Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 82 III 104



82 III 104

29. Entscheid vom 5. Oktober 1956 i.S. Frutiger. Regeste

    Unpfändbarkeit (Art. 92 Ziff. 1 SchKG). Die massgebenden tatsächlichen
Verhältnisse sind von Amtes wegen abzuklären; Art. 8 ZGB gilt hier
nicht. Ist die Einrichtung einer seit längerer Zeit nicht mehr oder
nur noch selten benutzten Wohnung für den Schuldner unentbehrlich?
Berücksichtigung allfälliger künftiger Bedürfnisse? Gehört ein Verwandter,
der hin und wieder die Ferien beim Schuldner verbringt, zu dessen Familie?

Sachverhalt

    Am 5. September 1956 arrestierte das Betreibungsamt Murten
in der Wohnung von Frau Frutiger in Löwenberg u.a. ein Bett, einen
Nachttisch, eine Waschkommode, einen dreiteiligen Schrank, zwei Stühle,
einen Lampenschirm, einen Petrolkocher und eine Küchenwaage sowie drei
Herrenhemden und eine Herrensportweste. In der Wohnung des Ehemanns der
Schuldnerin in Murten arrestierte es ausserdem u.a. 24 Sterilisiergläser,
8 kg Reis und 3 kg Maisgries. Mit Beschwerde vom 13. September 1956
beantragte die Schuldnerin, diese Gegenstände seien vom Arrestbeschlag
zu befreien, weil sie unpfändbar seien. Die Herrenhemden und die
Herrensportweste bezeichnete sie als Eigentum ihres Neffen Royer in Nancy,
der die Ferien bei ihr verbracht habe. Am 18. September 1956 wies die
kantonale Aufsichtsbehörde die Beschwerde ab mit der Begründung, aus
dem Berichte des Betreibungsamts ergebe sich, dass die Schuldnerin die
eheliche Wohnung in Murten vor mehr als drei Jahren verlassen und dann
für einige Zeit in Löwenberg ein separates Domizil bezogen habe und nun
seit längerer Zeit in Suhr wohne, wo sie bei einem Arzt in Dienst stehe:
nach der Auffassung des Betreibungsamtes seien die von ihr in Murten
und Löwenberg zurückgelassenen Gegenstände nicht unpfändbar, weil sie
diese seit ca. drei Jahren nicht mehr benutze und nicht behaupte, sie
in naher Zukunft zu benötigen; diese Auffassung sei richtig, da die in
Art. 92 Ziff. 1 SchKG erwähnten Gegenstände nicht als dem Schuldner
unentbehrlich angesehen werden könnten, wenn er sie dauernd nicht im
Gebrauch habe; die nach den Angaben der Schuldnerin im Dritteigentum
stehenden Gegenstände könnten nicht einfach freigegeben werden; dagegen
sei das Widerspruchsverfahren gemäss Art. 106-109 SchKG zu eröffnen.

    Mit ihrem Rekurs an das Bundesgericht erneuert die Schuldnerin
ihr Beschwerdebegehren. Sie macht geltend, sie brauche die von ihr als
Kompetenzstücke beanspruchten Gegenstände wenn auch nicht täglich, so
doch in ziemlich regelmässigen Abständen (während der Ferien und dann,
wenn sie zu Gerichtsverhandlungen in ihrem Scheidungsprozess und drei
anderen Zivilprozessen nach Murten komme); ferner sei zu berücksichtigen,
dass sie in ihrem vorgerückten Alter (63 Jahre) zufolge Schwindens
ihrer körperlichen Kräfte ihre derzeitige, für sie sehr strenge Stelle
in absehbarer Zeit verlieren könnte und dann darauf angewiesen wäre,
die streitigen Gegenstände wieder täglich zu gebrauchen; die Herrenhemden
und die Herrensportweste seien Kompetenzstücke ihres Neffen, der im Sinne
von Art. 92 Ziff. 1 SchKG zu ihrer Familie zu rechnen sei, da er während
seiner Ferienaufenthalte in der Schweiz in ökonomischer Beziehung eine
Gemeinschaft mit ihr gebildet habe; der angefochtene Entscheid sei auch
deshalb gesetzwidrig, weil die Vorinstanz die tatsächliche Behauptung
des Betreibungsamtes, dass sie (die Rekurrentin) die arrestierten
Gegenstände seit drei Jahren nicht mehr gebrauche, ohne Überprüfung als
wahr hingenommen und ihrem Entscheid zugrunde gelegt habe, was gegen
Art. 8 ZGB verstosse.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Rekursschrift enthält neue tatsächliche Behauptungen, die
gemäss Art. 79 OG unzulässig sind, da die Rekurrentin Gelegenheit und
Anlass gehabt hätte, diese Behauptungen schon in der Beschwerde an die
Vorinstanz vorzubringen, wenn sie daraus etwas zu ihren Gunsten ableiten
wollte.

Erwägung 2

    2.- Es kann keine Rede davon sein, dass die Vorinstanz Art. 8 ZGB
verletzt habe, indem sie die Angabe des Betreibungsamtes, dass die
Rekurrentin die arrestierten Einrichtungsgegenstände seit drei Jahren
nicht mehr benutze, ohne weitere Beweiserhebungen als richtig betrachtete
und ihrem Entscheid zugrunde legte. Art. 8 ZGB ist hier überhaupt nicht
anwendbar, weil die tatsächlichen Verhältnisse, die für die Beurteilung
der Frage der Unpfändbarkeit von Bedeutung sind, nicht von den Beteiligten
zu beweisen, sondern von Amtes wegen abzuklären sind (BGE 77 III 108, 79
III 73). Zudem sind die tatsächlichen Angaben, die das Betreibungsamt in
seiner Vernehmlassung machte, nicht Parteibehauptungen, sondern amtliche
Feststellungen. Auf diese konnte die Vorinstanz ohne Bundesrechtsverletzung
abstellen, da keine Anhaltspunkte dafür vorhanden waren, dass sie unrichtig
sein könnten.

    Hatte die Rekurrentin die arrestierten Einrichtungsgegenstände seit
drei Jahren nicht mehr im Gebrauch, so muss der Vorinstanz darin Recht
gegeben werden, dass nicht angenommen werden kann, sie seien für die
Rekurrentin im Sinne von Art. 92 Ziff. 1 SchKG unentbehrlich.

    Bei diesem Schlusse müsste es im übrigen auch bleiben, wenn man die
neue Behauptung der Rekurrentin berücksichtigen wollte, dass sie diese
Gegenstände bei gelegentlichen Besuchen in Murten (während der Ferien
und bei Anlass von Gerichtsverhandlungen) benutze. Unentbehrlich sind
zwar, wie in BGE 61 III 144 festgestellt, nicht nur solche Gegenstände,
die Tag für Tag gebraucht werden. Auch "mehr oder weniger gelegentliche
Verwendungen" können nach Art. 92 Ziff. 1 SchKG in Betracht kommen,
aber nur, wenn sie notwendig sind. Diese Voraussetzung ist hier anders
als im Falle BGE 61 III 144 nicht erfüllt. Dass die Rekurrentin für
die recht seltenen Gelegenheiten, bei denen sie nach Murten kommt,
eine eingerichtete Wohnung zur Verfügung habe, kann nicht als notwendig
anerkannt werden. Die unbestimmte Möglichkeit, dass sie gezwungen sein
könnte, ihre Stelle in Suhr aufzugeben, kann die Freigabe der in Frage
stehenden Einrichtungsgegenstände ebenfalls nicht rechtfertigen, weil
beim Entscheid über die Unpfändbarkeit grundsätzlich auf die Verhältnisse
abzustellen ist, die im Zeitpunkt der Pfändung bestehen (BGE 48 III 185,
53 III 71, 54 III 62).

Erwägung 4

    4.- Hinsichtlich der Sterilisiergläser und des Reis- und Maisvorrates
ist auf den Rekurs nicht einzutreten, weil in der Rekursschrift nicht
dargelegt wird, wieso der angefochtene Entscheid in diesem Punkte
bundesrechtswidrig sei (Art. 79 Abs. 1 OG). Im übrigen liegt auf der
Hand, dass die Rekurrentin diese Gegenstände nicht als Kompetenzstücke
beanspruchen kann.

Erwägung 5

    5.- Zur Familie im Sinne von Art. 92 Ziff. 1 SchKG gehören nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts nur solche Personen, die in häuslicher
und ökonomischer Gemeinschaft mit dem Schuldner leben (BGE 35 I 795, 39 I
300 = Sep. ausg. 12 S. 253, 16 S. 115; BGE 82 III 22). Dies kann vom Neffen
der Rekurrentin, der hin und wieder die Ferien bei ihr verbringt und dann
jeweilen nach Nancy heimkehrt, nicht gesagt werden. Schon aus diesem Grunde
können die Herrenhemden und die Sportweste, die diesem Neffen gehören
sollen, nicht als Kompetenzstücke freigegeben werden. Der Behauptung,
dass es sich bei diesen Gegenständen um Dritteigentum handle, kann nur
durch Einleitung des Widerspruchsverfahrens Rechnung getragen werden.

Entscheid:

       Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen, soweit daraufeinzutreten ist.