Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 244



Zurück zur Einstiegsseite Drucken

Urteilskopf

139 V 244

33. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. avanex
Versicherungen AG gegen R. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_50/2013 vom 24. April 2013

Regeste

Art. 24 Abs. 1 ATSG; Art. 42 Abs. 1 KVG; Beginn der Frist für die Verwirkung
des Anspruchs auf Rückerstattung im System des Tiers garant.
Die auf den Rückerstattungsanspruch der versicherten Person gegenüber dem
Krankenversicherer im System des Tiers garant (Art. 42 Abs. 1 KVG) anwendbare
fünfjährige Verwirkungsfrist gemäss Art. 24 Abs. 1 ATSG (E. 3.1 und 3.2)
beginnt im Zeitpunkt des Eingangs der Rechnung des Leistungserbringers bei der
versicherten Person zu laufen (E. 3.3, insbesondere E. 3.3.3).

Sachverhalt ab Seite 244

BGE 139 V 244 S. 244

A. R. liess sich mit Wirkung ab 1. Januar 2007 bei der avanex Versicherungen AG
(nachfolgend: avanex) obligatorisch für Krankenpflege versichern. Im Jahr 2007
stand sie bei Dr. med. G.,
BGE 139 V 244 S. 245
Allgemeine Innere Medizin FMH, in ambulanter Behandlung. Am 2. April 2007
stellte ihr Dr. med. G. für die Zeit vom 11. Januar bis 15. März 2007 den
Betrag von Fr. 880.60 in Rechnung.
Als R. diesen Betrag mit Schreiben vom 2. April 2012 zurückforderte, verneinte
die avanex eine Leistungspflicht mit der Begründung, die Forderung sei verjährt
(Schreiben vom 19. April 2012). Mit Verfügung vom 21. Mai 2012 stellte die
avanex fest, dass die Rechnung des Dr. med. G. vom 2. April 2007, welche am 3.
April 2012 bei ihr eingetroffen sei, zu diesem Zeitpunkt bereits verwirkt
gewesen und eine Beteiligung am Betrag von Fr. 880.60 deshalb ausgeschlossen
sei. Eine dagegen gerichtete Einsprache der Versicherten lehnte sie ab
(Entscheid vom 20. August 2012).

B. Beschwerdeweise liess R. sinngemäss beantragen, es sei der
Einspracheentscheid aufzuheben und die avanex anzuweisen, die gesetzlichen
Leistungen auszurichten. Mit Entscheid vom 4. Dezember 2012 hiess das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde gut, hob den
Einspracheentscheid auf und stellte fest, dass die Kostenerstattungsforderung
gestützt auf den Rückforderungsbeleg vom 2. April 2007 nicht verwirkt sei.

C. Die avanex erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit
dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei vollumfänglich aufzuheben. Es
sei festzustellen, dass der Kostenerstattungsanspruch gemäss Rechnung vom 2.
April 2007 verwirkt sei.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Versicherte hat den sich auf Art. 42 KVG stützenden Anspruch auf
Rückerstattung (im Sinne einer Erstattung oder Vergütung; System des "Tiers
garant") für die ärztliche Behandlung durch Dr. med. G. vom 11. Januar bis 15.
März 2007 (Rechnung vom 2. April 2007) gegenüber der Beschwerdeführerin am 2.
April 2012 (eingegangen am 3. April 2012) geltend gemacht. Streitig und zu
prüfen ist, ob der Anspruch in diesem Zeitpunkt bereits verjährt war.

2.2 Die Vorinstanz erwog, mangels spezialgesetzlicher Regelung zu Verjährung
und Verwirkung im KVG gelte Art. 24 Abs. 1 ATSG (SR 830.1), wonach die
Verwirkungsfrist nicht mit der Entstehung des Anspruchs, sondern erst mit
Eintritt der Fälligkeit zu laufen beginne. Der Leistungserbringer habe am 2.
April 2007 Rechnung
BGE 139 V 244 S. 246
gestellt. Diese sei der Versicherten frühestens am 3. April 2007 zugegangen.
Bei umgehender Weiterleitung wäre sie frühestens am 4. April 2007 an die Kasse
gelangt. In analoger Anwendung von Ziffer 5.4 der Versicherungsbedingungen der
avanex, wonach für Direktzahlungen an die Leistungserbringer eine Zahlungsfrist
von 30 Tagen gelte, hätte die Rückerstattung nach 30 Tagen, somit bis 4. Mai
2007 vorgenommen werden müssen. Die Rückerstattungsforderung sei somit erst am
4. Mai 2007 fällig geworden und die Verwirkungsfrist von fünf Jahren daher erst
am 4. Mai 2012 abgelaufen. Mit der Einreichung des Rückforderungsbelegs am 2.
April 2012 habe die Versicherte diese Frist gewahrt.

2.3 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 24 Abs. 1 ATSG in
Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 KVG. Da das KVG keine Frist vorsehe, innert
welcher die Krankenversicherer Rückerstattungen vorzunehmen haben, sei ein
fixer Zeitpunkt zu bestimmen, welcher die Verwirkungsfrist auslöse. Der
Zeitpunkt der Rechnungsstellung sei zu variabel und biete keine
Rechtssicherheit. Vielmehr müsse die allgemeine sozialversicherungsrechtliche
Regel Platz greifen, wonach der Anspruch auf Leistungen mit Eintritt des
Versicherungsfalls entstehe. In der Krankenversicherung trete der
Versicherungsfall im Zeitpunkt der erstmaligen Inanspruchnahme medizinischer
Hilfe für ein bestimmtes Krankheitsgeschehen ein. Auch aufgrund der
vereinbarten Versicherungsbedingungen sei davon auszugehen, dass der Anspruch
auf Leistung zum Zeitpunkt der Behandlung entstehe. Demnach habe die
Verwirkungsfrist mit dem Ende des Monats, in dem die Behandlung erfolgt sei,
begonnen. Selbst wenn man zu Gunsten der Versicherten von einem
Behandlungskomplex ausgehe und auf das Datum des Behandlungsabschlusses - den
15. März 2007 - abstelle, sei der Rückerstattungsanspruch verwirkt.

3.

3.1 Gemäss Art. 24 Abs. 1 ATSG, welche Bestimmung auf den Bereich der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung anwendbar ist (Art. 1 KVG), erlischt
der Anspruch auf ausstehende Leistungen oder Beiträge fünf Jahre nach dem Ende
des Monats, für welchen die Leistung, und fünf Jahre nach dem Ende des
Kalenderjahres, für welches der Beitrag geschuldet war.
Mit dieser Norm ist der Tatbestand der Verwirkung (vgl. Urteil 8C_233/2010 vom
7. Januar 2011 E. 2.1.1 [zusammengefasst wiedergegeben in: SZS 2011 S. 298];
vgl. auch Urteil 8C_888/2012
BGE 139 V 244 S. 247
vom 20. Februar 2013 E. 3.3; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 13
zweiter Absatz zu Art. 24 ATSG; BBl 1991 II 257 zu Art. 31 E-ATSG)
bundesrechtlich geregelt. Dies hat zur Folge, dass die Versicherer nicht befugt
sind, die Frage der Verwirkung autonom zu regeln, und im System des "Tiers
garant" in ihren Reglementen oder Versicherungsbedingungen nur
Ordnungsvorschriften über die rechtzeitige Einreichung von Rechnungen
aufstellen dürfen (GEBHARD EUGSTER, Die obligatorische
Krankenpflegeversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007
[nachfolgend: SBVR], S. 617 Rz. 661; ANDRÉ PIERRE HOLZER, Verjährung und
Verwirkung der Leistungsansprüche im Sozialversicherungsrecht, 2005, S. 122).
Weder das ATSG noch das KVG (noch die dazugehörenden Verordnungen) beantworten
indessen die vorliegend entscheidende Frage, ab welchem Zeitpunkt die in Art.
24 Abs. 1 ATSG statuierte fünfjährige Verwirkungsfrist zu laufen beginnt bzw.
innerhalb welcher Frist Versicherte vom Krankenversicherer
Leistungsrückerstattungen im Sinne des Art. 42 Abs. 1 KVG fordern können.

3.2 Nach ihrem Wortlaut ist die Bestimmung des Art. 24 Abs. 1 ATSG ("erlischt
fünf Jahre nach dem Ende des Monats, für welchen die Leistung [...] geschuldet
war"; "s'éteint cinq ans après la fin du mois pour lequel la prestation était
due"; "si estingue cinque anni dopo la fine del mese per cui era dovuta la
prestazione") auf periodische Leistungen wie namentlich Renten und Taggelder,
die nach gesetzlicher Vorschrift monatlich ausbezahlt werden (Art. 19 Abs. 1
ATSG), zugeschnitten, nicht aber auf Leistungen für bestimmte Verrichtungen wie
die vorliegende Vergütung für die sich über mehrere Wochen erstreckende
Behandlung (so EUGSTER, SBVR, S. 617 Rz. 661). Nichtsdestotrotz fallen - wie
sich namentlich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung ergibt und im
Übrigen auch in der Lehre unbestritten ist - auch diese Leistungen in ihren
Anwendungsbereich. Mit der Norm des Art. 24 ATSG sollte die Frage des
Erlöschens des Anspruchs, für welche das KVG zuvor überhaupt keine explizite
Regelung kannte, sowohl für die Beiträge als auch für die Leistungen sämtlicher
Zweige der Sozialversicherung einheitlich geregelt werden, wobei eine
unveränderte Weiterführung des bisher geltenden Rechts beabsichtigt war (BBl
1999 4575; vgl. auch RKUV 2005 S. 83, K 99/04 E. 2.1.2; KIESER, a.a.O., N. 14
zu Art. 24 ATSG).
BGE 139 V 244 S. 248

3.3 Im hier zu beurteilenden System des "Tiers garant" fallen für den Beginn
der fünfjährigen Frist für den Rückforderungsanspruch der Versicherten
verschiedene Zeitpunkte in Betracht.

3.3.1 Es könnte auf den Eintritt des Versicherungsfalls (EUGSTER, SBVR, S. 617
f. Rz. 661 Abs. 2) abgestellt werden, welcher in der Krankenpflegeversicherung
im Zeitpunkt der erstmaligen Inanspruchnahme medizinischer Hilfe für ein
bestimmtes Krankheitsgeschehen eintritt (vgl. im selben Sinne HOLZER, a.a.O.,
S. 122: Behandlungszeitpunkt). Indessen kann sich der Versicherungsfall
anschliessend über einen längeren Zeitraum erstrecken, weil die
Behandlungsbedürftigkeit wochen-, monate- oder jahrelang dauern kann. Dies
würde dazu führen, dass die Verwirkungsfrist gestaffelt - entsprechend
(theoretischen) monatlichen Behandlungsabschnitten - zu laufen beginnen würde
(zum Ganzen: EUGSTER, SBVR, S. 617 f. Rz. 661 Abs. 2; vgl. auch BGE 133 V 9 E.
3.5 S. 12 [Verwirkung der einzelnen monatlichen Rentenbetreffnisse]). Indem die
Lösung künstliche monatliche Behandlungsabschnitte voraussetzt, zielt sie an
der Wirklichkeit vorbei und scheint deshalb nicht praktikabel.

3.3.2 Eine weitere Möglichkeit bestände darin, die Frist ab dem Zeitpunkt der
Anmeldung zum Leistungsbezug laufen zu lassen (KIESER, a.a.O., N. 20 zu Art. 24
ATSG; kritisch dazu EUGSTER, SBVR, S. 617 Rz. 661). Ist damit der
frühestmögliche Zeitpunkt der Anmeldung gemeint, hat sie den Nachteil, dass in
diesem Zeitpunkt die Höhe der geschuldeten Leistung noch gar nicht bekannt ist
und die Frist deshalb ablaufen könnte, bevor die versicherte Person überhaupt
weiss, welchen Rückerstattungsanspruch sie stellen kann. Dementsprechend könnte
die Verwirkung eintreten, bevor der Anspruch überhaupt entstanden wäre.

3.3.3 Die Schwierigkeiten dieser beiden Lösungsansätze bestehen nicht bei der
dritten und letzten Möglichkeit, welche sich nach den zivilrechtlichen Regeln
über das Entstehen des Honoraranspruches des Arztes richtet (EUGSTER, ATSG und
Krankenversicherung: Streifzug durch Art. 1-55 ATSG, SZS 2003 S. 213 ff., 224;
derselbe, SBVR, S. 617 Rz. 661 Abs. 2). In der Regel entsteht die
Honorarforderung des Arztes erst nach Abschluss der gesamten Tätigkeit, es sei
denn, etwas anderes - wie beispielsweise viertel- oder halbjährliche
Rechnungsstellung - sei üblich (GAUCH/AEPLI/STÖCKLI, Präjudizienbuch OR, 8.
Aufl. 2012, N. 8 zu Art. 402 OR; ROLF WEBER, in: Basler Kommentar,
Obligationenrecht, Bd. I, 5. Aufl. 2011, N. 40
BGE 139 V 244 S. 249
zu Art. 394 OR). Damit sich der Zeitpunkt genau fixieren lässt, rechtfertigt es
sich, den Eingang der Arztrechnung bei der versicherten Person als massgebend
zu betrachten. In Frage kämen zwar auch der Zeitpunkt der Fälligkeit oder der
Bezahlung der Rechnung. Da jedoch lediglich das Bestehen eines Honoraranspruchs
nach zivilrechtlichen Regeln für den Anspruch auf Erstattung des Honorars eines
frei praktizierenden Leistungserbringers durch den Versicherer nach Art. 42 KVG
vorausgesetzt ist (BGE 133 V 416 E. 2.1 S. 417 f.; BGE 125 V 430 E. 3a S. 432
und 435 E. 3a S. 435 f.; vgl. auch EUGSTER, SBVR, S. 733 Rz. 989) und nicht
etwa Fälligkeit oder Erfüllung (vgl. dazu insbesondere auch BGE 133 V 416 E.
2.1 in fine S. 218), liegt es nahe, auf den Eingang der Rechnung abzustellen.
Obwohl dieser dritten Betrachtungsweise der Nachteil anhaftet, dass sie sich
mit der Rechnungsstellung auf ein variables Moment abstützt (vgl. auch EUGSTER,
SBVR, S. 617 Rz. 661 Abs. 1), ist ihr der Vorzug zu geben, weil sie als einzige
praktikabel erscheint und Gewähr für Rechtssicherheit bietet.

3.4 Die Rechnung datiert vom Montag, 2. April 2007. Nach den verbindlichen
Feststellungen im angefochtenen Entscheid ging sie bei der Beschwerdegegnerin
frühestens am 3. April 2007 ein. Demnach begann die fünfjährige
Verwirkungsfrist in diesem Zeitpunkt zu laufen. Mit ihrem Begehren vom 2. April
2012 hat die Beschwerdegegnerin ihre Rückforderung gerade noch rechtzeitig
geltend gemacht. Im Ergebnis ist der kantonale Entscheid demnach nicht zu
beanstanden.