Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 106



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Urteilskopf

139 V 106

15. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle
Zug gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_454/2012 vom 18. März 2013

Regeste

Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG; Auslösung der Verwirkungsfrist.
Bei der Rückforderung zu Unrecht bezogener Invalidenrenten genügt es für die
Auslösung der einjährigen Verwirkungsfrist, wenn sich die Unrechtmässigkeit der
Leistungserbringung aus den bei der IV-Stelle vorhandenen Akten ergibt und sich
gleichzeitig die rückerstattungspflichtigen Personen und die entsprechenden
Rückerstattungsbeträge anhand der bei der zuständigen Ausgleichskasse geführten
Rentendaten unmittelbar eruieren lassen. Der mit dem blossen Datenaustausch
zwischen IV-Stelle und Ausgleichskasse verbundene (geringfügige) zeitliche
Aufwand führt grundsätzlich nicht zu einem Aufschub des Fristbeginns (E. 7.2).

Erwägungen ab Seite 107

BGE 139 V 106 S. 107
Aus den Erwägungen:

7.

7.2 Die IV-Stelle wendet weiter ein, auch die Abklärungen der zuständigen
Ausgleichskasse (hier die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen) würden eine
gewisse Zeit beanspruchen, müsse doch in Erfahrung gebracht werden, "wem
Leistungen ausbezahlt worden" seien "und in welchem Umfang".

7.2.1 Im Zusammenhang mit der Zusprechung von Invalidenrenten sind die Aufgaben
nach dem Gesetz zwischen IV-Stellen und Ausgleichskassen aufgeteilt: Die
IV-Stellen klären die versicherungsmässigen Voraussetzungen ab, bemessen die
Invalidität und verfügen über die Leistungen der Invalidenversicherung (Art. 57
Abs. 1 lit. c, f und g IVG). Die Ausgleichskassen wirken bei der Abklärung der
versicherungsmässigen Voraussetzungen mit, berechnen die Renten und zahlen
diese aus (Art. 60 Abs. 1 lit. a, b und c IVG). Ist für die
Leistungsfestsetzung (oder die Rückforderung) das Zusammenwirken mehrerer mit
der Durchführung der Versicherung betrauter Behörden notwendig, genügt es für
den Beginn des Fristenlaufs, dass die nach der Rechtsprechung erforderliche
Kenntnis wenigstens bei einer der zuständigen Verwaltungsstellen vorhanden ist
(BGE 139 V 6 E. 4.1 S. 8; BGE 119 V 431 E. 3a S. 433; BGE 112 V 180 E. 4c S.
182; ZAK 1989 S. 558, H 212/88 E. 4b in fine; Urteile 9C_534/2009 vom 4.
Februar 2010 E. 3.2.2 und 9C_1057/2008 vom 4. Mai 2009 E. 4.1.2).

7.2.2 Von eigentlichen "Abklärungen", wie sie die beschwerdeführende IV-Stelle
Zug geltend macht, kann im Rückerstattungsfall in aller Regel keine Rede sein:
Die rentenauszahlende Ausgleichskasse hat aus den bei ihr geführten Rentendaten
lediglich die unrechtmässig ausgerichteten Rentenbeträge abzurufen, die auf die
jeweiligen Auszahlungsadressaten entfallen. Mit Blick auf die hievor zitierte
Rechtsprechung muss deshalb bei der Rückforderung zu Unrecht bezogener
Invalidenrenten für die Auslösung der einjährigen Verwirkungsfrist genügen,
wenn sich die Unrechtmässigkeit der Leistungserbringung aus den bei der
IV-Stelle vorhandenen Akten ergibt (nicht publ. E. 4 in fine) und sich
gleichzeitig die rückerstattungspflichtigen Personen und die entsprechenden
Rückerstattungsbeträge anhand der bei der zuständigen Ausgleichskasse geführten
Rentendaten unmittelbar eruieren lassen. Der mit dem blossen Datenaustausch
zwischen IV-Stelle und Ausgleichskasse verbundene (geringfügige) zeitliche
Aufwand führt demnach nicht zu einem Aufschub
BGE 139 V 106 S. 108
des Fristbeginns. Diese Lösung drängt sich schon deshalb auf, weil die
IV-Stellen oftmals im gleichen Gebäude untergebracht sind wie die kantonalen
Ausgleichskassen. Es liegt auf der Hand, dass diesfalls der Austausch zwischen
den beiden involvierten Behörden rascher vonstatten geht, wenn sich die
IV-Stelle an die Ausgleichskasse ihres eigenen Kantons als rentenauszahlende
Kasse wenden kann, als wenn sie an die Ausgleichskasse eines andern Kantons
(wie hier) oder an eine Verbandsausgleichskasse gelangen muss. Derartige rein
zufallsbedingte Unterschiede bei der gemeinsamen Bearbeitung von
Rückerstattungsfällen sollten sich auf die Frage nach dem Zeitpunkt der
Fristauslösung nicht auswirken, was mit der dargelegten Ausserachtlassung von
reinem Koordinationsaufwand gewährleistet wird.
Eine andere Betrachtungsweise ist nach dem Gesagten nur in jenen Ausnahmefällen
einzunehmen, in denen die zuständige Ausgleichskasse tatsächlich ergänzende
Abklärungsmassnahmen ergreifen muss. Etwa weil aufgrund der gegebenen Aktenlage
nicht klar ist, ob es sich bei einem Auszahlungsadressaten um einen tatsächlich
Rückerstattungspflichtigen oder aber um eine blosse Inkassostelle handelt, von
welcher die zu Unrecht ausbezahlten Rentenbetreffnisse nicht zurückgefordert
werden können (BGE 118 V 214 E. 4 S. 221).