Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 375



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Urteilskopf

139 V 375

49. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. N. gegen
Progrès Versicherungen AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_278/2012 vom 19. Juni 2013

Regeste

Art. 32 und 52 Abs. 1 lit. b KVG; Art. 34 und 64 ff. KVV; Art. 9 Abs. 1 und 4
sowie Art. 14 Abs. 1 lit. f HMG; Orphan Drug (Soliris bei paroxysmaler
nächtlicher Hämoglobinurie); Kostenübernahme von Arzneimitteln ausserhalb der
Spezialitätenliste.
Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten von nicht in der
Spezialitätenliste aufgeführten Arzneimitteln gemäss Rechtsprechung (E. 4.4).
Die arzneimittelrechtliche Zulassung ist nicht ausschlaggebend für die
Kassenpflichtigkeit (E. 6.3).

Sachverhalt ab Seite 376

BGE 139 V 375 S. 376

A. Im Jahre 2003 wurde bei der 1942 geborenen N. paroxysmale nächtliche
Hämoglobinurie (PNH) diagnostiziert. Seit 2005 erhält sie das Medikament
Soliris, welches in der Schweiz seit dem 4. Januar 2010 heilmittelrechtlich
zugelassen ist.
Von September 2005 bis April 2008 erfolgte die Therapie im Rahmen einer
internationalen Studie und anschliessend im Status "Compassionate Use" mit
Sonderbewilligung des Schweizerischen Heilmittelinstituts (Finanzierung durch
den Entwickler und Hersteller des Medikaments).
Am 8. Mai 2009 erteilte die Progrès Versicherungen AG (nachfolgend: Progrès),
bei welcher N. grundversichert ist, erstmals Gutsprache für die Kosten der
Behandlung mit Soliris für die Dauer von drei Monaten.
Auf Begehren der Versicherten erliess die Progrès am 16. April 2010 eine
Verfügung, in welcher sie einen (weiteren) Leistungsanspruch zu Lasten der
Grundversicherung verneinte. Die von N. dagegen erhobene Einsprache hiess die
Progrès in dem Sinne teilweise gut, als sie die Kosten für die Behandlung bis
zum Zeitpunkt der Zulassung von Soliris am 4. Januar 2010 übernahm. Im
weitergehenden Umfang lehnte sie die Einsprache ab (Entscheid vom 24. Juni
2010).

B. Beschwerdeweise liess die Versicherte beantragen, der Einspracheentscheid
sei insoweit aufzuheben, als die Einsprache abgewiesen worden sei, und es seien
alle Kosten der Behandlung mit dem Medikament Soliris ab 4. Januar 2010 durch
die Progrès zu übernehmen. Mit Entscheid vom 14. Februar 2012 wies das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.

C. N. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem
Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Progrès zu
verpflichten, die Kosten der Behandlung mit dem Arzneimittel Soliris für die
Zeit vom 4. Januar 2010 bis zum 28. Februar 2011 zu übernehmen.
Mit Vernehmlassung vom 28. Januar 2013 beantragt die Progrès die Abweisung der
Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) enthält sich in seiner
Vernehmlassung vom 19. März 2013 eines formellen Antrages. Das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine
Stellungnahme.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
BGE 139 V 375 S. 377

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

4.

4.1 Die soziale Krankenversicherung gewährt Leistungen unter anderem bei
Krankheit (Art. 3 ATSG [SR 830.1]; Art. 1a Abs. 2 lit. a KVG). Im Rahmen der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung dürfen die Versicherer keine anderen
Kosten als diejenigen für die Leistungen nach den Art. 25-33 KVG übernehmen (
Art. 34 Abs. 1 KVG). Dazu zählen auch die Kosten für die Leistungen, die der
Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs.
1 KVG). Diese Leistungen umfassen unter anderem die ärztlich verordneten
Arzneimittel (Art. 25 Abs. 2 lit. b KVG). Voraussetzung für eine
Kostenübernahme ist die Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit der
Behandlung, wobei die Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen
sein muss (Art. 32 Abs. 1 KVG). Die Wirksamkeit, die Zweckmässigkeit und die
Wirtschaftlichkeit der Leistungen werden periodisch überprüft (Art. 32 Abs. 2
KVG).

4.2 Die Vergütungspflicht erstreckt sich nach Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG
grundsätzlich nur auf Arzneimittel, die in der Spezialitätenliste (SL)
aufgeführt sind. Die SL zählt die pharmazeutischen Spezialitäten und
konfektionierten Arzneimittel im Sinne einer Positivliste abschliessend auf (
BGE 136 V 395 E. 5.1 S. 398 f.; BGE 134 V 83 E. 4.1 S. 85 ff.; BGE 131 V 349 E.
2.2 S. 351; GEBHARD EUGSTER, Die obligatorische Krankenversicherung
[nachfolgend: Krankenversicherung], in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2.
Aufl. 2007, S. 513 Rz. 346). Aufgenommen werden nur Spezialitäten, für welche
die Pharmahersteller oder Importeure einen Antrag stellen (EUGSTER,
Rechtsprechung des Bundesgerichts zum KVG [nachfolgend: Rechtsprechung], 2010,
N. 3 zu Art. 52 KVG).

4.3 Kassenpflichtig sind pharmazeutische Spezialitäten des Weitern nur im
Rahmen von Indikationen und Anwendungsvorschriften, die bei Swissmedic
registriert sind (BGE 130 V 532 E. 5.2 S. 541 f.). Die Anwendung eines
Arzneimittels ausserhalb der registrierten Indikationen und
Anwendungsvorschriften macht dieses zu einem solchen "ausserhalb der Liste"
bzw. zu einem "Off-Label-Use" und damit grundsätzlich zur Nichtpflichtleistung
(BGE 136 V 395 E. 5.1 S. 398 f.; BGE 130 V 532 E. 3.2.2 S. 538 und E. 3.4 S.
540; EUGSTER, Rechtsprechung, N. 35 zu Art. 25 KVG; zum Ganzen: LORIS
MAGISTRINI, L'utilisation hors étiquette de médicaments et son remboursement
par l'assurance-maladie, Jusletter vom 31. Januar 2011).
BGE 139 V 375 S. 378

4.4 Nach der Rechtsprechung sind ausnahmsweise auch die Kosten von nicht in der
SL aufgeführten Arzneimitteln und von Arzneimitteln der SL ausserhalb der
registrierten Indikationen und Anwendungsvorschriften zu übernehmen.
Voraussetzung ist, dass ein sogenannter Behandlungskomplex vorliegt oder dass
für eine Krankheit, die für die versicherte Person tödlich verlaufen oder
schwere und chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen kann, wegen
fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame Behandlungsmethode
verfügbar ist; diesfalls muss das Arzneimittel einen hohen therapeutischen
(kurativen oder palliativen) Nutzen haben (BGE 136 V 395 E. 5.2 S. 399; BGE 131
V 349 E. 2.3 S. 351; BGE 130 V 532 E. 6.1 S. 544 f.; MAGISTRINI, a.a.O., Rz.
112 ff.). Ein wichtiger Anwendungsbereich für Ausnahmen von der Listenpflicht
sind Medikamente gegen Krankheiten, die so selten sind, dass sich für die
Hersteller das Zulassungsverfahren nicht lohnt (sog. Orphan Use bzw. Orphan
Diseases; BGE 136 V 395 E. 5.2 S. 399; EUGSTER, Krankenversicherung, S. 515 Rz.
354). Als Orphan Drugs gelten Arzneimittel, die in der Schweiz (noch) nicht
zugelassen sind und gegen seltene Krankheiten eingesetzt werden, die zur
Diagnose, Verhütung oder Behandlung eines Leidens bestimmt sind, das
lebensbedrohlich ist oder bei Nichtbehandlung eine chronische Invalidität oder
ein schweres chronisches Leiden hervorruft und nicht mehr als 5 von 10'000
Personen betrifft (vgl. Handbuch des BAG betreffend die Spezialitätenliste in
der ab 1. Februar 2008 gültig gewesenen Fassung, Rz. 811 [vgl. auch Rz. I.4.1
in der ab 1. September 2011 geltenden Fassung]; vgl. auch die Verordnung [EG]
Nr. 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1999
über Arzneimittel für seltene Leiden; PETER BRAUNHOFER, Arzneimittel im
Spannungsfeld zwischen HMG und KVG aus der Sicht des Krankenversicherers, in:
Das neue Heilmittelgesetz, Eichenberger/Poledna [Hrsg.], 2004, S. 103 ff., 106
f.; VALÉRIE JUNOD, Accès aux médicaments, Les conditions du remboursement dans
l'assurance-maladie obligatoire, in: Le droit de la santé: aspects nouveaux,
Guillod/Wessner [Hrsg.], 2010, S. 83 ff., 117 ff.).
Die Frage, ob ein für die Kostenübernahme vorausgesetzter hoher therapeutischer
Nutzen vorliegt, ist sowohl in allgemeiner Weise als auch bezogen auf den
konkreten Einzelfall zu beurteilen (BGE 136 V 395 E. 6.4 und 6.5 S. 401 f.).

5.

5.1 Die Vorinstanz erwog, da das Medikament Soliris bei der Beschwerdeführerin
entsprechend der Zulassung zur Behandlung von
BGE 139 V 375 S. 379
PNH eingesetzt werde, liege kein Off-Label-Use vor. Demnach falle eine Ausnahme
vom Grundsatz der Listenpflicht unter diesem Aspekt ausser Betracht. Weiter
prüfte sie, ob das Medikament als Orphan Drug zu übernehmen sei. Sie verneinte
die Frage mit der Begründung, die Anerkennung als Orphan Drug sei ein
Instrument zur Förderung der Entwicklung eines Arzneimittels gegen seltene
Krankheiten, für die sich ein Zulassungsverfahren ansonsten nicht lohne. Aus
diesem Grunde fielen ausschliesslich Arzneimittel in Betracht, die über keine
Zulassung verfügten. Auf diesen Umstand beziehe sich die von der Rechtsprechung
zugelassene Ausnahme von der Listenpflicht. Eine andere Frage sei, ob das
Arzneimittel zu Lasten der Grundversicherung abgerechnet werden könne. Dafür
sei unter anderem die Frage massgebend, ob eine Behandlung mit dem betreffenden
Arzneimittel dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Art. 32 Abs. 1 KVG standhalte.
Sei neben den übrigen Voraussetzungen auch die Wirtschaftlichkeit gegeben,
erfolge die Aufnahme in die SL. Praxisgemäss seien Ausnahmen von der
Listenpflicht nur restriktiv zulässig, da zu verhindern sei, dass durch eine
extensive Praxis der ordentliche Weg der Listenaufnahme durch
Einzelfallbeurteilungen ersetzt und dadurch die mit der SL verbundene
Wirtschaftlichkeitskontrolle umgangen werde. Dies bedeute vorliegend, dass seit
der Marktzulassung von Soliris und bis zur Klärung der Frage, ob das Präparat
in die SL aufzunehmen sei, die Grundversicherung nicht mehr für die Behandlung
aufzukommen habe. Mit der Marktzulassung von Soliris sei das mit der
Orphan-Drug-Regelung angestrebte Ziel erreicht; denn gefördert werden solle die
Entwicklung und Marktzulassung von Medikamenten gegen seltene Krankheiten,
nicht die Aufnahme solcher Arzneien in die SL. In der Phase seit der
Marktzulassung bis zur Aufnahme in die SL bestehe keine Rechtfertigung mehr für
eine Privilegierung gegenüber anderen Patienten, deren Medikament auch noch
nicht in die SL aufgenommen worden sei. Im Übrigen könne die Versicherte die
Behandlung mit Soliris zu 90 % über ihre Zusatzversicherung abrechnen.

5.2 Die Beschwerdeführerin weist darauf hin, dass nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung für die Ausnahmen von der Listenpflicht im Einzelfall sowohl
beim Off-Label-Use als auch in denjenigen Fällen, in denen das Medikament als
solches noch nicht in die SL aufgenommen worden sei, auf die fehlende Nennung
in der SL, verbunden mit den übrigen Voraussetzungen abgestellt werde. Die
Frage der Zulassung durch Swissmedic sei nie zum Thema
BGE 139 V 375 S. 380
gemacht worden. Ihrer Auffassung nach würde eine andere Argumentation zu
absurden Zuständen führen: Vor der Zulassung von Soliris würde eine
Kostenübernahme aus der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) als
Orphan Drug gewährt, die nach der Zulassung und während des daran
anschliessenden Prüfungsverfahrens beim BAG wieder wegfallen würde, um dann im
Falle der Aufnahme des Arzneimittels in die SL wieder aufzuleben.

5.3 Die Beschwerdegegnerin gibt zu bedenken, dass Ausnahmen von der
Listenpflicht nur sehr restriktiv zulässig seien, da verhindert werden müsse,
dass durch eine extensive Auslegung der ordentliche Weg der Listenaufnahme und
der damit verbundenen Wirtschaftlichkeitskontrolle umgangen werde. Dies könne
nur bedeuten, dass der Grundversicherer die Therapie ab Zulassung durch die
Swissmedic bis zur SL-Aufnahme nicht zu vergüten habe.

5.4 Das BAG stellt sich auf den Standpunkt, im Zeitraum vor der
Swissmedic-Zulassung bis zur Aufnahme in die SL habe eine Vergütung über die
OKP nur erfolgen können, wenn die mit Wirkung auf den 1. März 2011 in Art. 71a
Abs. 1 KVV (SR 832.102) verankerten bundesgerichtlichen Kriterien erfüllt waren
(Behandlungskomplex; tödlicher oder schwerer und chronischer Verlauf; keine
Behandlungsalternative; hoher therapeutischer Nutzen). In casu sei Art. 71b KVV
massgebend, da Soliris in dieser Zeit nicht in der SL aufgeführt gewesen,
jedoch innerhalb der Fachinformation von Swissmedic angewendet worden sei. Bei
der Vergütung von nicht in die SL aufgenommenen Arzneimitteln erfolge immer
eine Einzelfallbeurteilung. Eine solche vorzunehmen sei nicht Aufgabe des BAG.
Vielmehr sei es die Aufgabe der Krankenversicherer, nach vorgängiger
Konsultation des Vertrauensarztes zu prüfen, ob die vorstehend dargelegten
Voraussetzungen zur Kostenübernahme durch die OKP erfüllt sind. Könne die
Wirksamkeit, mithin der grosse therapeutische Nutzen von Arzneimitteln, die
nicht in der SL aufgelistet seien, bejaht werden, seien auch die Kriterien der
Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Dabei sei vor allem in Bezug
auf die Wirtschaftlichkeit dem Verhältnismässigkeitsprinzip und dem Prinzip der
Rechtsgleichheit Rechnung zu tragen. Wenn ein Missverhältnis zwischen Aufwand
und Heilerfolg bestehe, könne eine Leistungsverweigerung durch den Versicherer
erfolgen. Seien jedoch die in Art. 71b KVV erwähnten Voraussetzungen erfüllt,
wäre die Krankenversicherung im vorliegenden Einzelfall leistungspflichtig.
BGE 139 V 375 S. 381

6.

6.1 Verwendungsfertige Arzneimittel dürfen (unter Vorbehalt hier nicht weiter
interessierender internationaler Abkommen über die Anerkennung von Zulassungen)
nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie vom schweizerischen Heilmittelinstitut
Swissmedic zugelassen sind (Art. 9 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 15. Dezember
2010 über Arzneimittel und Medizinprodukte [Heilmittelgesetz, HMG; SR 812.21]).
Die Zulassungspflicht dient als Instrument der präventiven Produktekontrolle
der Verwirklichung des Schutzes der öffentlichen Gesundheit und von Treu und
Glauben auf dem Arzneimittelmarkt (EICHENBERGER/JAISLI/RICHLI, Das Bundesgesetz
über Arzneimittel und Medizinprodukte, 2006, N. 3 zu Art. 9 HMG; vgl. auch UELI
KIESER, Die Zulassung von Arzneimitteln im Gesundheits- und
Sozialversicherungsrecht, AJP 2007 S. 1042 ff., 1043 f.). In diesem Sinne
sollen nach der Zweckumschreibung in Art. 1 Abs. 1 HMG nur qualitativ
hochstehende, sichere und wirksame Arzneimittel in Verkehr gebracht werden.

6.2 In die SL aufgenommen werden kann ein Arzneimittel, wenn es über eine
gültige Zulassung des Instituts verfügt (Art. 65 Abs. 1 KVV). In diesem Sinne
ist die Zulassung durch das Heilmittelinstitut die primär zu erfüllende
Voraussetzung für die Aufnahme in die SL (vgl. Art. 65 Abs. 1 KVV; Art. 30a
Abs. 1 lit. a der Verordnung vom 29. September 1995 über Leistungen in der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung [Krankenpflege-Leistungsverordnung,
KLV; SR 832.112.31]; BRAUNHOFER, a.a.O., S. 104). Das vorangehende, mit einem
positiven Entscheid abgeschlossene heilmittelrechtliche Zulassungsverfahren ist
für den Bereich der Krankenversicherung insofern bedeutsam, als es jedenfalls
für die Prüfung der Wirksamkeit und Zweckmässigkeit eines Arzneimittels den
Prüfungsrahmen absteckt (vgl. BGE 131 V 349 E. 3.1 S. 351 f.; KIESER, a.a.O.,
S. 1048). Die beiden Kriterien werden bei der Aufnahme in die SL gestützt auf
die Unterlagen beurteilt, welche für die Registrierung durch das
Heilmittelinstitut massgebend waren (Art. 32 und Art. 33 Abs. 2 KLV). Die
Aufnahme in die SL erfolgt mithin nach einer doppelstufigen Zulassungsprüfung:
Vorausgesetzt wird vorab die heilmittelrechtliche Zulassung. Hinzu kommt die
krankenversicherungsrechtliche Zulassung, wobei die Kriterien der Wirksamkeit
und Zweckmässigkeit erneut überprüft werden und als weiteres Kriterium die
Wirtschaftlichkeit herangezogen wird (KIESER, a.a.O., S. 1049).
BGE 139 V 375 S. 382

6.3 Dass nun aber eine Kostenübernahme auf den Zeitpunkt der
heilmittelrechtlichen Zulassung zu verweigern wäre, wie die Vorinstanz
dafürhält, lässt sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Vielmehr wurde in BGE
136 V 395, in welchem Fall es ebenso um ein - im vereinfachten Verfahren als
wichtiges Arzneimittel für seltene Krankheiten im Sinne von Art. 14 Abs. 1 lit.
f HMG - zugelassenes Arzneimittel ging, ausdrücklich festgehalten, dass die
arzneimittelrechtliche Zulassung für die Kassenpflichtigkeit nicht
ausschlaggebend ist (vgl. BGE 136 V 395 E. 4.2 S. 398 mit Hinweis auf PASCAL
LACHENMEIER, Die Anwendung "nicht zugelassener" Arzneimittel in der
Krebstherapie nach schweizerischem Recht ["off-label-use"], Jusletter vom 11.
Mai 2009, Rz. 56; vgl. die für zugelassene und nicht zugelassene nicht in die
SL aufgenommene Arzneimittel gleichermassen mögliche Kostenübernahme gemäss
Art. 71b Abs. 1 und 2 KVV [in Kraft ab 1. März 2011]).

7.

7.1 Die Versicherte hat im Einspracheverfahren dargelegt, dass die
Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten des Medikamentes Soliris aus der
Grundversicherung (vgl. E. 4.4 hiervor) bei ihr erfüllt sind, da die Krankheit
PNH bei ihr schwere und chronische gesundheitliche Probleme nach sich ziehen
kann, zudem wegen fehlender therapeutischer Alternativen keine andere wirksame
Behandlungsmethode als Soliris verfügbar ist, und dass ein hoher
therapeutischer Nutzen vorliegt.

7.2 Die Progrès hat aufgrund der von der Versicherten im Einspracheverfahren
eingereichten Unterlagen (unter anderem Informationsbroschüren Alexion; Auszug
aus der Zeitschrift Blood vom 1. Dezember 2007 Volume 110 Number 12 S. 4123 ff.
[Effect of the complement inhibitor eculizumab on thromboembolism in patients
with paroxysmal nocturnal hemoglobinuria]) die Voraussetzungen für eine
Kostenübernahme des Medikaments Soliris bejaht, dies vorab bis zum (wie gesehen
allerdings irrelevanten [vgl. E. 6.3]) Datum der heilmittelrechtlichen
Zulassung. Weiter hat sie die Kosten des Arzneimittels mit Wirkung ab 1. März
2011 (rückwirkend) gestützt auf Art. 71b KVV übernommen.

7.3 Kann die Kostenübernahme - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - nicht
mit der Begründung, das Medikament sei nun heilmittelrechtlich zugelassen,
verweigert werden (E. 6.3), ist die Progrès über den 4. Januar 2010 hinaus
verpflichtet, die streitigen Kosten zu übernehmen, weil sämtliche von ihr
bejahten Voraussetzungen
BGE 139 V 375 S. 383
dafür unverändert erfüllt sind. Der Vollständigkeit halber ist zu ergänzen: Der
vorausgesetzte hohe therapeutische Nutzen (BGE 136 V 395 E. 6.4 und 6.5 S. 401
f.) ist in Bezug auf das den Wirkstoff "Eculizumabum" enthaltende Medikament
Soliris nicht nur im konkreten Fall, sondern aufgrund der im von der
Beschwerdeführerin eingereichten Zeitschriftenauszug beschriebenen Studie (vgl.
E. 7.2 hievor) auch in allgemeiner Weise zu bejahen. Die Voraussetzung eines
angemessenen Kosten-Nutzen-Verhältnisses schliesslich ist hier im Einzelfall zu
prüfen und nicht mit der generellen Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäss Art. 34
ff. KLV im Rahmen der Aufnahme in die SL gleichzusetzen (vgl. BGE 136 V 395 E.
7.1 S. 406 f.). Soweit die Beschwerdegegnerin die Unwirtschaftlichkeit dennoch
daraus ableitet, dass das Medikament Soliris vor der Aufnahme in die SL am 1.
Februar 2012 zu einem um 30 % höheren Preis verrechnet wurde, kann ihr nicht
gefolgt werden. Denn allgemeinen übergangsrechtlichen Regeln zufolge (vgl. BGE
122 V 405 E. 3b/aa S. 408 f.) kann der Aufnahme in die SL keine rückwirkende
Bedeutung zukommen. Andere Anhaltspunkte, aus welchen auf Unwirtschaftlichkeit
geschlossen werden könnte, werden nicht vorgebracht und ergeben sich auch nicht
aus den Akten. Bei dieser Sachlage erübrigen sich Weiterungen. Wie die
Preisgestaltung nach Inkrafttreten von Art. 71b KVV zu beurteilen wäre, ist
vorliegend nicht zu entscheiden.

7.4 Zusammenfassend ergibt sich, dass in der streitigen Zeit sämtliche
Voraussetzungen für eine Kostenübernahme zu Lasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung erfüllt sind. Demnach hat die Progrès, wie von der
Versicherten beantragt, die Kosten der Behandlung mit Soliris auch in der Zeit
vom 4. Januar 2010 bis zum 28. Februar 2011 zu übernehmen.