Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 314



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Urteilskopf

139 IV 314

49. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg gegen X. (Beschwerde in Strafsachen)
1B_270/2013 vom 22. Oktober 2013

Regeste

Art. 188 Abs. 1 BV; Art. 1, 12 und 13 StPO; Art. 103 f. BGG; Beschwerde in
Strafsachen der Staatsanwaltschaft gegen eine (umgehend vollzogene)
Haftentlassung durch die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts.
Anders als bei der Anfechtung eines Haftentlassungsentscheids des
Zwangsmassnahmengerichts oder des erstinstanzlichen Strafrichters (E. 2.2),
kann mit einer Beschwerde in Strafsachen gegen eine Haftentlassung durch die
Verfahrensleitung des Berufungsgerichts in der Regel nicht verhindert werden,
dass die Haftentlassung sofort vollzogen wird (E. 2.3).

Sachverhalt ab Seite 315

BGE 139 IV 314 S. 315

A. Am 22. April 2013 verurteilte das Strafgericht des Saanebezirks X.
insbesondere wegen mehrfachen Betrugs und Vernachlässigung der
Unterhaltspflicht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 11 Monaten. Zur
Sicherung des Strafvollzugs versetzte es ihn für drei Monate in
Sicherheitshaft.
Am 2. Mai 2013 erhob X. Berufung.
Mit Verfügung vom 22. Juli 2013 verlängerte die Präsidentin des
Strafappellationshofs des Kantonsgerichts Freiburg die Sicherheitshaft um eine
Woche, d.h. bis zum 29. Juli 2013, und gab den Parteien Gelegenheit zur
Stellungnahme.
X. beantragte seine Freilassung, die Staatsanwaltschaft die Verlängerung der
Sicherheitshaft bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens.
Mit Verfügung vom 29. Juli 2013 ordnete die Präsidentin des
Strafappellationshofes die Entlassung von X. aus der Sicherheitshaft am
gleichen Tag an. Sie verpflichtete ihn, sich einmal wöchentlich bei der
Polizeistelle seines Wohnsitzes zu melden. Sie erwog, zwar seien der dringende
Tatverdacht und Fluchtgefahr gegeben. Die Haft sei jedoch nicht mehr
verhältnismässig.

B. Die Staatsanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die
Verfügung der Präsidentin des Strafappellationshofes sei aufzuheben und über X.
Sicherheitshaft anzuordnen. (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung könne sie die Freilassung des Beschuldigten bei Nichtanordnung
der Haft durch das Zwangsmassnahmengericht verhindern. Sie müsse dazu dem
Zwangsmassnahmengericht die
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Beschwerde an die kantonale Beschwerdeinstanz sofort ankündigen und habe in der
Folge drei Stunden Zeit zur Einreichung der Beschwerde. Dabei bleibe der
Beschuldigte in Haft, bis die Verfahrensleitung der Beschwerdeinstanz
superprovisorisch über die vorläufige Fortdauer der Haft entscheiden könne. Das
vom Bundesgericht umschriebene Vorgehen bei der Anfechtung des
Zwangsmassnahmenentscheids müsse auch in der vorliegenden Konstellation gelten,
wo die Staatsanwaltschaft gegen die Freilassung Beschwerde in Strafsachen
erheben könne. Das habe die Vorinstanz nicht beachtet. Sie habe ihre Verfügung
vom 29. Juli 2013 der Beschwerdeführerin gleichentags um 15.16 Uhr per Fax
zugestellt. Ebenfalls noch am gleichen Tag, um 17.00 Uhr, sei der
Beschwerdegegner aus der Haft entlassen worden. Die Beschwerdeführerin habe
somit nicht drei Stunden Zeit gehabt zur Einreichung der Beschwerde in
Strafsachen mit dem Antrag um aufschiebende Wirkung. Damit sei eine wirksame
Wahrnehmung des Beschwerderechts der Beschwerdeführerin nach Art. 81 Abs. 1 BGG
verhindert worden.

2.2 Nach der Rechtsprechung ist die Staatsanwaltschaft befugt, einen für sie
ungünstigen Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts in Haftsachen bei der
Beschwerdeinstanz anzufechten (BGE 138 IV 92 E. 3.2; BGE 137 IV 87 E. 3, BGE
137 IV 22 E. 1). Dieses Beschwerderecht muss die Staatsanwaltschaft wirksam
wahrnehmen können.

2.2.1 Das Bundesgericht hat dazu festgehalten (BGE 138 IV 92 E. 3.2 f. S. 96
ff., BGE 138 IV 148 E. 3.1 f. S. 150 f.; je mit Hinweisen), dass eine
beschuldigte Person gemäss Art. 226 Abs. 5 StPO unverzüglich freizulassen ist,
wenn das Zwangsmassnahmengericht die Untersuchungshaft nicht anordnet. Dieses
Recht auf unverzügliche Freilassung ergibt sich aus dem Grundrecht der
persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV), welches gestützt auf die Art. 31 BV
und Art. 5 EMRK in strafrechtlichen Verfahren unter bestimmten Voraussetzungen
eingeschränkt werden kann (s. auch Art. 36 BV). Verfügt das
Zwangsmassnahmengericht die sofortige Freilassung, obwohl nach Auffassung der
Staatsanwaltschaft ein Haftgrund nach Art. 221 StPO besteht, kann das die
Fortführung des Strafverfahrens indessen erschweren oder gar vereiteln. Um dies
zu verhindern, besteht ein Interesse, dass die Staatsanwaltschaft im Rahmen
ihrer Beschwerde an die Beschwerdeinstanz nach Art. 393 StPO zumindest
vorübergehend die Freilassung verhindern kann.
Strafprozessuale Rechtsmittel haben nach Art. 387 StPO keine aufschiebende
Wirkung. Vorbehalten bleiben abweichende
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Bestimmungen der StPO oder Anordnungen der Verfahrensleitung der
Rechtsmittelinstanz. Diese trifft in Anwendung von Art. 388 StPO die
notwendigen und unaufschiebbaren verfahrensleitenden und vorsorglichen
Massnahmen. Hierzu gehört nach ausdrücklicher Vorschrift von Art. 388 lit. b
StPO die Anordnung von Haft. Diese Bestimmungen sind grundsätzlich geeignet,
die Untersuchungshaft während des Beschwerdeverfahrens betreffend die
Haftentlassung aufrechtzuerhalten. Gewiss steht die lückenlose Weiterführung
der Untersuchungshaft in einem gewissen Gegensatz zur Pflicht, die beschuldigte
Person unverzüglich freizulassen, wenn das Zwangsmassnahmengericht die
Untersuchungshaft nicht anordnet (Art. 226 Abs. 5 StPO). Dennoch ist es zur
Gewährleistung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft erforderlich, die
Freilassung des Beschuldigten aufzuschieben, bis die Beschwerdeinstanz über die
Fortdauer der Haft während des Beschwerdeverfahrens im Sinne von Art. 388 lit.
b StPO wenigstens superprovisorisch entscheiden kann.
Vor dem Hintergrund des Anspruchs des Beschuldigten auf unverzügliche
Freilassung gemäss Art. 226 Abs. 5 StPO muss die Staatsanwaltschaft ihre
Beschwerde vor dem Zwangsmassnahmengericht indessen unmittelbar nach Kenntnis
des Haftentlassungsentscheids ankündigen und im Anschluss daran schriftlich
einreichen. In der Beschwerde sind auch die notwendigen und unaufschiebbaren
verfahrensleitenden und vorsorglichen Massnahmen zu beantragen (Art. 388 StPO).
Aus diesen Erfordernissen ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft in Verfahren
nach Art. 225 Abs. 1 StPO persönlich vertreten sein muss und sich nicht mit
schriftlichen Anträgen begnügen kann (vgl. Art. 225 Abs. 3 StPO). Die
Ankündigung hat zur Folge, dass die Haft nach dem Freilassungsentscheid des
Zwangsmassnahmengerichts bis zur sofortigen Beschwerdeerhebung durch die
Staatsanwaltschaft fortbesteht. Um dem Erfordernis der unverzüglichen
Beschwerdeerhebung im Anschluss an die Ankündigung nachzukommen, muss die
Staatsanwaltschaft spätestens drei Stunden nach der Ankündigung beim
Zwangsmassnahmengericht eine (wenigstens kurz) begründete Beschwerdeschrift
einreichen und darin die Aufrechterhaltung der Haft beantragen. Diesfalls ist
das Zwangsmassnahmengericht gehalten, den Beschuldigten weiter in Haft zu
belassen und die Beschwerde mit dem Dossier und seiner allfälligen
Stellungnahme verzugslos der Beschwerdeinstanz zu übermitteln.

2.2.2 Ein analoges Verfahren sieht die Strafprozessordnung für die
Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft nach dem erstinstanzlichen
BGE 139 IV 314 S. 318
Urteil vor: Verfügt das Strafgericht die Freilassung des inhaftierten
Beschuldigten, so kann die Staatsanwaltschaft bei ihm zu Händen der
Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die Fortsetzung der Untersuchungshaft
beantragen (Art. 231 Abs. 2 Satz 1 StPO). Diesfalls bleibt der Beschuldigte bis
zum Entscheid der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts einstweilen in Haft (
Art. 231 Abs. 2 Satz 2 StPO). Diese Regelung gilt sowohl bei einem Freispruch
als auch bei einem Schuldspruch (Urteile 1B_525/2011 vom 13. Oktober 2011 E.
2.2 und 1B_600/2011 vom 7. November 2011 E. 2.1) und zielt ebenfalls auf eine
wirksame Wahrnehmung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft ab; sie
ermöglicht der Staatsanwaltschaft, die Freilassung eines Beschuldigten im
Hinblick auf die Einleitung eines Berufungsverfahrens einstweilen zu
verhindern. Voraussetzung ist auch in diesem Fall, dass die Staatsanwaltschaft
die Haftbelassung unverzüglich beantragt, was regelmässig ihre Anwesenheit bei
der Urteilseröffnung verlangt.

2.3

2.3.1 Diese Vorgehensweisen beziehen sich indessen auf die in der
Schweizerischen Strafprozessordnung geregelte Strafverfolgung durch die
Strafbehörden des Bundes und der Kantone (Art. 1 Abs. 1 StPO). Das
Bundesgericht ist, im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft und dem
Strafappellationshof, keine solche Strafbehörde (Art. 12 und 13 StPO e
contrario). Für das vorliegende Verfahren der Beschwerde in Strafsachen ist
allein das Bundesgerichtsgesetz massgeblich. Die Rechtsprechung zum
Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft nach der Strafprozessordnung ist damit
auf das Verfahren der Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht nicht
anwendbar, weil dieses auf einer anderen gesetzlichen Grundlage - dem
Bundesgerichtsgesetz - beruht. Sie lässt sich auch nicht ohne Weiteres darauf
übertragen, weil die beiden Verfahrensordnungen im Blick auf die
unterschiedlichen Aufgaben der Gerichte verschieden ausgestaltet sind. So ist
etwa die Kognition des Bundesgerichts in Bezug auf Tatsachenfeststellungen nach
Art. 97 Abs. 1 BGG eingeschränkt, währenddem den Strafbehörden im
Beschwerdeverfahren nach Art. 393 Abs. 2 StPO eine umfassende Prüfungsbefugnis
zukommt. Weiter ist dem Bundesgericht als oberster rechtsprechender Behörde des
Bundes (Art. 188 Abs. 1 BV) insbesondere aufgetragen, die einheitliche und
sachgerechte Anwendung des Bundesrechts zu gewährleisten. Die Beschwerde in
Strafsachen der Staatsanwaltschaft ist deshalb ausschliesslich nach den Regeln
des Bundesgerichtsgesetzes zu behandeln.
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2.3.2 Die Beschwerden nach dem Bundesgerichtsgesetz haben, von hier nicht
zutreffenden Ausnahmen abgesehen, keine aufschiebende Wirkung. Hingegen kann
der Instruktionsrichter von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei darüber
eine andere Anordnung treffen (Art. 103 BGG), allerdings erst nach Einreichung
einer Beschwerde (vgl. ULRICH MEYER, in: Basler Kommentar,
Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 8 und 28 zu Art. 103 BGG). Daraus
ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft die Freilassung eines Beschuldigten im
Anschluss an einen entsprechenden Entscheid des Berufungsgerichts in der Regel
nicht verhindern kann. Der Beschwerdegegner war denn auch bei Eingang der
Beschwerde in Strafsachen bereits aus der Haft entlassen worden. Damit war der
angefochtene Haftentlassungsentscheid der Strafappellationshofpräsidentin
vollzogen, die Frage eines Aufschubs stellt sich im Beschwerdeverfahren vor
Bundesgericht nicht.

2.3.3 In Frage kommt in einer solchen Konstellation der Erlass einer
vorsorglichen Massnahme durch den Instruktionsrichter. Dieser kann nach Art.
104 BGG von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei vorsorgliche Massnahmen
treffen, um den bestehenden Zustand zu erhalten oder bedrohte Interessen
einstweilen sicherzustellen.
Die vorsorgliche Massnahme bezweckt die Erhaltung des bestehenden Zustandes
bzw. den Schutz bedrohter Interessen für die Dauer des bundesgerichtlichen
Verfahrens; sie hat rein vorläufigen Charakter und fällt mit dem Endentscheid
ohne weiteres dahin. Mit dem Entscheid über die vorsorgliche Massnahme soll der
Endentscheid weder vorweggenommen noch präjudiziert werden. Gestützt auf ein
Begehren um Erlass vorsorglicher Massnahmen kann daher in der Regel nicht das
zugesprochen werden, was in der Hauptsache erreicht werden soll. So kann ein
Beschwerdeführer, der gegen die Fortführung der gegen ihn verhängten
Untersuchungs- oder Sicherheitshaft Beschwerde führt, in aller Regel nicht
erreichen, dass er für die Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens vorläufig
auf freien Fuss gesetzt wird (Urteil 1P.289/2004 vom 4. Juni 2004 E. 1).
Umgekehrt ist auch die Staatsanwaltschaft, die gegen die Haftentlassung eines
Untersuchungs- oder Sicherheitsgefangenen Beschwerde führt, grundsätzlich nicht
in der Lage, über eine vorsorgliche Massnahme die sofortige Wiederinhaftierung
des Entlassenen für die Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens zu erwirken.
Ein solche Anordnung könnte jedenfalls nur ausnahmsweise in besonders
gelagerten Fällen in Betracht fallen, wenn dies zum Schutz von unmittelbar
bedrohten,
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hochwertigen Interessen - etwa der öffentlichen Sicherheit bei gefährlichen
Gewalttätern - unabdingbar ist. Vorliegend braucht auf die Voraussetzungen zur
Annahme derartiger ausserordentlicher Fälle nicht näher eingegangen zu werden.
Eine solche Ausnahmesituation, die eine sofortige vorläufige Wiederinhaftierung
des wegen Betrugs und Vernachlässigung der Unterhaltspflicht verurteilten
Beschwerdegegners rechtfertigen könnte, liegt nicht vor.

2.3.4 Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz kein Bundesrecht verletzt, wenn sie
den Beschwerdegegner noch am Tag ihres Entscheids freigelassen hat, ohne der
Beschwerdeführerin vorher Gelegenheit zu geben, dies mit Beschwerde in
Strafsachen ans Bundesgericht zu verhindern. Die Beschwerde ist in diesem Punkt
unbegründet.