Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 I 16



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Urteilskopf

139 I 16

2. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Migrationsamt und Departement für Justiz und Sicherheit des Kantons Thurgau
(Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_828/2011 vom 12. Oktober 2012

Regeste

Art. 8 EMRK; Art. 5, 190 und 121 Abs. 3-6 (Fassung vom 28. November 2010
["Ausschaffungsinitiative"]) in Verbindung mit Art. 197 Ziff. 8 BV; Art. 62
lit. b, Art. 63 Abs. 1 lit. a und b sowie Abs. 2 AuG; direkte Anwendbarkeit
neuer verfassungsrechtlicher Vorgaben, die im Widerspruch zu geltendem
Gesetzes- und Völkerrecht stehen?
Übersicht über die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) und der bundesgerichtlichen Praxis zu beachtenden
Kriterien bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit aufenthaltsbeendender
Massnahmen von straffällig gewordenen Ausländerinnen und Ausländern (E. 2 und
3). Die mit der Ausschaffungsinitiative am 28. November 2010 in die
Bundesverfassung aufgenommenen Abs. 3-6 von Art. 121
sind aufgrund einer der praktischen Konkordanz verpflichteten Auslegung und
mangels hinreichender Bestimmtheit nicht direkt anwendbar, sondern bedürfen der
Umsetzung durch den Gesetzgeber; sie haben keinen Vorrang vor den Grundrechten
oder den Garantien der EMRK. Den vom Verfassungsgeber zum Ausdruck gebrachten
Wertungen kann insoweit Rechnung getragen werden, als dies zu keinem
Widerspruch zu übergeordnetem Recht bzw. zu Konflikten mit dem
Beurteilungsspielraum führt, den der EGMR den einzelnen Konventionsstaaten bei
der Umsetzung ihrer Migrations- und Ausländerpolitik zugesteht (E. 4 und 5).

Sachverhalt ab Seite 18

BGE 139 I 16 S. 18
X. (geb. 1987) stammt aus Mazedonien. Er reiste im November 1994 im Rahmen
eines Familiennachzugs in die Schweiz ein, wo er in der Folge über eine
Niederlassungsbewilligung verfügte. Nach der obligatorischen Schulzeit
absolvierte er eine Anlehre als Maler.
Am 18. Juni 2010 wurde X. wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingt vollziehbaren Freiheitsstrafe von 18
Monaten verurteilt. Das Strafgericht befand, dass er sich ohne Notlage am
organisierten Drogenhandel und insbesondere an der geplanten Umsetzung von rund
einem Kilogramm Heroin beteiligt habe. Das Migrationsamt des Kantons Thurgau
widerrief am 30. März 2011 die Niederlassungsbewilligung von X. und wies ihn
aus der Schweiz weg. Die hiergegen ergriffenen kantonalen Rechtsmittel blieben
ohne Erfolg.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten gut und hebt das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons
Thurgau vom 14. September 2011 auf.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Niederlassungsbewilligung kann widerrufen werden, wenn der Ausländer zu
einer längerfristigen Freiheitsstrafe, d.h. zu einer solchen von mehr als einem
Jahr, verurteilt worden ist, wobei mehrere unterjährige Strafen bei der
Berechnung nicht kumuliert werden dürfen (Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62
lit. b AuG [SR 142.20]; BGE BGE 135 II 377 E. 4.2 S. 381; BGE 137 II 297 E. 2).
Indessen spielt keine Rolle, ob die Sanktion bedingt, teilbedingt oder
unbedingt ausgesprochen wurde (Urteil 2C_515/2009 vom 27. Januar 2010 E. 2.1).
Ein Widerruf ist überdies möglich, wenn der Ausländer in schwerwiegender Weise
gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland
verstossen oder diese gefährdet hat (Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG). Die Praxis
geht hiervon aus, wenn die ausländische Person durch ihr Handeln besonders
hochwertige Rechtsgüter verletzt oder in Gefahr gebracht hat, sich von
strafrechtlichen Massnahmen nicht beeindrucken lässt und sich im Rahmen einer
Gesamtbetrachtung zeigt, dass sie auch künftig weder gewillt noch fähig ist,
sich an die Rechtsordnung zu halten (BGE 137 II 297 E. 3 S. 302 ff.;
BGE 139 I 16 S. 19
Urteile 2C_562/2011 vom 21. November 2011 E. 3.2 und 2C_310/2011 vom 17.
November 2011 E. 5). Diese Widerrufsgründe gelten auch, wenn der Ausländer sich
seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss im Land aufgehalten
hat (Art. 63 Abs. 2 AuG). Mit der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 18
Monaten (bedingt) ist der Widerrufsgrund von Art. 62 lit. b (i.V.m. Art. 63
Abs. 1 lit. a) AuG gegeben, was der Beschwerdeführer nicht bestreitet. Die
Vorinstanz hat überdies einen schwerwiegenden Verstoss gegen die öffentliche
Sicherheit und Ordnung angenommen; der Beschwerdeführer wendet sich auch in
diesem Punkt nicht gegen das kantonale Urteil.

2.2

2.2.1 Nach Art. 63 AuG kann die Niederlassungsbewilligung widerrufen werden.
Die Massnahme muss - wie jedes staatliche Handeln - verhältnismässig sein (vgl.
Art. 5 Abs. 2 BV; Art. 96 AuG). Zur Beurteilung der Frage, ob dies der Fall
ist, sind namentlich die Schwere des Delikts und des Verschuldens des
Betroffenen, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das Verhalten des Ausländers
während diesem, der Grad seiner Integration bzw. die Dauer der bisherigen
Anwesenheit sowie die ihm und seiner Familie drohenden Nachteile zu
berücksichtigen (BGE 135 II 377 E. 4.3). Die Niederlassungsbewilligung eines
Ausländers, der sich schon seit langer Zeit hier aufhält, soll zwar nur mit
besonderer Zurückhaltung widerrufen werden, doch ist dies bei wiederholter bzw.
schwerer Straffälligkeit selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn er hier geboren
ist und sein ganzes bisheriges Leben im Land verbracht hat (vgl. das Urteil
2C_562/2011 vom 21. November 2011 E. 3.3 [Widerruf der
Niederlassungsbewilligung eines hier geborenen 43-jährigen Türken] und das
Urteil des EGMR Trabelsi gegen Deutschland vom 13. Oktober 2011 [Nr. 41548/06],
§§ 53 ff., bezüglich der Ausweisung eines in Deutschland geborenen, wiederholt
straffällig gewordenen Tunesiers). Bei schweren Straftaten, Rückfall und
wiederholter Delinquenz besteht - überwiegende private oder familiäre Bindungen
vorbehalten - auch in diesen Fällen ein schutzwürdiges öffentliches Interesse
daran, die Anwesenheit des Ausländers zur Aufrechterhaltung der Ordnung bzw.
Verhütung von (weiteren) Straftaten zu beenden (vgl. das Urteil 2C_903/2010 vom
6. Juni 2011 E. 3.1, nicht publ. in BGE 137 II 233; BGE 130 II 176 E. 4.4.2 S.
190 [vier Jahre Zuchthaus; Raub, Brandstiftung, Betrug usw.]; BGE 122 II 433 E.
3 [Einweisung in eine Arbeitserziehungsanstalt bzw. dreieinhalb Jahre
Zuchthaus; Mord, qualifizierter Raub,
BGE 139 I 16 S. 20
Vergewaltigung]). Bei schweren Straftaten, wozu auch Drogendelikte aus rein
finanziellen Motiven gehören können, muss zum Schutz der Öffentlichkeit
ausländerrechtlich selbst ein geringes Restrisiko weiterer Beeinträchtigungen
wesentlicher Rechtsgüter nicht in Kauf genommen werden (BGE 130 II 176 E.
4.2-4.4 S. 185 ff. mit Hinweisen).

2.2.2 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
(EGMR) zu Art. 8 EMRK (Schutz des Privat- und Familienlebens) sind im Rahmen
der Beurteilung der Zulässigkeit aufenthaltsbeendender Massnahmen bei
Ausländern der zweiten Generation die gleichen Elemente ausschlaggebend wie
nach der bundesgerichtlichen Praxis, nämlich: (1) Die Art und Schwere der vom
Betroffenen begangenen Straftaten, wobei besonders ins Gewicht fällt, ob er
diese als Jugendlicher oder als Erwachsener begangen und es sich dabei um
Gewaltdelikte gehandelt hat oder nicht; (2) die Dauer des Aufenthalts im Land;
(3) die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des
Betroffenen während dieser; (4) die sozialen, kulturellen und familiären
Bindungen zum Aufenthaltsstaat und zum Herkunftsland; (5) sein gesundheitlicher
Zustand sowie (6) die mit der aufenthaltsbeendenden Massnahme verbundene Dauer
der Fernhaltung (vgl. etwa die EGMR-Urteile Emre gegen die Schweiz vom 22. Mai
2008 [Nr. 42034/04] §§ 64 ff. [Verurteilung zu insgesamt 18 ½ Monaten
Freiheitsentzug wegen Drohung, Körperverletzung, Tätlichkeiten, Diebstahls usw.
- Verletzung von Art. 8 EMRK] und Boultif gegen die Schweiz vom 2. August 2001
[Nr. 54273/00] §§ 46 ff. [Verurteilung wegen Raubes zu einer Zuchthausstrafe
von zwei Jahren- Verletzung von Art. 8 EMRK]). Nach der Praxis des EGMR
überwiegt bei Betäubungsmitteldelikten (ohne Konsum) regelmässig das
öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts, falls keine besonderen
persönlichen oder familiären Bindungen im Aufenthaltsstaat bestehen; ist die
betroffene Person ledig und kinderlos, setzt sich tendenziell das öffentliche
Fernhalteinteresse durch, sofern das Strafmass drei Jahre Freiheitsstrafe
erreicht oder weitere erhebliche Delikte hinzukommen (vgl. KARL-GEORG MAYER,
Systemwechsel im Ausweisungsrecht - der Schutz "faktischer Inländer" mit und
ohne familiäre Bindungen nach dem Grundgesetz und der Europäischen
Menschenrechtskonvention [EMRK], Verwaltungs-Archiv 101/2010 S. 482 ff., dort
537). Im Urteil Balogun gegen Vereinigtes Königreich vom 10. April 2012 (Nr.
60286/09) verneinte der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK bei der Ausweisung
eines
BGE 139 I 16 S. 21
mit drei Jahren eingereisten Nigerianers, der wegen Drogenhandels im
Erwachsenenalter zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. In der
Sache Maslov gegen Österreich vom 23. Juni 2008 (Nr. 1638/03) erkannte die
Grosse Kammer auf eine Verletzung von Art. 8 EMRK in einem Fall, in dem es um
die Aufenthaltsbeendigung eines als Kind eingereisten, wegen verschiedener
Delikte (gewerbsmässigen Bandendiebstahls, Bandenbildung, Erpressung,
Körperverletzung usw.) zu 18 und 15 Monaten Freiheitsstrafe verurteilten
drogenabhängigen Bulgaren ging (vgl. dort §§ 77 ff.; siehe auch: HOTTELIER/MOCK
/PUÉCHAVY, La Suisse devant la Cour européenne des droits de l'homme, 2. Aufl.
2011, S. 214 ff.; KÄLIN/KÜNZLI, Universeller Menschenrechtsschutz, 2. Aufl.
2008, S. 447 ff. und 549 f.; BREITENMOSER/RIEMER/SEITZ, Praxis des
Europarechts, Grundrechtsschutz, 2006, S. 66 ff.).

2.2.3 In Ausgangslagen, welche mit der vorliegenden vergleichbar sind, hat das
Bundesgericht den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung bisweilen als
unverhältnismässig bezeichnet (vgl. die Urteile 2A.422/2005 vom 9. November
2005 [bedingte Gefängnisstrafe von 18 Monaten wegen Transports von 5 Kilogramm
Kokain, einmalige Delinquenz, als Erwachsener vor 14 Jahren in die Schweiz
gekommen, hier verheiratet und Kind]; 2C_98/2009 vom 10. Juni 2009 [in der
Schweiz geboren, Delinquenz als Jugendlicher und Verurteilung zu 10 Monaten
Freiheitsstrafe u.a. wegen Betäubungsmitteldelikten]). Bei schwereren
Verurteilungen hat das Bundesgericht den Bewilligungswiderruf teilweise aber
auch geschützt (Urteile 2C_771/2011 vom 29. März 2012 [seit 6. Altersjahr, über
20 Jahre in der Schweiz; ledig; kinderlos; wiederholte Straffälligkeit, zuletzt
Verurteilung zu 5 ½ Jahren Freiheitsstrafe u.a. wegen
Betäubungsmitteldelikten]; 2C_501/2011 vom 8. Dezember 2011 [seit 5.
Altersjahr, über 20 Jahre in der Schweiz; ledig; kinderlos; wiederholte
Straffälligkeit; schwerste Verurteilung zu 30 Monaten Freiheitsstrafe u.a.
wegen Betäubungsmitteldelikten]) und dies selbst dann, wenn der betroffene
Ausländer in der Schweiz Ehefrau und Kinder hatte (Urteile 2C_265/2011 vom 27.
September 2011 [in der Schweiz geboren; mit Schweizerin verheiratet; 1 Kind;
mehrere Verurteilungen, zuletzt zu 30 Monaten u.a. wegen Widerhandlung gegen
das Betäubungsmittelgesetz]; 2C_526/2011 vom 17. November 2011 [seit 15.
Altersjahr, rund 11 Jahre in der Schweiz; verheiratet; zwei Kinder;
Verurteilung zu 30 Monaten Freiheitsstrafe wegen Einfuhr von ca. 1 Kilogramm
Heroin]; 2C_935/2010 vom 7. Juni 2011 [seit
BGE 139 I 16 S. 22
13. Altersjahr, insgesamt 15 Jahre in der Schweiz; verheiratet; 1 Kind;
Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten, hauptsächlich
wegen Handels mit ca. 1 Kilogramm Heroin und rund 100 Gramm Kokain]; 2C_254/
2010 vom 15. Juli 2010 [seit 14. Altersjahr, insgesamt 15 Jahre in der Schweiz;
1 Kind; Verurteilung zu fünfjähriger Freiheitsstrafe, hauptsächlich wegen
qualifizierter Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz]).

3.

3.1 Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung und der Auslegung von Art. 8
EMRK durch den EGMR hat der vorliegende Widerruf der Niederlassungsbewilligung
als unverhältnismässig zu gelten: Der Beschwerdeführer ist zwar wegen einer
qualifizierten Zuwiderhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer
bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt worden; er hat als
Drogenkurier fungiert und über sein Beziehungsnetz zum Handel beigetragen, ohne
sich in einer Notlage befunden zu haben oder selber abhängig gewesen zu sein.
Zu seinen Gunsten ist jedoch zu berücksichtigen, dass er seit seinem 7.
Altersjahr in der Schweiz lebt, hier die Schulen besucht hat und sich hernach
im Land als Maler anlernen liess. Zurzeit der Tat war der Beschwerdeführer rund
19 Jahre alt; das Strafurteil gegen ihn erging erst 3 ½ Jahre nach seinen
Straftaten, ohne dass er zuvor oder danach je anderweitig straffällig geworden
wäre. Der Beschwerdeführer war trotz seines aktiven Verhaltens nicht der
Haupttäter und hat sich am Transport und Handel aus jugendlichem Leichtsinn
naiv und kritiklos beteiligt. Hierfür spricht der Umstand, dass er, trotz des
beträchtlichen Werts des Heroins, für seine risikoreiche Gehilfentätigkeiten
keine nennenswerten finanziellen Vorteile forderte oder erlangte.

3.2 In der Strafuntersuchung zeigte sich der Beschwerdeführer kooperativ und
geständig. Seit Juli 2010 arbeitet er für eine Fassadenbau AG. Im Frühjahr 2011
gründete er mit seinem Vater und Bruder ein eigenes Malergeschäft, das er
übernehmen möchte. Ende Juli 2011 hat er sich mit einer hier geborenen,
niederlassungsberechtigten Landsfrau verlobt. In den rund 16 Jahren, während
denen er sich in der Schweiz aufhielt, hat er sich - abgesehen von seiner
einmaligen Straffälligkeit - sozialisieren und integrieren können. In
Mazedonien verfügt er über keine Familienangehörigen mehr, nachdem seine
Verwandten praktisch alle in der Schweiz leben. Zwar kennt er seine Heimat von
Ferienbesuchen her, doch ist er des Mazedonischen nicht mächtig und spricht er
nur lückenhaft Albanisch; die deutsche
BGE 139 I 16 S. 23
Sprache beherrscht er hingegen fliessend. Der Bewilligungswiderruf erweist sich
unter diesen Umständen nicht als im Sinne von Art. 8 Ziff. 2 EMRK geboten;
sollte der Beschwerdeführer die ihm eingeräumte Chance nicht zu nutzen wissen,
ist ein späterer Widerruf im Rahmen einer neuen Interessenabwägung nicht
ausgeschlossen.

4.

4.1 Nichts anderes ergibt sich aus den Absätzen 3-6 von Art. 121 BV, welche mit
der Volksabstimmung vom 28. November 2010 in die Verfassung aufgenommen wurden
und seither in Kraft stehen (AS 2011 1199). Danach verlieren Ausländerinnen und
Ausländer unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht
sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie unter
anderem wegen "Drogenhandels" rechtskräftig verurteilt worden sind (Art. 121
Abs. 3 lit. a BV). Die betroffenen Personen sind von der zuständigen Behörde
aus der Schweiz auszuweisen und mit einem Einreiseverbot von 5-15 Jahren zu
belegen; im Wiederholungsfall ist das Einreiseverbot auf 20 Jahre anzusetzen (
Art. 121 Abs. 5 BV). Nach einem Teil der Lehre sind der Verlust des
Aufenthaltsrechts und die Ausweisung unter den genannten Voraussetzungen
zwingend und eine Prüfung der Verhältnismässigkeit im Einzelfall ausgeschlossen
(vgl. ASTRID EPINEY, Ausschaffungsinitiative und Freizügigkeitsabkommen,
Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung in Graubünden [ZGRG]1/2010 S. 3
ff., 6 f.; GÄCHTER/KRADOLFER, Von schwarzen Schafen, Gedanken zur
Ausschaffungsinitiative aus juristischer Sicht, Asyl 1/2008 S. 12 ff., 17; JAAG
/PRIULI, Ausschaffungsinitiative und Freizügigkeitsabkommen, Jusletter 8.
November 2010 Rz. 11, 28, 42; LORENZ LANGER, Menetekel oder Musterlösung? Das
amerikanische Ausländerrecht und die Umsetzung der schweizerischen
Ausschaffungsinitiative, Schweizerische Zeitschrift für internationales und
europäisches Recht [SZIER] 2011 S. 195 ff., 228 f.;PÉREZ/BREMER/HOFMANN,
Verfassungskonform völkerrechtswidrig: Schafft die Schweiz sich aus?, in:
Schweiz und Europa - Auswirkungen auf Wirtschaft, Recht und Gesellschaft, 2011,
S. 31 ff., dort 38, 47; JOHANNES REICH, Verletzt die "Ausschaffungsinitiative"
zwingende Bestimmungen des Völkerrechts?, ZSR 127/2008 I S. 499 ff., dort 514
f.; derselbe, Direkte Demokratie und völkerrechtliche Verpflichtungen im
Konflikt, Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht
[ZaöRV] 68/2008 S. 979 ff., dort1018 f.; a.M. YVO HANGARTNER, Unklarheiten bei
Volksinitiativen, Bemerkungen aus Anlass des neuen Art. 121 Abs. 3-6 BV [im
BGE 139 I 16 S. 24
Folgenden: Ausschaffungsinitiative], AJP 2011 S. 471 ff., dort 473, 475).So
haben auch der Bundesrat und die eidgenössischen Räte die Bestimmungen
verstanden (Botschaft vom 24. Juni 2009 zur [...] Ausschaffungsinitiative
[...], BBl 2009 5097, 5107; AB 2010 S 311 ff.; 2010 N 681 ff.), ebenso die
Abstimmungserläuterungen zur Volksabstimmung vom 28. November 2010, S. 6-11, 14
f.

4.2

4.2.1 Verfassungsbestimmungen regeln meist Grundsätzliches und weisen häufig
eine geringe Normdichte auf. Die Verfassung bildet keine Einheit, sondern oft
eine historisch gewachsene Struktur punktueller, nicht immer bewusst
verbundener und aufeinander abgestimmter Prinzipien, Garantien und Aufträge.
Solange der Verfassungsgeber einer einzelnen Norm nicht ausdrücklich Vorrang
einräumt, ist auslegungsmässig grundsätzlich von einer Gleichwertigkeit der
Regelungen auszugehen (vgl. BGE 128 II 1 E. 3d S. 10 f.; vgl. PIERRE TSCHANNEN,
Verfassungsauslegung [im Folgenden: Verfassungsauslegung], in: Verfassungsrecht
der Schweiz, Thürer/Aubert/Müller [Hrsg.], 2001, S. 149 ff., dort 153). Die
Verfassung ist neben dem bei der Auslegung des einfachen Gesetzesrechts
anzuwendenden Methodenpluralismus (vgl. BGE 131 I 74 E. 4.1 S. 80; hierzu:
WIEDERKEHR/RICHLI, Praxis des allgemeinen Verwaltungsrechts, Bd. I, 2012, Rz.
941 ff.; HÄFELIN/HALLER/KELLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 8. Aufl.
2012, Rz. 128 ff.; PÉREZ/BREMER/HOFMANN, A.A.O., S. 39; PIERRE TSCHANNEN,
Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft [im Folgenden: Staatsrecht],
3. Aufl. 2011, § 4 Rz. 5 f.) mit Blick auf die Strukturprinzipien, die
Völkerrechtskonformität und eine minimale Einheit zu interpretieren (TSCHANNEN,
Verfassungsauslegung, a.a.O., S. 158 f.). Sie soll ein Mindestmass an
Widerspruchsfreiheit aufweisen, weshalb einzelne Bestimmungen nicht
ausschliesslich im Sinne von Initianten (vgl. WIEDERKEHR/RICHLI, a.a.O., Rz.
942) - isoliert und punktuell betrachtet - verstanden werden können.

4.2.2 Die Verfassungsinterpretation ist einem möglichst schonenden Ausgleich
der verschiedenen Verfassungs- und Grundrechtsinteressen verpflichtet; sie soll
praktische Konkordanz schaffen (vgl. BGE 129 I 173 E. 5.1; BGE 126 III 129 E.
8a; TSCHANNEN, Staatsrecht, a.a.O., § 4 Rz. 38 ff.; derselbe,
Verfassungsauslegung, a.a.O., S. 158 f.; RHINOW/SCHEFER, Schweizerisches
Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, Rz. 520 ff.; HANGARTNER,
Ausschaffungsinitiative, a.a.O., S. 473; KONRAD HESSE, Grundzüge des
Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 [Neudruck
1999], Rz. 70 ff.; REICH, a.a.O., S. 516).
BGE 139 I 16 S. 25
Eine Auslegung von Art. 121 Abs. 3-6 BV, die dem verfassungsrechtlichen
Gesamtkontext keine Rechnung trägt und ausschliesslich den Willen der
Initianten in den Vordergrund stellt, ist unzulässig, falls die entsprechende
Bestimmung sich nicht selber im Sinne einer verfassungsrechtlichen
Kollisionsregel eindeutig den Vorrang zu den anderen betroffenen
Verfassungsvorgaben zuweist, wobei der Umstand, dass die neue
Verfassungsbestimmung jüngeres Recht ist, hierfür allein nicht genügt (vgl.
PETER UEBERSAX, Zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative, Asyl 4/11 S. 9 ff.,
dort 10; HANGARTNER, Ausschaffungsinitiative, a.a.O., S. 475; HANGARTNER/KLEY,
Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen
Eidgenossenschaft, 2000, S. 840 ff.; JÖRG PAUL MÜLLER, Wie wird sich das
Bundesgericht mit dem Minarettverbot der BV auseinandersetzen? [im Folgenden:
Minarettverbot], Jusletter 1. März 2010 Rz. 7). Ebenso wenig ist ausreichend,
dass die politische Auseinandersetzung um eine neue Verfassungsbestimmung
isoliert erfolgt und ihre Einbettung in das verfassungsrechtliche Gesamtgefüge
im Abstimmungskampf unerörtert geblieben ist.
Dass eine Verfassungsbestimmung absolut gelten und im Einzelfall keiner
Abwägung mit anderen Interessen zugänglich sein soll, ist zwar nicht
ausgeschlossen (BGE 138 II 281 E. 6.2 mit Hinweisen); es kann sogar sein, dass
der neue Verfassungstext bei gegenläufigen Grundrechtsinteressen die
erforderliche Güterabwägung selber vornimmt und zum Ausdruck bringt, dass das
eine Grundrecht dem anderen vorgeht und dieses im Konfliktfall verdrängt (BGE
128 I 63 E. 5). Dies ist aber nicht leichthin anzunehmen, erst recht nicht,
wenn eine Verfassungsnorm in Widerspruch zu grundrechtlichen Ansprüchen gerät,
welche in für die Schweiz verbindlichen Menschenrechtspakten garantiert sind
(dazu E. 5).

4.2.3 Verfassungsbestimmungen können genügend bestimmt sein, um mit ihrem
Inkrafttreten ohne ausführende Gesetzgebung - ganz oder teilweise - mit
Wirkungen auch für Private unmittelbar Anwendung zu finden (vgl. HANGARTNER,
Ausschaffungsinitiative, a.a.O., S. 472; derselbe, Unmittelbare Anwendbarkeit
völker- und verfassungsrechtlicher Normen, ZSR 126/2007 I S. 137 ff., dort 154
ff.). Ob dies der Fall ist, muss auslegungsmässig ermittelt werden, wobei den
diesbezüglich bestehenden verfassungsrechtlichen Besonderheiten Rechnung zu
tragen ist (vgl. TSCHANNEN, Staatsrecht, a.a.O., 3. Aufl. 2011, § 4 Rz. 6 ff.
mit Hinweisen; JULIA SZEMERÉDY, Verfassungsauslegung als methodologisches
Grundproblem im Lichte der
BGE 139 I 16 S. 26
revidierten Bundesverfassung, in: Neue Akzente in der "nachgeführten"
Bundesverfassung, Gächter/Bertschi [Hrsg.], 2000, S. 33 ff., dort 35 ff.).

4.3

4.3.1 Art. 121 Abs. 3 BV nennt verschiedene Straftatbestände, die teilweise auf
entsprechende Bestimmungen im Strafgesetzbuch Bezug nehmen (Vergewaltigung,
Raub), teilweise jedoch auch sehr offen und untechnisch formuliert sind
(Drogenhandel, Einbruchsdiebstahl usw.; vgl. UEBERSAX, a.a.O., S. 11), keine
klaren Konturen haben und nach dem Verfassungstext selber erst noch durch den
Gesetzgeber konkretisiert werden sollen (Art. 121 Abs. 4 BV). Die
Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung setzen ihm hierzu eine Frist von
fünf Jahren ab der Annahme der Ausschaffungsinitiative durch Volk und Stände am
28. November 2010 (vgl. Art. 197 Ziff. 8 BV). Dies schliesst die Vorrangigkeit
bzw. zumindest teilweise direkte Anwendbarkeit der neuen Verfassungsnorm
gegenüber dem restlichen Verfassungsrecht nicht zwingend aus (COTTIER/HERTIG,
Das Völkerrecht in der neuen BV: Stellung und Auswirkungen, in: Die neue
Bundesverfassung, Ulrich Zimmerli [Hrsg.], 2000, S. 1 ff., dort 27), stellt sie
jedoch infrage (vgl. UEBERSAX, a.a.O., S. 10; HANGARTNER,
Ausschaffungsinitiative, a.a.O., S. 474; REICH, a.a.O., S. 517).

4.3.2 Eine direkte Anwendbarkeit setzte aufgrund des Legalitäts prinzips
voraus, dass Tatbestand und Rechtsfolgen genügend genau formuliert sind, sodass
der Einzelne sein Verhalten danach richten kann (BGE 125 I 361 E. 4a S. 364).
Dies mag zwar für einzelne der in Art. 121 Abs. 3 BV genannten Verhaltensweisen
der Fall sein, doch bildet die Abstimmung der gestützt auf Art. 121 Abs. 3-6 BV
zu einer Aufenthaltsbeendigung führenden Straffälligkeit wertungsmässig ein
erst noch zu konkretisierendes Gesamtsystem, aus dem nicht
rechtsprechungsmässig einzelne Delikte herausgelöst werden können, soll es
nicht zu Widersprüchen zwischen dem alten (Art. 62 ff. AuG) und dem neuen
System (Art. 121 Abs. 3-6 BV) der ausländerrechtlichen Konsequenzen strafbaren
Verhaltens kommen. Die Art. 121 Abs. 3-6 BV sind nicht hinreichend klar
formuliert, um ihre direkte Anwendbarkeit begründen zu können, zumal eine
solche in Widerspruch zu anderen verfassungs- und völkerrechtlichen Vorgaben -
insbesondere den die schweizerische Verfassungsordnung prägenden Grundsätzen
rechtsstaatlichen Handelns (Art. 5 BV: Bindung an das Recht,
Verhältnismässigkeit, Treu und Glauben, Beachtung des Völkerrechts) und des
Respekts der verfassungsmässigen
BGE 139 I 16 S. 27
Rechte - stehen würde (vgl. HANGARTNER, Ausschaffungsinitiative, a.a.O., S.
475; UEBERSAX, a.a.O., S. 13; FLORIAN WEBER, Die gesetzlichen
Umsetzungsvarianten der SVP-Ausschaffungsinitiative im Lichte des FZA und der
Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK, AJP 10/2012 S. 1436 ff., dort 1450 f.
Fn. 170; PHILIPPE MASTRONARDI, Verfassungslehre, 2007, N. 782 ff.; MÜLLER,
Minarettverbot, a.a.O., Rz. 8 f.).

4.3.3 Die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative stellt heikle verfassungs- und
völkerrechtliche Probleme, da ein Ausweisungsautomatismus, wie er sich bei
einer isolierten Betrachtung aus Art. 121 Abs. 3-6 BV ableiten liesse, bzw.
dessen Umsetzung die völkerrechtlich gebotene Verhältnismässigkeitsprüfung der
aufenthaltsbeendenden Massnahme im Einzelfall ausschliesst und diesbezüglich im
Widerspruch zu den Geboten von Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV (i.V.m. Art. 36 BV)
und Art. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK (SR 0.101.07) sowie von Art. 13
(Verfahrensgarantien) bzw. Art. 17 (Schutz des Familienlebens vor willkürlichen
Eingriffen) des UNO-Pakts II (SR 0.103.2) steht. Die Anforderungen aus dem
Freizügigkeitsabkommen (SR 0.142.112.681; Einzelfallprüfung und Notwendigkeit
einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung im
Zeitpunkt des Vollzugs der Aus- bzw. Wegweisung; zu Art. 5 Anhang I FZA: BGE
137 II 233 E. 5; BGE 131 II 352 ff.) können nicht mehr erfüllt und dem
Kindeswohl kann nicht mehr im Sinne von Art. 3 der Kinderrechtekonvention (SR
0.107) Rechnung getragen werden. Der Verfassungswortlaut steht deshalb in einem
deutlichen Spannungsverhältnis zu grundlegenden verfassungs- und
völkerrechtlich von der Schweiz anerkannten Werten; die Verfassungsbestimmung
macht keinen Unterschied zwischen leichteren und schwereren Straftaten, da sie
für die obligatorische Landesverweisung jeweils auf die Deliktsart und nicht
die konkrete Strafhöhe abstellt und sie die nach der EMRK in einem
demokratischen Rechtsstaat gebotene und auch nach dem FZA erforderliche
Interessenabwägung und Beurteilung gestützt auf die Umstände im Einzelfall
ausschliesst (vgl. WEBER, a.a.O., S. 1436 ff., dort 1444 f., 1449 ff.).

4.3.4 Bei Art. 121 Abs. 3 BV handelt es sich als Ganzes ohne die erforderliche
Feinabstimmung auf Gesetzesstufe deshalb um eine wertungsmässig offene Norm,
die dem Gesetzgeber einen Konkretisierungsspielraum belässt. Ihr Verhältnis zu
den anderen Verfassungsbestimmungen und -prinzipien bedarf der Klärung. Diese
kann - aus Gründen der Gewaltenteilung - zurzeit nicht durch das
BGE 139 I 16 S. 28
Bundesgericht erfolgen. Die entsprechende Verantwortung obliegt dem Gesetzgeber
(Art. 121 Abs. 4 BV). Das Bundesgericht ist im Falle einer auslegungsweise
nicht überwindbaren Normenkollision an die Bundesgesetze und das Völkerrecht
gebunden (Art. 190 BV); es liegt vorerst an den politischen Instanzen, den
erforderlichen Ausgleich zwischen den auf dem Spiele stehenden
verfassungsrechtlichen Werten auf Gesetzesstufe zu regeln (vgl. JÖRG PAUL
MÜLLER, Einleitung zu den Grundrechten, in: Kommentar zur aBV, Stand 1987, Rz.
139; YVO HANGARTNER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar [im
Folgenden: Kommentar], 2. Aufl. 2008, N.26 zu Art. 190 BV). Art. 121 Abs. 4 BV
bezieht sich - trotz seines konditionalen Charakters (vgl. hierzu PIERRE
TSCHANNEN, Systeme des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2008, S. 55 ff.) - dabei
nicht nur auf die einzelnen Tatbestände, sondern auch auf die Rechtsfolgen, da
die beiden Aspekte in der Gesamtsystematik der ausländerrechtlichen
Konsequenzen strafrechtlich relevanten Verhaltens nicht voneinander getrennt
werden können.

5. Selbst wenn sich Art. 121 Abs. 3 lit. a BV im vorliegenden Fall direkt
anwenden liesse und man von einer Einbettung in das Verfassungsganze absehen
wollte, änderte dies nichts am Ausgang des Verfahrens:

5.1 Im Falle eines Normenkonflikts zwischen dem Völkerrecht und einer späteren
Gesetzgebung geht die Rechtsprechung grundsätzlich vom Vorrang des Völkerrechts
aus; vorbehalten bleibt gemäss der "Schubert"-Praxis der Fall, dass der
Gesetzgeber einen Konflikt mit dem Völkerrecht ausdrücklich in Kauf genommen
hat (BGE 99 Ib 39 E. 3 und 4 ["Schubert"]; BGE 125 II 417 E. 4d S. 425 ["PKK"];
133 V 367 E. 11.1.1; BGE 136 III 168 E. 3.3.4). Die Rechtsprechung hat die
Anwendung der "Schubert-Praxis" im Falle eines Widerspruchs zu
Menschenrechtskonventionen (BGE 125 II 417 E. 4d; BGE 131 II 352 E. 1.3.1; BGE
136 II 241 E. 16.1) verneint; die Frage in einem Einzelfall aber auch
offengelassen (BGE 136 III 168 E. 3.3.4). In einem jüngsten Entscheid zur
Problematik hat das Bundesgericht den Vorrang des Völkerrechts bzw. die Bindung
an dieses bestätigt (BGE 138 II 524 E. 5.1): Besteht ein echter Normkonflikt
zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche
Verpflichtung der Schweiz vor (BGE 135 II 243 E. 3.1 S. 249; BGE 125 II 417 E.
4d S. 425); dies gilt selbst für Abkommen, die nicht Menschen- oder Grundrechte
zum Gegenstand haben (BGE 136 II 241 E. 16.1 S. 255; BGE 122 II 485 E. 3a S.
487; vgl. auch MÜLLER, Minarettverbot, a.a.O., Rz. 10 und
BGE 139 I 16 S. 29
17). Der dargelegte Vorrang besteht auch gegenüber späteren, d.h. nach der
völkerrechtlichen Norm in Kraft getretenen Bundesgesetzen; die
Lex-posterior-Regel kommt im Verhältnis zwischen Völker- und Landesrecht nicht
zur Anwendung (BGE 122 II 485 E. 3a S. 487). Die Schweiz kann sich nicht auf
ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu
rechtfertigen (Art. 5 Abs. 4 BV; Art. 27 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai
1969 über das Recht der Verträge [VRK; SR 0.111]; vgl. BGE 125 II 417 E. 4d S.
424 f.; BGE 122 II 234 E. 4e S. 239; ferner BGE 116 IV 262 E. 3b/cc S. 269; BGE
117 IV 124 E. 4b S. 128). Entsprechend bleibt eine dem Völkerrecht
entgegenstehende Bundesgesetzgebung regelmässig unanwendbar (BGE 125 II 417 E.
4d S. 425; BGE 128 IV 201 E. 1.3 S. 205; vgl. auch HOTTELIER/MOCK/PUÉCHAVY,
a.a.O., S. 12 ff.; MÜLLER, Minarettverbot, a.a.O., Rz. 19 f.; COTTIER/HERTIG,
a.a.O., S. 11, 17, 18 ff., 24).

5.2

5.2.1 Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage des Verhältnisses zwischen
Völkerrecht und einer später erlassenen Verfassungsbestimmung. Gemäss Art. 194
Abs. 2 BV darf eine Verfassungsänderung zwingendes Völkerrecht nicht verletzen.
Auch Volksinitiativen, die zwingendem Völkerrecht widersprechen, sind ungültig
(Art. 139 Abs. 3 BV). Daraus folgt umgekehrt, dass Verfassungsänderungen,
welche andere völkerrechtliche Normen nicht beachten, möglich bleiben
(Botschaft vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 1
ff., Ziff. 221.41 S. 446 f.; HANGARTNER, Kommentar, a.a.O., N. 33 zu Art. 139
BV [neu]). Wie alsdann im Rechtsanwendungsfallvorzugehen ist, erscheint wenig
geklärt (s. dazu die Hinweise im Bericht des Bundesrates vom 5. März 2010 "Das
Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht", BBl 2010 2263 Ziff. 8.6.1 S. 2308
ff.). Ein Teil der Lehre vertritt die Auffassung, dass eine neuere, unmittelbar
anwendbare Verfassungsbestimmung einem älteren Staatsvertrag vorzugehen hat
(ROBERT BAUMANN, Der Einfluss des Völkerrechts auf die Gewaltenteilung, 2002,
N. 362 S. 277 f., 317; derselbe, Die Umsetzung völkerrechtswidriger
Volksinitiativen, ZBl 111/2010 S. 241 ff., dort 260 ff.); andere Autoren
verwerfen diese Auffassung (JÖRG KÜNZLI, Demokratische Partizipationsrechte bei
neuen Formen der Begründung und bei der Auflösung völkerrechtlicher
Verpflichtungen, ZSR 128/2009 I S. 47 ff., 71 ff.; KIENER/KRÜSI,
Bedeutungswandel des Rechtsstaats und Folgen für die [direkte] Demokratie
amBeispiel völkerrechtswidriger Volksinitiativen, ZBl 110/2009 S. 237 ff., dort
249 ff.).
BGE 139 I 16 S. 30

5.2.2 Die EMRK ist ein Staatsvertrag und als solcher nach den Regeln von Art.
31 f. VRK auszulegen, wobei ihren Besonderheiten und insbesondere ihrem
Charakter als lebendiges Instrument ("living instrument") Rechnung zu tragen
ist (vgl. BGE 137 I 284 E. 2.1 MIT HINWEISEN; GRABENWARTER/PABEL, Europäische
Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, S. 30 ff. mit Hinweisen; JENS
MEYER-LADEWIG, EMRK, 3. Aufl. 2011, Einleitung, N. 35; ELISABETH CHIARIELLO,
Der Richter als Verfassungsgeber?, 2009, S. 267 ff.; FROWEIN/PEUKERT,
Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2009, Einführung, N. 8 ff.;
HAEFLIGER/SCHÜRMANN, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz,
2. Aufl. 1999, S. 49 ff.; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen
Menschenrechtskonvention [EMRK], 2. Aufl. 1999, S. 162 ff.). Aus Art. 8 EMRK,
wonach jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens hat,
ergibt sich nach der Rechtsprechung des EGMR und in deren Folge der
Staatenpraxis eine Vertragsverletzung, wenn die betroffene Person im
Aufenthaltsstaat über hinreichend starke persönliche oder familiäre Bindungen
verfügt, die durch die aufenthaltsverweigernde oder -beendende Massnahme unter
dem Titel des "Privatlebens" oder des "Familienlebens" nachhaltig betroffen
werden. Die Konvention bzw. die diese verbindlich auslegende Rechtsprechung des
EGMR verlangt im Rahmen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK eine Abwägung zwischen dem
privaten Interesse der betroffenen Person am Verbleib im Land einerseits und
dem öffentlichen Interesse an ihrer Entfernung bzw. Fernhaltung zu einem der
dort genannten Zwecke andererseits, wobei dieses gestützt auf die vom EGMR
ermittelten Kriterien jenes aufgrund der Gesamtbeurteilung im Einzelfall in dem
Sinne überwiegen muss, dass die Massnahme notwendig erscheint.

5.2.3 Dies ist wie dargelegt hier nicht der Fall (vgl. E. 3). Mit der EMRK und
der Möglichkeit der Individualbeschwerde hat die Schweiz nicht nur die
konventionsmässigen materiellen Garantien, sondern auch deren
Durchsetzungsmechanismus und die Pflicht übernommen, im Nachgang zu den
Urteilen des EGMR die jeweils erforderlichen individuellen und allgemeinen
Massnahmen zu treffen, um künftige ähnliche Konventionsverletzungen -
nötigenfalls auch durch eine Anpassung des nationalen Rechts - zu verhindern
(vgl. Art. 1 und 46 EMRK; Art. 61 des Reglements des EGMR [Fassung vom 1.
September 2012]; GRABENWARTER/PABEL, a.a.O., § 16 Rz. 8 ff., zu den
"infringement proceedings": Rz. 10 ff.; MEYER-LADEWIG, a.a.O., Rz. 25 f., 37
und insbesondere 41 zu Art. 46 EMRK; XAVIER-BAPTISTE
BGE 139 I 16 S. 31
RUEDIN, Exécution des arrêts de la Cour européenne des droits de l'homme, 2009,
137 f., 407 ff., 439 ff., 587 ff.; FROWEIN/PEUKERT, a.a.O., N. 12 f. zu Art. 46
EMRK; BREITENMOSER/RIEMER/SEITZ, a.a.O., S. 19; HAEFLIGER/SCHÜRMANN, a.a.O., S.
426 ff.).

5.3 Das Bundesgericht ist auch bei Berücksichtigung von Art. 121 Abs. 3 BV
hieran gebunden. Es hat die sich aus der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte ergebenden Vorgaben weiterhin umzusetzen (vgl.
Art. 190 BV). Es kann in der durch diese gebotenen Interessenabwägung der vom
Verfassungsgeber zum Ausdruck gebrachten Wertung insoweit Rechnung tragen, als
dies zu keinem Widerspruch zu übergeordnetem Recht bzw. zu Konflikten mit dem
Beurteilungsspielraum führt, den der EGMR den einzelnen Konventionsstaaten bei
der Umsetzung ihrer Migrations- und Ausländerpolitik zugesteht. In diesem
Rahmen kann die erforderliche Interessenabwägung jedoch nicht schematisierend
auf einzelne im Verfassungsrecht mehr oder weniger klar umschriebene
Anlasstaten reduziert werden, ohne dass der Strafhöhe und den weiteren zur
Rechtfertigung des mit der Aufenthaltsbeendigung verbundenen Eingriffs in das
Privat- und Familienleben erforderlichen Aspekten Rechnung getragen wird (vgl.
auch REICH, a.a.O., S. 517).