Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 I 67



82 I 67

11. Urteil vom 11. Juli 1956 i.S. Boschung gegen Freiburg,
Kassationsgericht und Staatsanwaltschaft. Regeste

    Strafprozess: Die Befristung eines Rechtsmittels hat ordentlicherweise
den Sinn, dass derjenigen Partei, der das Rechtsmittel zusteht, die Frist,
die das Gesetz gewährt, ganz zur Verfügung steht.

Sachverhalt

    A.- Die Strafprozessordnung für den Kanton Freiburg, vom 11. Mai 1927
(StPO), bestimmt:
      Art. 40.  "1. - Die Urteile sind schriftlich abzufassen, und zwar
      innerhalb fünf

    Tagen, falls die Kassationsfrist eine zehntägige ist;

    beträgt die Kassationsfrist zwanzig

    Tage oder ist gegen einen Abwesenden verhandelt worden, so hat die
Abfassung

    des Urteils innerhalb zehn Tagen zu erfolgen; die Urteile müssen vom

    Präsidenten und vom Gerichtsschreiber unterzeichnet sein.
      2.- ...".  Art. 54.  "1. - Alle Strafurteile ... können durch das
      Rechtsmittel der Kassation

    angefochten werden:
      a) wenn in der Verhandlung das Gesetz durch den Richter

    in einem wesentlichen Punkte verletzt worden ist;
      b) wenn das Urteil eine Gesetzesverletzung enthält, so

    insbesondere, wenn es nicht mit Gründen versehen ist.
      2.- ...".

    B.- In einer Strafsache gegen den Beschwerdeführer fand am
2. Dezember 1955 die Verhandlung vor Kriminalgericht des Seebezirkes
des Kantons Freiburg statt. Das Urteil wurde mündlich im Dispositiv
eröffnet. Gleichzeitig eröffnete der Präsident des Kriminalgerichts
dem Beschwerdeführer, dass er sofort verhaftet werde und dass die ihm
zustehende Kassationsfrist 10 Tage betrage.

    Am 12. Dezember 1955 reichte der amtliche Verteidiger des
Beschwerdeführers Kassationsbeschwerde ein mit der Behauptung, Art. 40
Ziff. 1 und Art. 54 Ziff. 1 StPO seien dadurch verletzt worden, dass das
mit der Begründung versehene Strafurteil nicht nur nicht innert 5 Tagen
nach Ausfällung, sondern nicht einmal bei Ablauf der lotägigen Frist für
die Kassationsbeschwerde vorgelegen habe.

    Das freiburgische Kantonsgericht hat die Beschwerde mit Entscheid vom
18. Januar 1956 abgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt,
die vom Beschwerdeführer erhobene Rüge aus Art. 40 Ziff. 1 StPO betreffe
einen Verfahrensfehler. Ein solcher sei in Anlehnung an Art. 54 Ziff. 1
lit. a StPO zu behandeln, welche Vorschrift die Kompetenzausscheidung
des gerichtlichen Verfahrens von der der Beschwerde an die Anklagekammer
unterliegenden Voruntersuchung bezwecke. Nach Vorschrift des Gesetzes
müsse die gerügte Gesetzesverletzung einen wesentlichen Punkt betreffen,
der für die Verteidigung der Rechte des Angeklagten erhebliche Bedeutung
habe. Die Bestimmung, dass der Gerichtsschreiber innert bestimmter Frist
das Urteil redigieren müsse, sei eine Ordnungsvorschrift. Deren Verletzung
könne nur dann als Kassationsgrund angerufen werden, wenn dadurch die
Rechte des Angeklagten verletzt worden seien, so z.B. wenn das Urteil bei
Ablauf der Kassationsfrist noch nicht redigiert gewesen wäre oder wenn
wegen der verspäteten Redaktion dem Verurteilten die für die Ergreifung
des Rechtsmittels rechtzeitige Kenntnisnahme verunmöglicht worden wäre.

    Hier habe das Urteil am 12. Dezember 1955, dem letzten Tage der
Frist für die Kassationsbeschwerde, gegen Mittag, vorgelegen und sei
zur Verfügung des Verteidigers des Beschwerdeführers gestanden. Der
Beschwerdeführer habe übrigens unterlassen darzulegen, dass er sein
Möglichstes getan habe, um die Beschwerde ausarbeiten zu können. Dass
sein Vertreter am Montag, den 12. Dezember 1955 sehr beschäftigt gewesen
wäre, werde nicht behauptet. Somit hätte dieser die Möglichkeit und die
Pflicht gehabt, sich am letzten Tage der Frist um das Stillschweigen des
Gerichtsschreibers zu bekümmern, sei es durch persönliche Vorsprache,
sei es durch telephonischen Anruf. Wenn dies geschehen wäre, hätte die
Beschwerde noch rechtzeitig verfasst werden können, zumal dafür bis
Mitternacht Zeit gewesen wäre und es sich nicht um eine schwierige Sache
gehandelt habe.

    Ob für die Beschwerdefrist die Restitution zu gewähren sei, sei nicht
zu prüfen, da der Beschwerdeführer kein Restitutionsgesuch gestellt
habe. Der Beschwerdeführer habe damit eine Verteidigungsmöglichkeit
verpasst, die nicht von vorneherein aussichtslos gewesen wäre.

    C.- Der Beschwerdeführer erhebt die staatsrechtliche Beschwerde
und beantragt Aufhebung der Urteile des Kassationsgerichts Freiburg vom
18. Januar 1956 und des Kriminalgerichts Murten vom 2. Dezember 1955. Es
wird geltend gemacht, der angefochtene Entscheid beruhe auf Verletzung
der Rechtsgleichheit und Willkür. Zur Begründung wird im wesentlichen
ausgeführt, gemäss Art. 40 Ziff. 1 StPO sei dem Gerichtsschreiber und
den Parteien je die Hälfte der Rechtsmittelfrist für die Redaktion des
Urteils, bzw. des Rechtsmittels eingeräumt. Es wäre daher ein Einbruch
in die Rechtsgleichheit, wenn man mit der Vorinstanz annehmen wollte,
es hätte genügt, wenn dem Beschwerdeführer noch der Montagnachmittag zur
Verfügung gestanden hätte. Zum mindesten wäre es angezeigt gewesen, dass
der Gerichtsschreiber den Anwalt des Beschwerdeführers benachrichtigt
hätte, als das Urteil redigiert war. Weil der Beschwerdeführer vom
Urteil nicht habe Kenntnis nehmen können innert Frist, sei es ihm
auch unmöglich gewesen, allfällige Kassationsgründe gegen dieses
motivierte Urteil geltend zu machen. Da der Beschwerdeführer keine
Frist versäumt habe, sei ein Restitutionsgesuch nicht in Frage gekommen.
Soweit er eine Kassationsbeschwerde habe begründen können, sei dieselbe
fristgerecht eingereicht worden. Schliesslich liege Willkür auch darin,
dass der Beschwerdeführer am Tage nach der Zustellung des motivierten
Kassationsentscheides vom 18. Januar 1956 in die Anstalt Bellechasse
überführt worden sei, weil das Strafurteil vom 2. Dezember 1955, ungeachtet
des noch hängigen Rechtsmittels, als rechtskräftig erklärt worden sei.

    Das Bundesgericht hat die Beschwerde begründet erklärt und das Urteil
des Kassationsgerichts Freiburg aufgehoben

Auszug aus den Erwägungen:

                          in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Art. 40 Abs. 1 StPO schreibt vor, dass das schriftliche
Urteil innert 5 Tagen abzufassen ist, wenn die Kassationsfrist 10 Tage
beträgt, und in 10 Tagen bei 20tägiger Kassationsfrist. Damit werden dem
Verurteilten bei lotägiger Kassationsfrist fünf Tage, bei 20tägiger 10 Tage
zur Prüfung des begründeten Urteils und zur Geltendmachung allfälliger
Kassationsgründe zur Verfügung gestellt. Hier handelt es sich um eine
Beschwerdefrist von 10 Tagen.

    Die Befristung eines Rechtsmittels hat ordentlicherweise den Sinn,
dass derjenigen Partei, der das Rechtsmittel zusteht, die Frist, die
das Gesetz gewährt, ganz zur Verfügung steht. Wenn daher, wie nach der
Ordnung in Art. 40 Abs. 1 StPO, die Urteilsbegründung während des Laufes
der Beschwerdefrist abzufassen ist, so darf dadurch der Zeitraum, den das
Gesetz dem Betroffenen einräumt, nicht verkürzt werden. Der Betroffene
hat während der Frist von der Urteilsbegründung Kenntnis zu nehmen, sie
zu prüfen, sich mit seinem Verteidiger zu beraten und seine Eingabe in
der gesetzlichen Form auszuarbeiten und einzureichen. Hiefür bedarf er
der im Gesetz vorgesehenen Frist. Er hat Anspruch darauf, dass sie ihm
gewährt wird. Die Auffassung vollends, auf der das angefochtene Urteil
beruht, der Verteidiger hätte sich am letzten Tage der Frist für die
Kassationsbeschwerde und das bis dahin nicht vorliegende Urteil bemühen
und seine Beschwerde gegen die an diesem Tage gegen Mittag endlich
ausgefertigte, aber noch nicht eröffnete Urteilsbegründung erheben
sollen, lässt sich mit sachlichen Gründen nicht vertreten. Art. 40 Abs. 1
StPO will die gesetzliche Frist für die Kassationsbeschwerde für die
betroffene Partei im äussersten Falle hälftig teilen. Abgesehen davon,
dass dem Verurteilten in jenem Zeitpunkte die Frist, auf deren Gewährung
er gesetzlichen Anspruch hatte, überhaupt nicht mehr zu Verfügung stand,
ist es Sache der Behörde, für die richtige Bekanntgabe des Urteils an die
Partei besorgt zu sein, und nicht Sache der Partei, sich um die Einsicht
in ein noch nicht eröffnetes Urteil zu bemühen.

Erwägung 2

    2.- Hiegegen kann nicht eingewendet werden, der Beschwerdefuhrer
habe ein sachliches Interesse, gegen das Sachurteil erster Instanz
eine Kassationsbeschwerde einzureichen, nicht nachgewiesen. Es handelt
sich um den Anspruch des Verurteilten auf Gewährung des gesetzlichen
Verteidigungsrechts, also letzten Endes um den Anspruch auf rechtliches
Gehör. Dieser ist nach feststehender Praxis des Bundesgerichts formeller
Natur. Seine Verletzung hat die Aufhebung des angefochtenen Entscheides
auch dann zur Folge, wenn der Beschwerdeführer ein materielles Interesse
hieran nicht nachweist, bzw. nicht nachzuweisen vermag (BGE 76 I 182,
75 I 227, 64 I 148/9 und dortige Zitate).