Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 339



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Urteilskopf

139 V 339

44. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. B. gegen
IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVST (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
8C_69/2013 vom 5. Juni 2013

Regeste

Art. 72^bis IVV; Art. 93 BGG; Anfechtbarkeit einer Zwischenverfügung über die
Anwendung des Zuweisungssystems "SuisseMED@P".
Eine Zwischenverfügung, in welcher keine Gutachterstelle benannt wird, sondern
lediglich die Bestimmung einer solchen in Anwendung von Art. 72^bis IVV durch
das Zuweisungssystem "SuisseMED@P" angekündigt wird, ist weder im
erstinstanzlichen Verfahren noch vor Bundesgericht anfechtbar (E. 4.5). Daran
vermag auch das Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung
(KSVI) nichts zu ändern, könnte doch eine Zweiteilung des Verfahrens lediglich
mittels einer Gesetzesänderung eingeführt werden (E. 4.6).

Sachverhalt ab Seite 340

BGE 139 V 339 S. 340

A. Der 1953 geborene, in Kroatien wohnhafte Schweizer Bürger B. meldete sich am
23. November 2004 über die Schweizer Botschaft in Kroatien bei der IV-Stelle
für Versicherte mit Wohnsitz im Ausland (IVST) zum Leistungsbezug an und
beantragte unter anderem eine Rente. Mit Verfügungen vom 31. Juli 2007 und vom
6. Januar 2010 verneinte die IVST einen Leistungsanspruch des Versicherten; die
beiden Verfügungen wurden auf Beschwerde des Versicherten hin vom
Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid vom 10. Dezember 2007 und 22. Februar
2012 aufgehoben und die Sache jeweils zu weiteren Abklärungen an die IVST
zurückgewiesen. Mit Zwischenverfügung vom 25. September 2012 ordnete die IVST
eine polydisziplinäre Begutachtung des Versicherten an; die Gutachterstelle
werde zu einem späteren Zeitpunkt in Anwendung des Zuweisungssystems
"SuisseMED@P" festgelegt.

B. Auf die von B. hiegegen erhobene Beschwerde trat das
Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid vom 22. November 2012 nicht ein.

C. Mit Beschwerde beantragt B., die Vorinstanz sei unter Aufhebung ihres
Entscheides vom 22. November 2012 zu verpflichten,
BGE 139 V 339 S. 341
seine Beschwerde vom 10. Oktober 2012 materiell zu beurteilen. Gleichzeitig
beantragt er, der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Während die IVST auf eine Vernehmlassung verzichtet, beantragt das Bundesamt
für Sozialversicherungen (BSV) die Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.1 Gemäss Art. 90 BGG ist die Beschwerde zulässig gegen Entscheide, die das
Verfahren abschliessen. Ebenfalls zulässig ist nach Art. 91 Abs. 1 BGG die
Beschwerde gegen selbständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die
Zuständigkeit und über Ausstandsbegehren. Gegen andere selbständig eröffnete
Vor- und Zwischenentscheide ist von hier nicht interessierenden Ausnahmen in
Anwendung von Art. 93 Abs. 1 BGG die Beschwerde zulässig, wenn sie einen nicht
wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die
Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit
einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges
Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).

3.2 Damit ein Entscheid der Vorinstanz als Endentscheid im Sinne von Art. 90
BGG qualifiziert werden kann, muss er das Verfahren vor der ersten Instanz
abschliessen (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der
Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202 Ziff. 4.1.4.1 S. 4332; BERNARD CORBOZ, in:
Commentaire de la LTF, 2009, N. 9 zu Art. 90 BGG). Befindet das kantonale
Gericht oder das Bundesverwaltungsgericht über einen Zwischenentscheid einer
unteren Instanz, so stellt der Rechtsmittelentscheid regelmässig ebenfalls
einen Zwischenentscheid dar: Mit einem solchen Entscheid wird nicht über ein
Rechtsverhältnis endgültig entschieden, sondern nur über einen Schritt auf dem
Weg zum Endentscheid. Anders ist lediglich dann zu entscheiden, wenn durch den
Entscheid der letzten kantonalen Instanz ein Zwischenentscheid der ersten
Instanz umgestossen und das Verfahren vor erster Instanz damit abgeschlossen
wird (Urteil des Bundesgerichts 8C_699/2009 vom 22. April 2010 E. 1, nicht
publ. in: BGE 136 V 156, aber in: SVR 2011 IV Nr. 16 S. 41).

3.3 Mit dem Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. November 2012 wurde
das Verfahren vor der IVST um Zusprechung
BGE 139 V 339 S. 342
oder Verweigerung von Leistungen der Invalidenversicherung nicht abgeschlossen;
der vorinstanzliche Entscheid ist mithin als Zwischenentscheid zu
qualifizieren.

4.

4.1 Da eine Gutheissung der Beschwerde nicht sofort zu einem Endentscheid in
der Sache (mithin über den Rentenanspruch des Versicherten) führen würde (vgl.
Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG), wäre auf die Beschwerde nur einzutreten, wenn
dieser Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken
könnte (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG).

4.2 Der Beschwerdeführer verweist in seiner Beschwerde auf BGE 137 V 210. Damit
macht er sinngemäss geltend, durch die Zwischenverfügung vom 25. September 2012
einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil zu erleiden. Für die Beurteilung, ob
ein solcher Nachteil gegeben ist, muss im Kontext des IV-rechtlichen
Abklärungsverfahrens mit seinen spezifischen Gegebenheiten (dazu eingehend BGE
137 V 210) berücksichtigt werden, dass ein Sachverständigengutachten im
Rechtsmittelverfahren mit Blick auf die fachfremde Materie faktisch nur
beschränkt überprüfbar ist: Der Rechtsanwender sieht sich mangels ausreichender
Fachkenntnisse kaum in der Lage, in formal korrekt abgefassten Gutachten
objektiv- fachliche Mängel zu erkennen. Zugleich steht die faktisch
vorentscheidende Bedeutung der medizinischen Gutachten für den
Leistungsentscheid in einem Spannungsverhältnis zur grossen Streubreite der
Möglichkeiten, einen Fall medizinisch zu beurteilen, und zur entsprechend
geringen Vorbestimmtheit der Ergebnisse (BGE 137 V 210 E. 2.5 S. 241 mit
Hinweisen).

4.3 Diesen Umständen ist mit verfahrensrechtlichen Garantien zu begegnen (BGE
137 V 210 E. 2.5 S. 241 und E. 3.4.2.3 in fine S. 253). Die Mitwirkungsrechte
müssen im Beschwerdeverfahren durchsetzbar sein. Ist dies durch Anfechtung des
Endentscheids nicht mehr möglich, kann ein nicht wieder gutzumachender Nachteil
entstehen, der den Rechtsweg an eine Beschwerdeinstanz eröffnet. Da
systemimmanent kein Anspruch auf Einholung eines Gerichtsgutachtens besteht
(vgl. BGE 136 V 376), ist das Administrativgutachten häufig zugleich die
wichtigste medizinische Entscheidungsgrundlage im Beschwerdeverfahren. In
solchen Fällen kommen die bei der Beweiseinholung durch ein Gericht
vorgesehenen Garantien zugunsten der privaten Partei im gesamten Verfahren
nicht zum Tragen. Um dieses Manko wirksam auszugleichen, müssen die
BGE 139 V 339 S. 343
gewährleisteten Mitwirkungsrechte durchsetzbar sein, bevor präjudizierende
Effekte eintreten (BGE 137 V 210 E. 3.4.2.4 S. 254). Mit Blick auf das
naturgemäss begrenzte Überprüfungsvermögen der rechtsanwendenden Behörden
genügt es daher nicht, die Mitwirkungsrechte erst nachträglich, bei der
Beweiswürdigung im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren, einzuräumen. Für die
Annahme eines drohenden unumkehrbaren Nachteils spricht schliesslich auch, dass
die mit medizinischen Untersuchungen einhergehenden Belastungen zuweilen einen
erheblichen Eingriff in die physische oder psychische Integrität bedeuten (BGE
137 V 210 E. 3.4.2.7 S. 257).

4.4 Aus diesen Gründen hat das Bundesgericht die Anfechtbarkeitsvoraussetzung
des nicht wieder gutzumachenden Nachteils für das erstinstanzliche
Beschwerdeverfahren in IV-Angelegenheiten bejaht, zumal die nicht sachgerechte
Begutachtung in der Regel einen rechtlichen und nicht nur tatsächlichen
Nachteil bewirkt (BGE 137 V 210 E. 3.4.2.7 S. 257 mit Hinweisen). Hebt das
kantonale Gericht oder das Bundesverwaltungsgericht die Verfügung auf, weist es
die Sache an die IV-Stelle zurück, damit diese den Begutachtungsauftrag
wiederum nach dem Zufallsprinzip, aber unter Berücksichtigung der im
Gerichtsentscheid festgelegten zusätzlichen Rahmenbedingungen, an eine MEDAS
vergebe (vgl. BGE 138 V 271 E. 1.2.3 S. 276 f.).

4.5 In BGE 138 V 271 E. 3 ff. S. 278 ff. hat das Bundesgericht zudem
präzisiert, dass eine solche Gutachtensanordnung in der Regel lediglich im
erstinstanzlichen Verfahren anfechtbar ist. Aus BGE 137 V 210 kann somit nicht
gefolgert werden, es sei auch der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne
von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu bejahen. Somit ist auf die Beschwerde gegen
den vorinstanzlichen Entscheid auch nach dieser Norm nicht einzutreten. Dies
gilt umso mehr, als in der Zwischenverfügung vom 25. September 2012 keine
Gutachterstelle benannt wird, sondern lediglich die Bestimmung einer solchen in
Anwendung von Art. 72^bis IVV (SR 831. 201) durch das Zuweisungssystem
"SuisseMED@P" angekündigt wird. Selbst für das erstinstanzliche Verfahren ist
somit nicht ersichtlich, worin der Nachteil des Versicherten bestehen sollte,
wenn er die Gutachtensanordnung vor Bundesverwaltungsgericht nicht anfechten
kann, bevor in Anwendung des Zuweisungssystems "Suisse MED@P" auch die
Gutachterstelle feststeht.

4.6 Zu einer abweichenden Beurteilung gibt auch die Vernehmlassung des BSV
keinen Anlass. In dieser wird unter Hinweis auf die Rz. 2074 ff. des
Kreisschreibens über das Verfahren in der
BGE 139 V 339 S. 344
Invalidenversicherung (KSVI, www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:
34/lang=deu) ausgeführt, im Interesse einer möglichst grossen
Planungssicherheit für die Gutachterstellen sei eine Zweiteilung des Verfahrens
zweckmässig. Zunächst solle geklärt werden, ob eine polydisziplinäre
Begutachtung in der Schweiz notwendig ist, welche Fachdisziplinen zu
berücksichtigen und welche Fragen zu stellen sind. Erst wenn diese Punkte -
allenfalls gerichtlich - geklärt seien, solle über die Plattform "SuisseMED@P"
eine Gutachterstelle zugelost werden. Damit könne die Zahl der
Begutachtungstermine, die nachträglich annulliert werden müssen, gering
gehalten werden.
Eine mangelnde Planungssicherheit der Gutachterstellen und die
organisatorischen Schwierigkeiten, welche allenfalls durch die Annullierung von
Begutachtungsterminen verursacht werden, stellen keinen nicht wieder
gutzumachenden Nachteil für die versicherte Person dar. Da zudem
Zwischenverfügungen, mit welchen ein Gutachten angeordnet wird, in aller Regel
nicht beim Bundesgericht anfechtbar sind (vgl. BGE 138 V 271 E. 3 ff. S. 278
ff.), kann es auch keine rechtskräftige Erledigung gewisser umstrittener Punkte
vor dem Endentscheid geben: Aufgrund von Art. 93 Abs. 3 BGG wird eine
versicherte Person bei der Anfechtung des Endentscheids noch geltend machen
können, die Anordnung sei nicht rechtmässig gewesen. Daran würde im Übrigen
auch eine Änderung der Rechtsprechung von BGE 138 V 271 nichts ändern, ist doch
nach dem System des BGG die Anfechtung von Zwischenentscheiden, welche weder
die Zuständigkeit noch den Ausstand betreffen, stets freiwillig. Die vom BSV
angestrebte Zweiteilung des Verfahrens könnte daher lediglich mittels einer
Gesetzesänderung eingeführt werden.