Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 331



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Urteilskopf

139 V 331

42. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. D. gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) (Beschwerde in
öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_17/2013 vom 31. Mai 2013

Regeste

Art. 20 Abs. 2 und 3 UVG; Art. 32 Abs. 2 UVV; Komplementärrente.
Keine analoge Anwendung von Art. 32 Abs. 2 UVV auf den Fall, in welchem der
eine Invalidenrente begründende Unfall (wenn auch nur kurz) vor dem die
Hinterlassenenrente der AHV auslösenden Ereignis stattgefunden hat (Bestätigung
der Rechtsprechung; E. 4).

Sachverhalt ab Seite 331

BGE 139 V 331 S. 331

A. D., geboren 1963, war ab 21. November 2005 bei der T. AG angestellt und in
dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
gegen die Folgen von Unfällen versichert. Der von ihr getrennt lebende Ehemann
schoss sie am 31. Oktober 2008 an und verletzte sie schwer (Lungendurchschuss
Oberlappen rechts, knöcherne Läsion des Processus transversus rechts BWK 5/6).
Anschliessend richtete er die Waffe gegen sich selbst und erlag seinen
Verletzungen.

Erwägungen

Die Ausgleichskasse Luzern richtete D. ab 1. November 2008 eine Witwenrente in
der Höhe von Fr. 1'016.- (ab 1. Januar 2009 von Fr. 1'048.-) und für ihren
minderjährigen Sohn (geboren 1994) eine Vaterwaisenrente in der Höhe von Fr.
508.- (ab 1. Januar 2009 von Fr. 524.-) aus, insgesamt Fr. 1'524.- (ab 1.
Januar 2009 Fr. 1'572.-; Verfügung vom 11. Februar 2009). Am 8. Juli 2011
gewährte die SUVA ihr ab 1. August 2011 eine Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 100 % in der Höhe von Fr. 4'136.95 sowie eine
Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 50 %. Mit
Verfügungen vom 27. Oktober und 17. November 2011 sprach ihr die IV-Stelle
Luzern ab 1. Januar 2010 eine ganze Invalidenrente von Fr. 1'606.- (ab 1.
Januar 2011 von Fr. 1'634.-) und eine
BGE 139 V 331 S. 332
Kinderrente von Fr. 496.- (ab 1. Januar 2011 von Fr. 505.-) zu, insgesamt Fr.
2'102.- (ab 1. Januar 2011 Fr. 2'139.-). Die SUVA verfügte am 3. November 2011
eine Komplementärrente von Fr. 2'515.05 und verrechnete den vom 1. August bis
30. November 2011 zu viel ausbezahlten Betrag von Fr. 6'487.60 mit den
Leistungen der Ausgleichskasse. Dies bestätigte die SUVA mit
Einspracheentscheid vom 3. Januar 2012.

B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wies die dagegen erhobene
Beschwerde, mit welcher D. eine Komplementärrente von Fr. 4'058.05 beantragen
liess, mit Entscheid vom 3. Dezember 2012 ab.

C. D. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem
Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben, ihr sei eine
Komplementärrente von Fr. 4'058.05 zu gewähren und es seien die Verrechnungen
ab 1. Januar 2010 auf der Basis der beantragten Komplementärrente vorzunehmen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:

2. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Berechnung der Komplementärrente
durch SUVA und Vorinstanz zutreffend ist resp. ob diese Art. 32 Abs. 2 UVV (SR
832.202) zu Recht nicht - auch nicht in analoger Weise - angewandt haben.

3. Einer versicherten Person, welche eine Rente der Invalidenversicherung (IV)
oder der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) bezieht, wird die
Invalidenrente der Unfallversicherung (UV) als Komplementärrente ausgerichtet;
diese entspricht in Abweichung von Art. 69 ATSG (SR 830.1) der Differenz
zwischen 90 Prozent des versicherten Verdienstes und der Rente der IV resp. der
AHV (Art. 20 Abs. 2 UVG). Gemäss Art. 20 Abs. 3 UVG erlässt der Bundesrat die
näheren Vorschriften dazu. Dabei kommt ihm ein weiter Ermessensspielraum zu (
BGE 115 V 275 E. 3b/bb S. 282; SVR 2009 UV Nr. 55 S. 194, 8C_607/2008 E. 2.2).
Nach Art. 32 Abs. 2 UVV wird nur die Differenz zwischen der vor dem Unfall
gewährten Rente und der neuen Leistung in die Berechnung miteinbezogen, wenn
infolge eines Unfalls eine Rente der IV erhöht oder eine Hinterlassenenrente
der AHV durch eine Rente der IV abgelöst wird. Diese Norm ist in Fällen, in
welchen der Unfall vor dem die Hinterlassenenrente der AHV auslösenden Ereignis
stattgefunden hat, nicht
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analog anwendbar, da keine vom Gericht auszufüllende Lücke besteht (SVR 2009 UV
Nr. 55 S. 194, 8C_607/2008 E. 2).

4.

4.1 Die Versicherte macht geltend, eine korrekt vorgenommene Auslegung der Norm
spreche für die direkte Anwendung von Art. 32 Abs. 2 UVV. Die Vorinstanz
verletze somit Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG).
Entgegen der Ansicht der Versicherten ist die Auslegung von Art. 32 Abs. 2 UVV
durch die Vorinstanz nicht zu beanstanden. Namentlich schliesst der Wortlaut
die in der Rechtsprechung vertretene Auffassung des Art. 32 Abs. 2 UVV nicht
aus, sondern bestätigt sie (SVR 2009 UV Nr. 55 S. 194, 8C_607/2008 E. 2.3 in
fine). So liegt im hier zu beurteilenden Fall der Unfallzeitpunkt, welcher zur
Invalidität führte, vor dem Ableben des Ehemannes, so dass der Sachverhalt
nicht unter den Tatbestand von Art. 32 Abs. 2 UVV fällt. Daran ändert der
Umstand nichts, dass der Beginn der Hinterlassenenrente der AHV (ab 1. November
2008) vor jenem der Invalidenrente der IV (ab 1. Januar 2010) liegt. Art. 32
Abs. 2 UVV nennt als Kriterium denn auch explizit den Unfall und nicht den
Zeitpunkt des Rentenbeginns. Unzutreffend ist die Ansicht der Versicherten,
wonach die Vorinstanz die Verwitwung ebenfalls zu den Unfallfolgen zähle;
vielmehr hält sie diese ausdrücklich als unfallfremden Faktor fest, so dass auf
die entsprechenden Ausführungen über die teleologische Auslegung nicht weiter
einzugehen ist. Ebenfalls nicht stichhaltig sind die Ausführungen zur
historischen Auslegung, da gemäss Rechtsprechung der Gesetzgeber den
Unfallzeitpunkt als massgebendes Kriterium für die Anwendung des Art. 32 Abs. 2
UVV betrachtet (SVR 2009 UV Nr. 55 S. 194, 8C_607/2008 E. 2.3 in fine; vgl.
auch RKUV 1997 S. 50), was - wie oben erwähnt - auch seine Stütze im Wortlaut
findet; die Einwände der Versicherten vermögen daran nichts zu ändern.

4.2 Weiter beruft sie sich darauf, dass der Unfall nur teilkausal für die
Zusprechung der IV-Rente sei; dies ergebe sich auch aus der Stellungnahme des
regionalen ärztlichen Dienstes der IV (RAD) vom 7. April 2011, wonach eine
vorbestehende psychische Störung massgebend sei. Die Schlussfolgerung der
Vorinstanz, die IV-Rente sei alleine aus unfallbedingten Gründen zugesprochen
worden, sei somit eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung im
Sinne von Art. 97 Abs. 2 BGG.
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Die Argumentation der Versicherten ist widersprüchlich. Angesichts der
funktionell nur geringgradigen Einschränkungen (vgl. Berichte des Kreisarztes
vom 30. März 2011 sowie des Dr. med. K., Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie, SUVA, vom 9. März 2011) stünde ihr keine Invalidenrente der UV
im zugesprochenen Ausmass (Invaliditätsgrad von 100 %) zu, wenn die
invalidisierenden psychischen Einschränkungen nicht massgeblich auf das
Ereignis vom 31. Oktober 2008 zurückzuführen wären. Bei einem rechtlich
relevanten Vorbestehen dieser Beschwerden wäre jedoch eine allfällige Kürzung
nach Art. 36 Abs. 2 UVG zu prüfen. In diesem Zusammenhang ist weiter zu
beachten, dass die IV-Stelle ihr erst ab 1. Januar 2010 eine Invalidenrente
zusprach, was auch nicht für ein rechtlich relevantes Vorbestehen der
psychischen Einschränkungen spricht. Somit kann die Versicherte aus der
Stellungnahme des RAD vom 7. April 2011 nichts zu ihren Gunsten ableiten.

4.3 Zudem rügt die Versicherte, die verneinte analoge Anwendung von Art. 32
Abs. 2 UVV stelle eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots von Art. 8 BV
sowie eine Verletzung des Willkürverbots von Art. 9 BV dar.
Sofern ein vernünftiger Grund für eine Ungleichbehandlung gegeben ist, liegt
keine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots vor; dabei kommt dem Gesetzgeber
ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BGE 136 I E. 4.1 S. 5; 135 V 361 E. 5.4.1
S. 369; 134 I 23 E. 9.1 S. 42 mit Hinweisen). Der Anknüpfungspunkt des
Unfalldatums stellt einen sachlichen Grund in diesem Sinne dar, welcher im
Gegensatz zum Beginn der Invalidenrenten nicht beeinflussbar ist resp. nicht
von Zufälligkeiten abhängt. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, inwiefern
dieser sachliche Grund unvernünftig sein soll. Somit ist eine unzulässige
Ungleichbehandlung von Sachverhalten, bei welchen die Verwitwung vor dem Unfall
liegt, mit jenen, in welchen diese erst nach dem Unfallereignis eintrat, zu
verneinen. Inwiefern eine Verletzung des Willkürverbots gegeben sein soll,
begründet die Versicherte nicht, so dass gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG nicht
weiter darauf einzugehen ist.

4.4 Nachdem die Nichtanwendung des Art. 32 Abs. 2 UVV nicht zu beanstanden ist
und im Übrigen weder Einwände gegen die betragsmässige Festsetzung der
Komplementärrente erhoben werden noch Anhaltspunkte ersichtlich sind, wonach
diese unzutreffend wäre, hat es bei der von der SUVA verfügten und von der
Vorinstanz bestätigten Komplementärrente von Fr. 2'515.05 sein Bewenden.