ein Endentscheid ergangen, der bei genügendem
Streitwert der Berufung unterläge, sondern ein blosser Zwischenentscheid
im summarischen Verfahren (vgl. BGE 81 II 85), wie denn die Kläger auf
den ordentlichen Prozessweg verwiesen worden sind.

Erwägung 2

    2.- Die Verweisung in das ordentliche Verfahren bedeutet an
und für sich keinen Einbruch in das Bundesrecht. Dieses schreibt für
Besitzesschutzklagen nach Art. 927 und 928 ZGB kein bestimmtes Verfahren
vor, sondern stellt es dem kantonalen Recht anheim, für solche Klagen das
ordentliche oder ein summarisches Verfahren vorzusehen (vgl. E. HABLÜTZEL,
Verhältnis der Besitzschutzklagen zum Rechtsschutz, S. 102). Gilt nach
der kantonalen Ordnung für solche Klagen schlechthin das ordentliche
Verfahren, so muss es dabei sein Bewenden haben. Aber auch wenn ein
summarisches Verfahren zur Verfügung steht, jedoch in einem einzelnen
Falle nicht als geeignet befunden wird, die Entscheidung herbeizuführen,
kann nicht von der Anwendung kantonalen statt eidgenössischen Rechts
gesprochen werden. Mag darin eine unrichtige Anwendung der kantonalen
Verfahrensordnung liegen, so fällt doch der von den Beschwerdeführern
angerufene Nichtigkeitsgrund ausser Betracht.

Erwägung 3

    3.- Zu entscheiden ist daher nur, ob das kantonale Urteil, ganz
abgesehen vom Verfahrensgang, in seinem sachlichen Inhalt auf kantonalem
statt auf eidgenössischem Rechte beruhe. Die Beschwerdeführer behaupten
dies, indem sie dem Obergericht vorwerfen, aus einer kantonalen Prozessnorm
das Erfordernis eines Rechtsnachweises hergeleitet zu haben, während die
Art. 926 ff. ZGB bloss auf das tatsächliche Gewaltverhältnis des Besitzes
Rücksicht nehmen. Es ist ihnen zuzugeben, dass es nicht anginge, auf Grund
kantonalen Rechts für die vom Bundesrecht beherrschten Besitzesschutzklagen
besondere, zusätzliche Erfordernisse aufzustellen und den Besitzesschutz
auf solche Weise zu erschweren (vgl. OSTERTAG, N. 5 und HOMBERGER, N. 12
zu Art. 927 ZGB; gleiches gilt auch für die Klage aus Besitzesstörung
nach Art. 928 ZGB). Allein im vorliegenden Fall erweist sich diese Rüge
aus folgenden Gründen als unzutreffend.

    a) Neben dem bundesrechtlichen Besitzesschutz durch Selbsthilfe
(Art. 926 ZGB) oder Klage (Art. 927 und 928 ZGB) gibt es einen
administrativen und polizeilichen Besitzesschutz nach kantonalem Recht,
wie ihn hier der Grundeigentümer durch Erwirkung eines amtlichen Verbotes
in Anspruch genommen hat. Was vorzukehren sei, um die Wirkungen eines
solchen Verbotes auf bestehende Rechte abzuwenden, bestimmt grundsätzlich
ebenfalls das kantonale Recht (vgl. HOMBERGER, N. 18 zu Art. 927
ZGB). Während z.B. nach der bernischen Verbotsordnung ein Betroffener
durch blossen Einspruch ("Rechtsvorschlag") das Verbot, soweit es ihn
betrifft, unwirksam machen kann (Art. 118 ff. EG zum ZGB), ist er nach §
350 Abs. 2 der luzernischen ZPO auf Erhebung einer Verbotsaufhebungsklage
angewiesen. Freilich richtet sich das Verbot seinem Zweck entsprechend
nur gegen Unbefugte, auch wenn dies in seinem Texte nicht ausgesprochen
wird. Hätte der Verbotsnehmer eine Grunddienstbarkeit der Beschwerdeführer
mit der Befugnis, auch mit Traktoren und dergleichen Fahrzeugen über den
Weg zu fahren, anerkannt, so hätten sie das Verbot gar nicht auf sich
selber beziehen müssen. Da Schwegler aber das Verbot ohne Zweifel auch
gegen sie anzuwenden gedachte, indem er sie zu den Unbefugten rechnete,
hatten sie hinreichenden Anlass zur Verbotsaufhebungsklage, um ihre
wirklichen oder vermeintlichen Rechte zu wahren. Und zwar durften sie die
Klage auf die Art. 926 ff. ZGB stützen, da sie sich einen Rechtsbesitz
als Servitutsberechtigte zuschreiben. Denn es kann nicht der Sinn eines
auf einseitiges Verlangen des Grundeigentümers erlassenen allgemeinen
Verbotes sein, in bestehende Besitzverhältnisse einzugreifen und Dritten,
die am Verbotsbewilligungsverfahren nicht teilnahmen, den Rechtsbehelf
des Besitzesschutzes vorzuenthalten. Liegt auch in der Erwirkung des
Verbotes an und für sich keine verbotene Eigenmacht, so kann doch die
Anwendung des Verbotes gegen Personen, denen am betreffenden Grundstück
Besitz zusteht, ein unzulässiger Eingriff in einen solchen Besitzstand
sein. Und da im vorliegenden Falle das Verbot nach der Absicht des
Verbotsnehmers auch die Beschwerdeführer, seine Nachbarn, treffen sollte,
war damit deren wirklicher oder vermeintlicher Rechtsbesitz bedroht,
was einer Besitzesstörung durch Tathandlungen gleichsteht (vgl. WIELAND,
N. 2 zu Art. 928 ZGB). Die Klage war daher als Besitzesschutzklage nach
Art. 926 ff. ZGB, speziell 928, zu beurteilen.

    b) Darüber, ob die Beschwerdeführer am streitigen Wege Besitz kraft
einer Grunddienstbarkeit haben (Art. 919 Abs. 2 ZGB), konnte die Vorinstanz
nun aber nur nach Prüfung des Bestandes und Umfanges des behaupteten
Dienstbarkeitsrechtes entscheiden. Die Benützung eines Weges durch einen
Nachbar, mag sie auch seit längerer Zeit und oft vorgekommen sein, darf
nicht ohne weiteres als Ausübung eines Rechtes, zumal eines dinglichen,
gelten. Kann sie doch unerlaubt sein oder aus blosser Gefälligkeit,
auf Zusehen hin, ohne Einräumung eines Rechtes gestattet oder geduldet
worden sein. Eine Grunddienstbarkeit kann nur ausüben, wem eine solche
zusteht. Zur Errichtung bedarf es nach Art. 731 ZGB der Eintragung
in das Grundbuch (oder, nach luzernischem Recht, der sog. Vormerkung
am Hypothekarprotokoll; § 131 Ziff. 1 lit. b des EG zum ZGB). Deshalb
wird als erste Voraussetzung eines auf Grunddienstbarkeit gestützten
Besitzesschutzes der Grundbucheintrag bezeichnet (vgl. HOMBERGER,
N. 22 zu Art. 919 ZGB). Nun ist den Beschwerdeführern allerdings
darin beizustimmen, dass altrechtliche Grunddienstbarkeiten auch ohne
Emtragung bis auf weiteres in Kraft bleiben (Art. 21 SchlT des ZGB). Wenn
sie sich aber auf diese Rechtsgrundlage berufen wollten, hatten sie den
rechtlichen Bestand der Grunddienstbarkeit nach den dafür geltenden Normen
des kantonalen Rechtes glaubhaft zu machen. Davon geht der angefochtene
Entscheid zutreffend aus und hält sich damit, wie dargetan, im Rahmen der
bundesrechtlichen Voraussetzungen des Besitzesschutzes. Somit kann ihm
nicht die Anwendung kantonalen statt eidgenössischen Rechts vorgehalten
werden.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.