Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 V 1



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Urteilskopf

139 V 1

1. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. K. und O.
gegen Ausgleichskasse Luzern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_678/2012 / 9C_679/2012 vom 30. Januar 2013

Regeste

Art. 25 Abs. 1 ATSG; Art. 2 Abs. 1 lit. a ATSV; Rückerstattungspflicht der
Nachkommen.
Nachkommen, die die letztwillig verfügte Einsetzung eines Universalerben
unangefochten liessen, sind keine Erben. Sie haben daher die zuvor durch den
Erblasser zu Unrecht bezogenen Sozialversicherungsleistungen nicht
zurückzuerstatten (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 2

BGE 139 V 1 S. 2

A. Die Ausgleichskasse Luzern (nachfolgend: Ausgleichskasse) richtete dem am
(...) verstorbenen A. sel., Vater von K. und O., Ergänzungsleistungen zur AHV
aus. Das öffentliche Inventar über den Nachlass wies einen Aktivenüberschuss
von Fr. 1'681.50 aus. K. und O. akzeptierten die Einsetzung der Lebenspartnerin
von A. als Universalerbin, welche die Erbschaft antrat. Nachdem das Teilungsamt
Kenntnis von neuen Vermögenswerten erhalten hatte, erstellte es am (...) einen
Nachtrag zum Inventar vom (...), der neu einen Aktivenüberschuss von Fr.
257'911.50 auswies. Am 10. August 2006 forderte die Ausgleichskasse
verfügungsweise von K. und O. (unter solidarischer Haftung) zu viel bezahlte
Ergänzungsleistungen im Betrag von Fr. 20'795.- zurück. Das darauf eingeleitete
Einspracheverfahren blieb bis zum Entscheid über eine güter- resp.
erbrechtliche Klage betreffend den Nachlass von A. sel. sistiert. Mit
Einspracheentscheiden vom 6. Juli 2011 bestätigte die Ausgleichskasse die
Rückforderung.

B. Die von K. und O. dagegen erhobenen Beschwerden wies das Verwaltungsgericht
des Kantons Luzern mit Entscheiden vom 28. Juni 2012 ab. In der Begründung
führte es u.a. aus, beide hätten die Erbschaft nicht ausgeschlagen.

C. K. und O. lassen mit Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten
die Aufhebung der Entscheide vom 28. Juni 2012 und der Verfügungen vom 10.
August 2006 beantragen.
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Beschwerden. Das kantonale
Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine
Vernehmlassung.
Das Bundesgericht vereinigt die Verfahren und heisst die Beschwerden gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3. Die Rückforderungsverfügungen vom 10. August 2006 und die
Einspracheentscheide vom 6. Juli 2011 haben die sozialversicherungsrechtlichen
Rückerstattungsregeln als Rechtsgrundlage.
BGE 139 V 1 S. 3

3.1 Gemäss Art. 25 ATSG (SR 830.1), der auch auf Ergänzungsleistungen Anwendung
findet (Art. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 ELG [SR 831.30]), sind
unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem
Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte
vorliegt (Abs. 1). Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines
Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat,
spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der
einzelnen Leistung (Abs. 2 Satz 2). Dabei handelt es sich um Verwirkungsfristen
(BGE 138 V 74 E. 4.1 S. 77 mit Hinweisen).

3.2 Rückerstattungspflichtig sind der Bezüger oder die Bezügerin der
unrechtmässig gewährten Leistungen und seine oder ihre Erben (Art. 2 Abs. 1
lit. a ATSV [SR 830.11]).

4.

4.1 K. und O. sind als Nachkommen des A. sel. gesetzliche Erben (Art. 457 Abs.
1 ZGB). Dieser setzte in seinem Testament seine Lebenspartnerin als Alleinerbin
ein. Die Beschwerdeführer bestritten in der Folge deren Erbberechtigung nicht.
Ebenso steht fest, dass sie - anders als die getrennt lebende Ehefrau und zwei
weitere Nachkommen - von einer Herabsetzungsklage (Art. 522 ff. ZGB) absahen.
Mit anderen Worten akzeptierten die Beschwerdeführer, dass ihnen ihr Vater den
Pflichtteil (vgl. Art. 470 Abs. 1 ZGB) als Ganzes entzogen hatte.

4.2 Der Erblasser ist befugt, durch Verfügung von Todes wegen einem Erben den
Pflichtteil zu entziehen, wenn der Erbe gegen den Erblasser oder gegen eine
diesem nahe verbundene Person eine schwere Straftat begangen hat oder wenn er
gegenüber dem Erblasser oder einem von dessen Angehörigen die ihm obliegenden
familienrechtlichen Pflichten schwer verletzt hat (Art. 477 ZGB). Bei fehlender
oder ungenügender Angabe oder aber bei Unrichtigkeit des Grundes bzw. wenn der
Grund die Enterbung nicht rechtfertigt, kann der Enterbte die Verfügung
prinzipiell mittels der Herabsetzungsklage anfechten (Art. 479 ZGB; BGE 86 II
340 E. 1 S. 342; BGE 85 II 597 E. 3 S. 600; ROUSSIANOS/AUBERSON, in:
Commentaire du droit des successions, 2012, N. 4 zu Art. 479 ZGB; BALTHASAR
BESSENICH, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 5
zu Art. 479 ZGB; ROLAND FANKHAUSER, in: Praxiskommentar Erbrecht, 2. Aufl.
2011, N. 8 zu Art. 479 ZGB; TUOR/SCHNYDER/SCHMID/RUMO-JUNGO, Das Schweizerische
Zivilgesetzbuch, 13. Aufl.
BGE 139 V 1 S. 4
2009, S. 671 Rz. 65; PETER WEIMAR, Berner Kommentar, 4. Aufl. 2009, N. 9 und 12
zu Art. 479 ZGB; PAUL-HENRI STEINAUER, Le droit des successions, 2006, S. 212
Rz. 390; JEAN NICOLAS DRUEY, Grundriss des Erbrechts, 5. Aufl. 2002, S. 70 Rz.
68; ARNOLD ESCHER, Zürcher Kommentar, 3. Aufl. 1959, N. 3 zu Art. 479 ZGB).
Darüber hinaus bleibt ihm die Herabsetzungsklage verwehrt (insoweit ist Art.
478 Abs. 1 zweiter Satzteil ZGB missverständlich [FANKHAUSER, a.a.O., N. 1 zu
Art. 478 ZGB]).
Der vollständig Enterbte besitzt keinen Pflichtteilsanspruch, keinen
gesetzlichen Erbanspruch und auch keine Erbenstellung. Diese Konsequenz geht
unmissverständlich aus der Formulierung von Art. 478 Abs. 1 erster Satzteil ZGB
hervor und ergibt sich auch aus der Rechtsprechung (Urteil 5C.81/2003 vom 21.
Januar 2004 E. 5.2 mit Hinweisen auf BGE 115 II 211 E. 4 S. 212; BGE 110 II 228
E. 7c S. 233; BGE 104 II 75 E. II 3b/bb S. 84 f.; BGE 102 II 329 E. 2a S. 333
und BGE 86 II 340 E. 5 S. 344 sowie auf eine Vielzahl von Autoren).

4.3 In concreto erfolgte keine Enterbung im Rechtssinne. Die Beschwerdeführer
wurden einfach übergangen. Im Endeffekt macht es jedoch keinen Unterschied, ob
ein gesetzlicher Nachkomme im (handschriftlichen) Testament explizit ohne
Grundangabe oder implizit mit der Einsetzung eines alleinigen Erben gänzlich
von der Erbschaft ausgeschlossen wird. Es gibt keinen sachlichen Grund, nur im
ersten Fall den Verlust der Erbenstellung anzunehmen. Auch der überwiegende
Teil der Lehre trifft diesfalls keine Unterscheidung (ANTOINE EIGENMANN, in:
Commentaire du droit des successions, 2012, N. 9 zu Art. 522 ZGB; FORNI/PIATTI,
in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4. Aufl. 2011, N. 2
Vorbemerkungen zu Art. 522-533 ZGB; FANKHAUSER, a.a.O., N. 1 zu Art. 478 ZGB;
WEIMAR, a.a.O., N. 15 Vorbemerkungen vor Art. 470 ZGB; DRUEY, a.a.O., S. 57 Rz.
12; PAUL PIOTET, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. IV/1, 1978, S. 415,
differenziert: der Enterbte ist grundsätzlich in keinem Fall an der Erbschaft
beteiligt, während der übergangene Erbe unter der Bedingung von der Erbschaft
ausgeschlossen ist, dass die eingesetzten Erben definitiv alle erben). Soweit
BGE 125 III 35 E. 3b/bb S. 40 f. etwas Gegenteiliges entnommen werden kann,
vermag dies hier nicht als Massstab zu dienen. Einerseits handelt es sich um
ein obiter dictum im Rahmen eines Auslegungsstreits, in welchem es um die Frage
nach dem auf einen Nachlass anwendbaren Recht (deutsches oder schweizerisches
Recht) ging. Dabei bildete ein öffentliches Testament Ausgangspunkt. Anderseits
wurde in der fraglichen
BGE 139 V 1 S. 5
Erwägung ausdrücklich erwähnt, dass die Erbenqualität eines
pflichtteilsberechtigten Erben, der mittels Testament von der Erbschaft
ausgeschlossen wurde, "kürzlich" (BGE 104 II 75 E. II 3b/bb und cc S. 84 f.) -
wie letztlich auch in BGE 125 III 35 - offengelassen wurde. Schliesslich blieb
BGE 115 II 211 E. 4 S. 212 vollkommen ausser Betracht, obwohl das Bundesgericht
darin unzweideutig erwogen hatte, dass der (ausgeschlossene)
pflichtteilberechtigte Erbe die Erbeneigenschaft erst mit dem
Herabsetzungsurteil verliehen bekommt. Dies ergibt sich - wie der zitierten
Stelle weiter entnommen werden kann - aus der Natur des Herabsetzungsurteils
als Gestaltungsurteil, wodurch die Verfügung, die den Pflichtteil verletzt,
erst ihre Wirkung verliert (bestätigt in BGE 138 III 354 E. 5 S. 357 mit
weiteren Hinweisen).

4.4 Das Teilungsamt hielt in seinen Schlussbemerkungen zum öffentlichen
Inventar vom (...) somit korrekt fest, dass die Beschwerdeführer, da "im
jetzigen Zeitpunkt nicht erbberechtigt", keine Erklärungspflicht in Bezug auf
den Erwerb der Erbschaft bzw. deren allfällige Ausschlagung treffe. An der
mangelnden Erbeneigenschaft ändert der am (...) verfasste Nachtrag zum
öffentlichen Inventar nichts, da die Beschwerdeführer weiterhin von einer
Testamentsanfechtung resp. Herabsetzungsklage absahen. Im Übrigen wies das
Teilungsamt im Begleitschreiben zum Nachtrag erneut darauf hin, dass die
Beschwerdeführer "heute keine Erbenstellung" besässen und ohne Gegenbericht
innert 20 Tagen davon ausgegangen werde, dass sie stillschweigend auf eine
solche verzichteten. Insoweit die Vorinstanz dazu erwog, der Verzicht auf die
Erbenstellung sei abschliessend im ZGB geregelt und könne nicht stillschweigend
angenommen werden, lässt sie ausser Acht, dass eine Verfügung von Todes wegen
weder im Falle eines formellen noch in jenem eines inhaltlichen Mangels eo ipso
nichtig ist. Sie besteht zunächst zu Recht, wird aber vom Gericht als ungültig
erklärt, falls innerhalb bestimmter Zeit ein daran interessierter Erbe oder
Bedachter klagt. Unterbleibt die Erhebung der Ungültigkeits- oder
Herabsetzungsklage (Art. 519 ff. und 522 ff. ZGB), behält die Verfügung von
Todes wegen ihre Wirksamkeit (vgl. E. 4.3 in fine; BGE 138 III 354 E. 5 S. 357
f.; BGE 115 II 211 E. 4 S. 212; BGE 91 II 327 E. 4 S. 332; BGE 86 II 340 E. 5
S. 344; DANIEL STAEHELIN, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. II, 4.
Aufl. 2011, N. 4 zu Art. 470 ZGB). Wird eine allfällige Herabsetzungsklage
gutgeheissen, verschafft dies lediglich dem klagenden Pflichtteilserben die
Erbenstellung (BGE 115 II 211 E. 4 S. 212; STAEHELIN, a.a.O.).
BGE 139 V 1 S. 6

4.5 Nach dem Gesagten verfügen die Beschwerdeführer über keine Erbenqualität.
Sie sind daher für die durch ihren Vater unrechtmässig bezogenen
Ergänzungsleistungen nicht rückerstattungspflichtig (vgl. E. 3.2).