Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 6



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Urteilskopf

139 V 6

2. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. S. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_276/2012 vom 14. Dezember 2012

Regeste

Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG; Auslösung der Verwirkungsfrist.
Eine Ausgleichskasse hat sich das Wissen um einen zur Rentenrückforderung
Anlass gebenden Sachverhalt auch dann anrechnen zu lassen, wenn ihr dieser im
Zusammenhang mit der beitragsrechtlichen Erfassung des Rentenbezügers zur
Kenntnis gelangte (E. 5.2; Bestätigung der Rechtsprechung gemäss Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts I 26/93 vom 25. Oktober 1995 E. 4d).

Sachverhalt ab Seite 6

BGE 139 V 6 S. 6

A. Nachdem seine erste Ehefrau am 29. April 2000 verstorben war, sprach die
Ausgleichskasse des Kantons Bern (nachfolgend: Ausgleichskasse) dem 1964
geborenen S. ab Mai 2000 eine ordentliche Witwerrente der Alters- und
Hinterlassenenversicherung zu (Verfügung vom 14. Juni 2000). Im Zusammenhang
mit einer Abgleichung der Zivilstandsdaten aus dem zentralen Rentenregister der
AHV/IV mit denjenigen des Informatisierten Standesregisters erfuhr die
Ausgleichskasse im September 2011, dass sich der Versicherte bereits am 2.
April 2004 wieder verheiratet hatte. Darauf verfügte die Kasse am 27. September
2011 (sinngemäss) die rückwirkende
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Aufhebung der Witwerrente ab Mai 2004 und forderte gleichzeitig sämtliche
unrechtmässig bezogenen Rentenbetreffnisse im Gesamtbetrag von Fr. 103'434.-
von S. zurück. Auf dessen Einsprache hin reduzierte die Ausgleichskasse den
Rückerstattungsbetrag auf Fr. 70'890.-, was den ab Oktober 2006 zu Unrecht
ausgerichteten Witwerrenten entspricht (Einspracheentscheid vom 22. November
2011).

B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 6. März 2012 ab,
soweit es darauf eintrat.

C. S. führt Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag, eine
Rückerstattungspflicht sei gänzlich zu verneinen. Überdies lässt er um
unentgeltliche Rechtspflege (unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung)
im letztinstanzlichen Verfahren ersuchen.
Während die Ausgleichskasse auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichten
kantonales Gericht und Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine
Vernehmlassung.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten (Art. 25 Abs. 1
erster Satz ATSG [SR 830.1]). Gemäss Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG erlischt
der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die
Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem
Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Bei den
genannten Fristen handelt es sich um Verwirkungsfristen (BGE 138 V 74 E. 4.1 S.
77 mit Hinweisen).

3. Das kantonale Gericht hat zutreffend festgestellt, dass der Anspruch des
Beschwerdeführers auf die bisher bezogene Witwerrente mit dessen
Wiederverheiratung vom 2. April 2004 erloschen ist (Art. 23 Abs. 4 lit. a AHVG)
und die in der Folge unrechtmässig bezogenen Leistungen - unabhängig von einer
Meldepflichtverletzung - grundsätzlich zurückzuerstatten sind (Art. 25 Abs. 1
erster Satz ATSG; vgl. BGE 122 V 134). Nachfolgend zu prüfen ist, ob der
Rückforderungsanspruch der Verwaltung verwirkt ist, weil - wie in der
Beschwerde geltend gemacht - die hievor angeführte einjährige relative
Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG bereits abgelaufen war, als die
Ausgleichskasse ihre Rückerstattungsverfügung vom 27. September 2011 erliess.
Nicht mehr im Streite liegt, dass selbst bei Verneinung dieser Frage nur die ab
Oktober 2006
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geleisteten Rentenbetreffnisse im Gesamtbetrag von Fr. 70'890.- zurückgefordert
werden können, wogegen die von Mai 2004 bis September 2006 zu Unrecht bezogenen
Witwerrenten zufolge Ablaufs der fünfjährigen absoluten Verwirkungsfrist nicht
zurückzuerstatten sind.

4.

4.1 Laut bereits angeführtem (E. 2 hievor) Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG
verwirkt der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, "nachdem die
Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat". Unter dieser Wendung ist
der Zeitpunkt zu verstehen, in welchem die Verwaltung bei Beachtung der ihr
zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für
eine Rückerstattung bestehen (SVR 2011 BVG Nr. 25 S. 93, 9C_611/2010 E. 3; vgl.
BGE 124 V 380 E. 1 S. 382; BGE 122 V 270 E. 5a S. 274; je mit Hinweisen). Ist
für die Leistungsfestsetzung (oder die Rückforderung) das Zusammenwirken
mehrerer mit der Durchführung der Versicherung betrauter Behörden notwendig,
genügt es für den Beginn des Fristenlaufs, dass die nach der Rechtsprechung
erforderliche Kenntnis bei einer der zuständigen Verwaltungsstellen vorhanden
ist (BGE 119 V 431 E. 3a S. 433; BGE 112 V 180 E. 4c S. 182; ZAK 1989 S. 558, H
212/88 E. 4b in fine; Urteile 9C_534/2009 vom 4. Februar 2010 E. 3.2.2 und
9C_1057/2008 vom 4. Mai 2009 E. 4.1.2).

4.2 Die Durchführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung erfolgt unter
der Aufsicht des Bundes durch die Arbeitgeber und Arbeitnehmer,
Verbandsausgleichskassen, kantonale Ausgleichskassen, Ausgleichskassen des
Bundes und eine zentrale Ausgleichsstelle (Art. 49 AHVG). Gemäss Art. 61 Abs. 1
AHVG werden die kantonalen Ausgleichskassen von den Kantonen als selbständige
öffentliche Anstalten errichtet. Diese unterhalten in der Regel für jede
Gemeinde eine Zweigstelle; wo die Verhältnisse es rechtfertigen, kann für
mehrere Gemeinden eine gemeinsame Zweigstelle errichtet werden (Art. 65 Abs. 2
AHVG). Laut Art. 116 Abs. 1 der bundesrätlichen Verordnung vom 31. Oktober 1947
über die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHVV; SR 831.101) haben die
Gemeindezweigstellen der kantonalen Ausgleichskassen in allen Fällen u.a.
folgende Aufgaben zu übernehmen: Auskunftserteilung (lit. a); Entgegennahme und
Weiterleitung von Korrespondenzen (lit. b); Abgabe der Formulare und der
einschlägigen Vorschriften (lit. c) sowie Mitwirkung bei der Erfassung aller
Beitragspflichtigen (lit. g); den Gemeindezweigstellen können weitere Aufgaben
übertragen werden.
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Im Kanton Bern errichten die Einwohnergemeinden Zweigstellen der kantonalen
Ausgleichskasse; mehrere Einwohnergemeinden können eine Zweigstelle gemeinsam
führen (Art. 7 Abs. 1 und 2 des kantonalen Einführungsgesetzes vom 23. Juni
1993 zum AHVG [EG AHVG; BSG 841.11]). Nach Abs. 5 der letztgenannten
Gesetzesbestimmung werden die Aufgaben und Befugnisse der Zweigstellen durch
Verordnung des Regierungsrates geregelt. Gestützt darauf hat der Regierungsrat
des Kantons Bern als weitere Aufgaben im Sinne von Art. 116 Abs. 1 in fine AHVV
die Entgegennahme von Anmeldungen und Leistungsgesuchen, die Weiterleitung der
überprüften Unterlagen sowie die laufende Meldung aller erheblichen
Veränderungen den Gemeindezweigstellen übertragen (Art. 9 Abs. 2 in Verbindung
mit Art. 10 Abs. 1 der Verordnung vom 4. November 1998 über die kantonale
Ausgleichskasse und ihre Zweigstellen [AKBV; BSG 841.111]). Überdies wirken die
Zweigstellen nach Art. 10 Abs. 2 AKBV u.a. mit bei der Überprüfung von
Leistungsansprüchen (lit. d) und von Arbeitgebern, die nicht der
Arbeitgeberkontrolle unterstehen (lit. e).

5.

5.1 Die vorliegenden (Renten-)Akten enthalten keinerlei Anhaltspunkte für den
vom Beschwerdeführer erhobenen Einwand, wonach die Ausgleichskasse oder deren
Zweigstelle X. bereits vor der im September 2011 erfolgten Datenabgleichung
zwischen zentralem Rentenregister und Informatisiertem Standesregister Kenntnis
von der Wiederverheiratung im April 2004 gehabt hätten. Der Beschwerdeführer
macht denn auch geltend, "als juristischer Laie" sei er sich "nicht bewusst"
gewesen, dass er die Zivilstandsänderung den AHV-Organen hätte melden müssen,
"da bisher alles durch die Behörden geregelt" worden sei. Die
Wiederverheiratung sei der Zivilstandsbehörde bekannt gewesen und somit auch
der AHV-Zweigstelle X. Im Zusammenhang mit dem Down-Syndrom seines Sohnes
hätten überdies periodisch Hausbesuche von IV-Abklärungspersonen stattgefunden,
welche jeweils (auch) von der zweiten Ehefrau empfangen worden seien.
Soweit sich der Beschwerdeführer auf den Standpunkt stellt, das Wissen von
Zivilstandsbehörde und IV-Stelle um die neuerliche Heirat sei auch den
AHV-Organen zuzurechnen, kann ihm nicht gefolgt werden. Nach Art. 63 Abs. 1
lit. b und c AHVG obliegt die Festsetzung und die Auszahlung der AHV-Renten
(und somit auch die Rückforderung unrechtmässig bezogener Renten) allein den
Ausgleichskassen
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(vgl. auch die in vorstehender E. 4.2 dargelegte Zuständigkeitsregelung).
Offenkundig können weder Zivilstandsbehörde noch IV-Stelle als mit der
Durchführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung betraute Behörden im
Sinne der angeführten Rechtsprechung gelten (E. 4.1 hievor in fine). Die
Kenntnis einer in diesem Lichte unzuständigen Verwaltungsstelle vermag die
einjährige Verwirkungsfrist des Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG nicht
auszulösen. An dieser Betrachtungsweise ändert nichts, dass die Ausgleichskasse
bei einer früheren Abgleichung des zentralen Rentenregisters mit den Daten der
Zivilstandsbehörden auch entsprechend früher auf die Wiederverheiratung des
Beschwerdeführers gestossen wäre. Anzumerken bleibt, dass dem
Zivilstandsregister gegenüber Sozialversicherungsträgern rechtsprechungsgemäss
keine (mit dem Handelsregister vergleichbare) Publizitätswirkung beizumessen
ist (SVR 2002 IV Nr. 2 S. 5, I 678/00 E. 3b).

5.2 In Verdeutlichung seiner im kantonalen Verfahren vorgetragenen
Sachverhaltsdarstellung macht der Beschwerdeführer letztinstanzlich geltend,
dass er in den Jahren vor seiner zweiten Eheschliessung Kinderbetreuerinnen
angestellt gehabt und für diese AHV-Beiträge abgerechnet habe. In der Folge
seien ihm von der AHV-Zweigstelle X. noch mehrmals entsprechende
Lohnbescheinigungsformulare zugestellt worden, welche er "jeweils mit dem
Vermerk 'Aufgrund Wiederverheiratung hinfällig' retourniert habe". Über
diesbezügliche Unterlagen verfügt der Beschwerdeführer selber offenbar nicht
(mehr); immerhin findet sich in seinen vorinstanzlich eingereichten Akten die
Kopie des Lohnbescheinigungsformulars für das Jahr 2006, welches seine
Unterschrift und das Datum vom 15. Oktober 2007 trägt und zudem mit dem
handschriftlichen Vermerk "=> keine Personen mehr beschäftigt!" versehen wurde.
Der Frage, ob der Beschwerdeführer die (weiter nicht ausgefüllten) Formulare
für die Lohnabrechnungen der Jahre 2004 und 2005 sowie allenfalls 2007 ff.
tatsächlich mit einem Verweis auf seine neuerliche Eheschliessung an die
zuständige AHV-Zweigstelle X. (vgl. E. 4.2 hievor) zurückgesandt hat, ist
entscheidwesentliche Bedeutung beizumessen: Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG
verlangt bloss, dass die Versicherungseinrichtung (hier die Ausgleichskasse)
vom Rückforderungsanspruch Kenntnis erhält; auf welchem Wege dies geschieht,
spielt grundsätzlich keine Rolle. So hat sich eine Ausgleichskasse das Wissen
um einen zur Rentenrückforderung Anlass gebenden Sachverhalt
rechtsprechungsgemäss auch dann anrechnen zu lassen, wenn ihr
BGE 139 V 6 S. 11
dieser im Zusammenhang mit der beitragsrechtlichen Erfassung des Rentenbezügers
als Nichterwerbstätiger zur Kenntnis gelangte (Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts I 26/93 vom 25. Oktober 1995 E. 4d). Dies muss auch
gelten, wenn die Kenntnisnahme durch die Kasse im Rahmen der Erfassung des
Rentenbezügers als beitragspflichtiger Arbeitgeber erfolgt. Falls die
Ausgleichskasse des Kantons Bern oder deren Gemeindezweigstelle X. tatsächlich
auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Art und Weise wiederholt von der
neuerlichen Heirat vom 2. April 2004 erfahren hat, wäre der
Rückforderungsanspruch zufolge Ablaufs der einjährigen Verwirkungsfrist längst
erloschen gewesen, als die Kasse am 27. September 2011 die Rückerstattung der
unrechtmässig bezogenen Witwerrenten verfügte. Etwas anderes gilt nur für die
innerhalb eines Jahres vor Erlass der Rückerstattungsverfügung ausgerichteten
Rentenbetreffnisse: Der diesbezügliche Rückforderungsanspruch konnte solange
nicht verwirken, als die monatlichen Renten noch gar nicht ausbezahlt waren (
BGE 122 V 270 E. 5b/bb S. 276; SVR 2012 IV Nr. 33 S. 131, 9C_363/2010 E. 3.1
und 3.2).

5.3 Die Ausgleichskasse hat in ihrer Vernehmlassung ebenso wenig wie das
kantonale Gericht oder das BSV zu den letztinstanzlichen Vorbringen des
Beschwerdeführers Stellung bezogen. Die Kasse hat auch davon abgesehen, die
beitragsrechtlichen Akten des Beschwerdeführers nachzureichen. Im Lichte
vorstehender Erwägungen ist es jedoch unabdingbar, die Frage nach der
Verwirkung der Rückerstattungsforderung nicht nur auf der Grundlage der
leistungsbezogenen, sondern auch der beitragsbezogenen Kassenunterlagen zu
beantworten. Die Sache wird deshalb zur Einholung sämtlicher den
Beschwerdeführer betreffenden Akten der Ausgleichskasse (einschliesslich
derjenigen der AHV-Zweigstelle X.) und zu anschliessendem neuen Entscheid über
die Rückerstattung der unrechtmässig bezogenen Witwerrenten an die Vorinstanz
zurückgewiesen.