Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 IV 168



82 IV 168

35. Urteil des Kassationshofes vom 6. Juli 1956 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen Lehner. Regeste

    Art. 25 Abs. 1 MFG. Zulässige Geschwindigkeit innerorts auf gross
angelegter und übersichtlicher Durchgangsstrasse; Rücksichtnahme auf
die Ortsbevölkerung.

Sachverhalt

    A.- Am 3. Mai 1955, um 18.45 Uhr, führte Lehner seinen Personenwagen
auf der Winterthurerstrasse mit 90 km/Std. durch das Dorf Tagelswangen
Richtung Zürich, wobei er - angeblich in der unübersichtlichen Kurve beim
Dorfeingang - fünf Motorfahrzeuge überholte.

    B.- Mit Verfügung vom 9. Juni 1955 büsste das Statthalteramt Pfäffikon
Lehner wegen Widerhandlung gegen Art. 25 Abs. 1 und 26 MFG mit Fr. 80.-.

    Lehner verlangte gerichtliche Beurteilung.

    Am 20. Januar 1956 hob der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichtes Pfäffikon die Strafverfügung des Statthalteramtes
auf und sprach Lehner mangels Beweises des rechtswidrigen Überholens
frei. Gegenüber der Anklage wegen Übertretung von Art. 25 Abs. 1 MFG führte
er zur Begründung seines auch in dieser Beziehung freisprechenden Urteils
im wesentlichen folgendes aus: Die fragliche Innerortsstrecke sei breit
und übersichtlich. Unmittelbar an der Strasse ständen keine Wohnhäuser
oder öffentlichen Gebäude. Als Lehner Tagelswangen durchfahren habe, sei
die Strasse trocken gewesen, es habe kein Gegenverkehr geherrscht, und
auf den Trottoirs hätten sich keine spielenden Kinder aufgehalten. Unter
diesen besonders günstigen Umständen sei nicht einzusehen, warum auf der
gut ausgebauten und zu den meistbefahrenen Überlandstrassen zählenden
Strecke mangels einer behördlichen Geschwindigkeitsbeschränkung nicht
auch innerorts mit 90 km/Std. gefahren werden dürfe. Massgebend seien
die konkreten Verhältnisse.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Einzelrichters sei
insoweit aufzuheben, als es Lehner von der Übertretung des Art. 25 Abs. 1
MFG freispreche.

    D.- Lehner beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 25 Abs. 1 MFG hat der Führer die Geschwindigkeit
seines Fahrzeuges den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen
anzupassen. Er hat namentlich in Ortschaften, bei Bahnübergängen und
auch sonst überall da, wo das Fahrzeug Anlass zu Verkehrsstörungen,
Belästigung des Publikums, Erschrecken des Viehs oder Unfällen bieten
könnte, den Lauf zu mässigen oder nötigenfalls anzuhalten.

    Nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung hat der Führer im
Bereich geschlossener Siedlungen unter allen Umständen mit mässiger
Geschwindigkeit zu fahren. Es besteht eine unwiderlegliche Vermutung,
dass er den Verkehr gefährdet, wenn er in voller Fahrt eine Ortschaft
durchquert (STREBEL, Kommentar, N. 14 zu Art. 25). Art. 25 Abs. 1 will
abstrakt die Unfallgefahr bekämpfen. Er gilt auch, wenn der Führer
keine Anhaltspunkte für eine drohende konkrete Gefahr hat (BGE 81 IV
131). Daher hilft dem Beschwerdegegner nicht, dass die von ihm befahrene
Innerortsstrecke breit und übersichtlich ist, unmittelbar an der Strasse
keine öffentlichen Gebäude stehen, in deren Nähe stets mit Passanten
gerechnet werden muss, und im Zeitpunkt, als er Tagelswangen durchfuhr,
weder Gegenverkehr herrschte, noch spielende Kinder zu sehen waren. Das
verkennt der Vorderrichter. Zwar lässt eine gut ausgebaute und weithin
überblickbare Innerortsstrecke höhere Geschwindigkeiten zu als eine enge
und gewundene Ortsstrasse (vgl. BGE 61 I 439). Indessen gestattet Art.
25 Abs. 1 MFG nicht schlechthin, innerorts so schnell zu fahren, dass noch
innerhalb der Sichtweite angehalten werden kann. Das Gesetz verlangt, dass
jeder Fahrzeugführer zur Verhütung von Unfällen beitrage und das Publikum
nicht belästige. Dementsprechend hat er selbst auf gross angelegten
und übersichtlichen Durchgangsstrassen so zu fahren, dass den andern
Strassenbenützern ein angemessenes Mass an Bewegungsfreiheit bleibt. Das
muss insbesondere dort gelten, wo die Ortsbevölkerung, wie in Tagelswangen,
darauf angewiesen ist, die Durchgangsstrasse als Dorfstrasse zu benutzen,
um ihren täglichen Obliegenheiten nachgehen zu können. Diesfalls hat
der Führer stets damit zu rechnen, dass ein Fussgänger oder ein anderer
Strassenbenützer in angemessener Entfernung die Fahrbahn überqueren
könnte. Das darf er nicht durch zu hohe Fahrgeschwindigkeit ungebührlich
erschweren oder gar verunmöglichen. Darauf liefe es aber hinaus, wäre
ein Tempo von 90 km/Std. auch innerorts zulässig.

    Daran ändert nichts, dass Art. 25 Abs. 1 MFG die zulässige
Höchstgeschwindigkeit nicht zahlenmässig festsetzt. Diese wird
innerorts durch die Rücksicht auf die übrigen Strassenbenützer und die
Strassenanwohner bestimmt (STREBEL, aaO N. 15 zu Art. 25). Das gilt
unabhängig davon, ob eine behördliche Geschwindigkeitsbeschränkung
signalisiert ist oder nicht. Die Kantone sind nicht verpflichtet, den
Führer durch Aufstellen von Verbotstafeln darüber zu belehren, wie schnell
er fahren darf. Auch kommt nichts darauf an, ob sich ein bestimmtes
Tempo im Rahmen des Üblichen hält. Das Höchstmass der zulässigen
Fahrgeschwindigkeit beurteilt sich nicht nach den Gepflogenheiten der
Motorfahrzeuglenker; vielmehr sind diese von Gesetzes wegen verpflichtet,
unabhängig von den besondern Strassen- und Verkehrsverhältnissen innerorts
stets eine mässige Geschwindigkeit einzuhalten. Es ist daher entgegen der
Auffassung des Beschwerdegegners nicht ungesetzlich, Fahrzeugführer, die
schneller fahren, als es die Rücksicht auf die übrigen Strassenbenützer
und die Strassenanwohner erlaubt, zu bestrafen.

Erwägung 2

    2.- Da nach dem Gesagten eine Geschwindigkeit von 90 km/Std. innerorts
geeignet ist, die vom Gesetz bekämpften Nachteile und Gefahren
herbeizuführen, verstiess Lehner bei seiner Fahrt durch Tagelswangen gegen
Art. 25 Abs. 1 MFG. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache
zur Bestrafung des Beschwerdegegners an den Vorderrichter zurückzuweisen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichts Pfäffikon vom 20. Januar
1956 aufgehoben und die Sache zur Verurteilung Lehners im Sinne der
Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.