Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 IV 194



82 IV 194

42. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 2. November 1956
i.S. Polizeirichteramt der Stadt Zürich gegen Sp. Regeste

    Art. 206 StGB. Zumutungen oder Anträge. Sie brauchen nicht öffentliches
Ärgernis zu erregen, mussen aber objektiv als solche erkennbar sein.

Sachverhalt

    A.- Sp. obliegt seit 1950 gewerbsmässiger Unzucht. In der ersten
Morgenstunde des 6. September 1955 ging sie in einem grell roten
Mantel vor dem Nachtcafé "Noé" an der Ecke Stadelhoferstrasse/Gottfried
Keller-Strasse in Zürich langsam auf und ab, schaute auffällig umher und
fixierte die Männer, die ihr begegneten oder an ihr vorbeifuhren. Als
sich kein Freier einstellte, schlenderte sie durch die Theaterstrasse und
über den Bellevueplatz nach der Quaibrücke, wo sie sich auf dem Gehsteig
langsam auf den Randstein zu bewegte. Ihr Verhalten veranlasste den Führer
eines grossen Amerikanerwagens, in ihrer Nähe anzuhalten. Den Anruf der
Wageninsassen beantwortete sie mit der Bemerkung, dass ihrer zu viele
seien. Kurz darauf hielt der Führer eines Renault-Heck an und öffnete
die Türe. Sp. begab sich sofort zum Wagen. Als sie einsteigen wollte,
wurde sie von einer Polizeistreife angehalten.

    B.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich büsste Sp.  wegen Anlockens
zur Unzucht (Art. 206 StGB) mit Fr. 100.--. Die Gebüsste verlangte
gerichtliche Beurteilung.

    Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Zürich sprach sie am 9.
Februar 1956 mit der Begründung frei, Art. 206 StGB sei nur auf jene
Dirnen anzuwenden, die öffentliches Ärgernis erregen, indem sie sich
für jedermann erkennbar zur Unzucht anbieten. Uneingeweihte hätten indes
nicht erkennen können, das Sp. einen Freier suche; der Fahrzeugführer,
der sie zum Mitfahren eingeladen habe, habe sie denn auch nicht als Dirne
erkannt, sondern nur angehalten, um festzustellen, ob sie auf das Öffnen
der Türe reagiere.

    C.- Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich führt Nichtigkeitsbeschwerde
mit dem Antrag, das Urteil sei aufzuheben und die Sache zur Anwendung
des Art. 206 StGB an den Einzelrichter zurückzuweisen.

    D.- Sp. beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales.)

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 206 StGB ist strafbar, wer gewerbsmässig und öffentlich
jemanden durch Zumutungen oder Anträge zur Unzucht anlockt. Die Dirne
oder der männliche Prostituierte erfüllen diese Bestimmung, wie der
Kassationshof in BGE 81 IV 109 ausgeführt hat, wenn sie durch ihr Verhalten
in der Öffentlichkeit das Zustandekommen des unsittlichen Geschäfts
bewusst und gewollt fördern. Unter "Anträge oder Zumutungen" fällt
dabei jeder Hinweis auf die Bereitschaft zur Unzucht (THORMANN-OVERBECK,
N. 3 zu Art. 206 StGB), gleichviel, ob er sich an eine ganz bestimmte
Person oder an jeden Vorbeigehenden richte. Dass der Hinweis besonders
aufdringlich oder auffällig sei, ist nicht erforderlich. Zumutungen oder
Anträge können auch in eine Form gekleidet sein, die sie als solche nur dem
Eingeweihten oder einzelnen unauffällig angesprochenen Personen verraten,
von Uneingeweihten hingegen nicht sofort oder nicht ohne weiteres erkannt
werden (vgl. für das deutsche Recht: Leipziger Kommentar, 2. Bd., S. 735;
SCHWARZ, DStGB, S. 720).

    Dies gilt ohne Einschränkung, wenn sich die Dirne an einen ganz
bestimmten Mann wendet. Spricht sie ihn öffentlich an oder lädt sie ihn im
Verlauf eines in der Öffentlichkeit geführten Gesprächs zur Unzucht ein, so
macht sie sich auch dann strafbar, wenn sie sich bemüht, von Dritten nicht
bemerkt zu werden. Bietet sie sich dagegen, ohne einen bestimmten Mann ins
Auge zu fassen, jedem Vorübergehenden an, so zieht sie notwendigerweise
die Aufmerksamkeit eines grösseren Kreises auf sich. Ein Antrag ist in
diesen Fällen in der Regel darin zu erblicken, dass die Dirne ihren Leib
zur Schau stellt wie der Kaufmann seine Waren, um damit Kunden zu werben
und Geschäfte abzuschliessen (BGE 81 IV 110). Ihr Verhalten muss für
jedermann als Aufforderung oder Angebot zur Unzucht erkennbar sein, was
objektiv zu verstehen ist und nicht heisst, dass es tatsächlich auch von
jedermann erkannt werde oder erkannt werden müsse, und dass von Anfang an
über die Absichten der Dirne kein Zweifel herrschen könne. Nicht selten
wird demgemäss nur ein kleiner Teil der Vorübergehenden auf eine Dirne
oder einen männlichen Prostituierten aufmerksam, die in der Öffentlichkeit
Kunden suchen, während die meisten sie übersehen. Anträge oder Zumutungen
von Prostituierten brauchen daher nicht stets öffentliches Ärgernis zu
erregen; strafbar kann auch ein Verhalten sein, dem die Mehrzahl keine
weitere Beachtung schenkt.

    Zwar weist BGE 81 IV 110 darauf hin, zum Schutz vor individueller
Belästigung durch Anträge zur Unzucht sei schon Art. 205 StGB erlassen
worden. Die Folgerung, Art. 206 StGB sei unter diesem Gesichtspunkt
überflüssig, dieser Tatbestand schütze nur die Interessen der
Allgemeinheit, nicht die des einzelnen, darf indes nicht missverstanden
werden. Dass die unzüchtige Belästigung auf Antrag, das gewerbsmässige
Anlocken zur Unzucht dagegen von Amtes wegen verfolgt wird, erklärt
sich nicht daraus, dass die Belästigung in jedem Fall weniger Anstoss
erregen würde als das Anlocken; die Anrempelung einer ehrbaren Frau kann
beispielsweise ebenso sehr zum öffentlichen Ärgernis werden wie das
Auftreten von Prostituierten. Wenn das Anlocken zur Unzucht von Amtes
wegen zu verfolgen ist, so ist dies vielmehr darauf zurückzuführen,
dass die Bekämpfung der Auswüchse der Strassenprostitution den Behörden
anheimgestellt werden muss und nicht vom Antrag eines wider seinen Willen
Belästigten abhängig gemacht werden kann. Die Allgemeinheit ist daran
interessiert, dass auch jenen Dirnen und männlichen Prostituierten
Einhalt geboten wird, die sich lediglich einzelnen Vorübergehenden
bemerkbar machen.

Erwägung 3

    3.- Der Einzelrichter stellt nicht in Abrede, dass die
Beschwerdegegnerin gewerbsmässig und öffentlich zur Unzucht anlockte. Dass
sie durch ihr Verhalten auf der Strasse das Zustandekommen des unsittlichen
Geschäfts bewusst und gewollt förderte und es damit zu Zumutungen oder
Anträgen kommen liess, steht nach dem Gesagten ausser Frage. Wenn sie in
auffälliger Kleidung nach Dirnenart langsam auf- und abging, umherblickte
und Männer fixierte, so liess sie damit deutlich genug erkennen, dass
sie ihren Leib feilhielt. Die Annahme der Vorinstanz, der Führer des
Renault-Heck habe die Beschwerdegegnerin, als er sie zur Mitfahrt einlud,
nicht (mit Sicherheit) als Dirne erkannt, steht dem nicht entgegen. Dass
er angehalten haben will, um festzustellen, ob sie auf das Öffnen der Türe
reagiere, zeigt, dass er dies zumindest stark vermutete. Die Insassen
des Amerikanerwagens scheinen darüber vollends nicht im Zweifel gewesen
zu sein. Im übrigen genügt es, dass das Vorhaben der Beschwerdegegnerin
objektiv erkennbar war; dass die Vorübergehenden es tatsächlich erkannten,
ist, wie dargelegt, nicht erforderlich. Ebenso wenig fällt ins Gewicht,
dass die Strassen, auf denen sich die Beschwerdegegnerin aufhielt,
nach Annahme der Vorinstanz nicht als Marktstand Prostituierter bekannt
sein sollen. Lässt der Strichgang als solcher erkennen, dass sich die
Dirne gegen Bezahlung zur Unzucht anbietet, so ist es im Hinblick auf
die Anwendung des Art. 206 StGB ohne Belang, ob sie sich auf einem
als Marktstand Prostituierter bekannten Platz oder an einem andern Ort
aufhalte (vgl. SCHWARZ, DStGB, S. 720; Juristische Wochenschrift 1934,
S. 501, Nr. 12).

    Die Beschwerdegegnerin hat den Tatbestand des Art. 206 StGB somit in
jeder Hinsicht erfüllt.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirkes Zürich vom 9. Februar 1956
aufgehoben und die Sache zur Verurteilung der Beschwerdegegnerin im Sinne
der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.