Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 II 81



82 II 81

12. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. März 1956
i. S. Eheleute Müller-Scheurer. Regeste

    Ehescheidung. Rückzug der Klage vor Bundesgericht.

Sachverhalt

    A.- Mit Urteil vom 3. Oktober 1955 hat das Obergericht des Kantons
Zürich, I. Zivilkammer, die Ehe der Parteien in Gutheissung der Klage
der Ehefrau auf Grund von Art. 137 ZGB geschieden (Dispositiv 1), die
Widerklage, mit welcher der Ehemann gestützt auf Art. 142 ZGB ebenfalls
die Scheidung verlangt hatte, in Anwendung von Art. 142 Abs. 2 ZGB
abgewiesen (Dispositiv 2), den Beklagten verpflichtet, der Klägerin als
Entschädigung und Genugtuung im Sinne von Art. 151 ZGB eine monatliche
Rente von Fr. 250.-- zu entrichten (Dispositiv 3), die Zusprechung einer
höhern Genugtuungsleistung abgelehnt (Dispositiv 4) und die güterrechtliche
Auseinandersetzung geordnet (Dispositiv 5-11).

    B.- Gegen dieses Urteil haben beide Parteien die Berufung an das
Bundesgericht erklärt.

    Die Klägerin beantragt in erster Linie, es sei davon Vormerk
zu nehmen, dass sie nicht mehr scheidungsgewillt sei und daher ihr
Scheidungsbegehren zurückziehe; demgemäss sei das angefochtene Urteil
mit Ausnahme von Dispositiv 2 (Abweisung der Widerklage) und 12-14
(Kosten und Prozessentschädigung) aufzuheben; der Prozess sei als durch
Rückzug der Scheidungsklage erledigt abzuschreiben. Für den Fall, dass das
Bundesgericht auf diesen Hauptantrag nicht eintreten sollte, stellt sie den
Eventualantrag, Dispositiv 3 des angefochtenen Urteils sei in dem Sinne
abzuändern, dass der Beklagte verpflichtet werde, ihr als Entschädigung
(eventuell als Entschädigung und Genugtuung) im Sinne von Art. 151 ZGB,
eventuell teilweise als Unterhaltsleistung im Sinne von Art. 152 ZGB,
eine monatliche Rente von Fr. 350.-- zu entrichten; Dispositiv 4 sei
aufzuheben und der Beklagte sei zu verpflichten, ihr eine Genugtuung im
Sinne von Art. 151 Abs. 2 ZGB in Höhe von Fr. 5000.-- zu bezahlen.

    Der Beklagte beantragt, in Aufhebung von Dispositiv 2 des angefochtenen
Urteils sei zu erkennen, dass die Ehe auch in Gutheissung seiner Widerklage
gemäss Art. 142 ZGB geschieden werde. Eingangs der Berufungsbegründung
erklärt er, er ziehe die Berufung zurück und nehme das vorinstanzliche
Urteil an, falls auf die Berufung und den Klagerückzug der Klägerin nicht
eingetreten werde.

    C.- Gleichzeitig mit der Berufung an das Bundesgericht erklärte die
Klägerin gegenüber dem Obergericht den Rückzug der Scheidungsklage. Das
Obergericht beschloss am 28. November 1955, dieser Erklärung werde keine
Folge gegeben.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Scheidungskläger, der
mit seinen Begehren vor dem obern kantonalen Gericht im Scheidungspunkt
oder sogar vollständig (auch hinsichtlich der Nebenfolgen der Scheidung)
obgesiegt hat, während der Frist für die Berufung an das Bundesgericht
seine Klage noch wirksam zurückziehen kann, selbst wenn die Gegenpartei
das Urteil des obern kantonalen Gerichts nicht weiterzieht oder es
doch wenigstens im Scheidungspunkt unangefochten lässt. Im vorliegenden
Falle hat nämlich der Beklagte gegen das Urteil der letzten kantonalen
Instanz, das die Scheidung auf Begehren der Klägerin aussprach und seine
ebenfalls auf Scheidung gerichtete Widerklage abwies, die Berufung an das
Bundesgericht erklärt mit dem Antrag, die Ehe sei auch in Gutheissung der
Widerklage zu scheiden. Wenn nicht schon die während der Berufungsfrist
abgegebene Rückzugserklärung der Klägerin, verhinderte auf jeden Fall
diese Berufung, dass die Scheidung mit dem Ablauf jener Frist rechtskräftig
werden konnte. Haben beide Parteien auf Scheidung geklagt, so wird diese
nach der Rechtsprechung nicht endgültig, solange auch nur das Schicksal
der einen dieser beiden Klagen vor Bundesgericht noch zur Diskussion
steht (BGE 77 II 289). Hat sich das Bundesgericht infolge Berufung
der im Scheidungspunkt ganz oder zum Teil unterlegenen Partei noch mit
diesem Punkte zu befassen, so ist die andere nicht nur berechtigt, ihr
Scheidungsbegehren noch auf ein Trennungsbegehren zu reduzieren (vgl. den
eben zit. Entscheid), sondern steht ihr auch frei, ihr Scheidungsbegehren
durch Erklärung an das Bundesgericht ganz fallen zu lassen (vgl. BGE 43 II
457 oben, 51 II 81/82; Entscheide vom 30. September 1942 i.S. Schlegel und
vom 13. August 1955 i.S. Bollinger). Dies gilt nicht etwa nur dann, wenn
die Parteien sich ausgesöhnt haben, wie es in den drei zuletzt genannten
Fällen zutraf, sondern allgemein. Es handelt sich bei dieser Befugnis um
einen Ausfluss des höchstpersönlichen Rechts, über den Scheidungsanspruch
zu verfügen, solange wenigstens die Scheidungsfrage noch die Gerichte
beschäftigt. Der von der Klägerin erklärte Klagerückzug ist daher zu
beachten und Dispositiv 1 des angefochtenen Urteils demzufolge als
dahingefallen zu erklären.

    Hieran ändert nichts, dass der Beklagte in der Berufungsbegründung
erklärt hat, er ziehe die Berufung zurück, falls auf die Berufung und den
Klagerückzug der Klägerin nicht eingetreten werde. Diese Erklärung macht
seine Berufung nicht unwirksam. Man hat es nicht mit einer bedingten
Berufung zu tun, die nach der Auffassung BIRCHMEIERS unzulässig wäre
(Handbuch des OG S. 197/198), sondern mit einem bedingten Rückzug
der Berufung. Die Bedingung, unter welcher der Beklagte seine Berufung
zurückzuziehen erklärte, ist nicht eingetreten und kann nicht eintreten,
weil eben der Klagerückzug der Klägerin vom Bundesgericht nicht als
unbeachtlich zurückzuweisen, sondern als wirksam entgegenzunehmen ist.

    Als rechtsmissbräuchlich kann diese Rückzugserklärung entgegen der
Auffassung des Beklagten nicht bezeichnet werden, obschon sie nicht
infolge einer Versöhnung der Parteien abgegeben wurde und der Prozess
heute im siebenten Jahre steht. Die Klägerin ist im kantonalen Verfahren
mit ihren Begehren hinsichtlich der Nebenfolgen in wesentlichen Punkten
nicht oder nur teilweise durchgedrungen und besitzt, zumal angesichts
der tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, keine Gewähr dafür,
dass das Bundesgericht in diesen Punkten in dem von ihr gewünschten Sinne
urteilen würde. Schon deshalb ist ihr zuzubilligen, dass sie nach Erlass
des vorinstanzlichen Urteils aus legitimen Gründen dazu gelangen konnte,
den Fortbestand der Ehe einer Scheidung vorzuziehen.

Erwägung 2

    2.- Die Berufung des Beklagten, die hienach materiell zu behandeln ist,
erweist sich als unbegründet....

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    1.- Vom Rückzug der Klage der Ehefrau wird Kenntnis genommen und
das Urteil des Obergerichtes des Kantons Zürich, I. Zivilkammer, vom
3. Oktober 1955 als in Dispositiv Ziff. 1 und 3-11 dahingefallen erklärt.

    2.- Die Berufung des Ehemannes wird abgewiesen und Dispositiv Ziff. 2
des angefochtenen Urteils bestätigt.