Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 282



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Urteilskopf

139 IV 282

43. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (Beschwerde in Strafsachen)
6B_712/2012 vom 26. September 2013

Regeste

Verbot der reformatio in peius; Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO.
Das Verschlechterungsverbot gemäss Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO ist nicht nur
bei einer Verschärfung der Sanktion, sondern auch bei einer härteren
rechtlichen Qualifikation der Tat verletzt. Dies ist der Fall, wenn der neue
Straftatbestand eine höhere Strafdrohung vorsieht, d.h. einen höheren oberen
Strafrahmen oder eine (höhere) Mindeststrafe, sowie bei zusätzlichen
Schuldsprüchen. Gleich verhält es sich, wenn der Verurteilte im
Berufungsverfahren für die vollendete Tat statt wegen Versuchs oder als
Mittäter anstatt als Gehilfe schuldig gesprochen wird (E. 2.5).
Massgeblich für die Frage, ob eine unzulässige reformatio in peius vorliegt,
ist das Dispositiv. Der Rechtsmittelinstanz ist es hingegen nicht untersagt,
sich in ihren Erwägungen zur rechtlichen Qualifikation zu äussern, wenn das
erstinstanzliche Gericht von einem anderen Sachverhalt oder falschen
rechtlichen Überlegungen ausging (E. 2.6).

Sachverhalt ab Seite 283

BGE 139 IV 282 S. 283

A.

A.a Das Kollegialgericht Emmental-Oberaargau sprach X. am 12. Mai 2011 der
Gehilfenschaft zu Diebstahl, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch, des
mehrfachen banden- und gewerbsmässigen Diebstahls sowie des Versuchs dazu, der
mehrfachen Sachbeschädigung, des mehrfachen Hausfriedensbruchs und der
mehrfachen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz (AuG) sowie das
Betäubungsmittelgesetz (BetmG) schuldig. Es auferlegte ihm eine Freiheitsstrafe
von 34 Monaten, unter Einbezug der mit Urteil der Préfecture du district de
Lavaux-Oron vom 7. Februar 2008 ausgesprochenen Geldstrafe von 10 Tagessätzen,
sowie eine Busse von Fr. 200.-. Zudem erklärte es die mit Urteil des
Kreisgerichts Thun vom 26. Juni 2008 bedingt ausgesprochene Freiheitsstrafe von
20 Monaten für vollziehbar. X. erhob gegen dieses Urteil Berufung.

A.b Das Obergericht des Kantons Bern befand X. am 14. Juni 2012 des Diebstahls,
des banden- und gewerbsmässigen Diebstahls sowie des Versuchs dazu, der
mehrfachen Sachbeschädigung, des mehrfachen Hausfriedensbruchs und der
mehrfachen Widerhandlung gegen das Ausländergesetz schuldig. Es verurteilte ihn
zu einer Freiheitsstrafe von 34 Monaten und erklärte die Strafe von 20 Monaten
gemäss Urteil des Kreisgerichts Thun vom 26. Juni 2008 für vollziehbar. Auf den
Widerruf der von der Préfecture du district de Lavaux-Oron am 7. Februar 2008
bedingt ausgesprochenen Geldstrafe von 10 Tagessätzen verzichtete es. Der
erstinstanzliche Schuldspruch wegen Widerhandlung gegen das
Betäubungsmittelgesetz und die Busse von Fr. 200.- erwuchsen unangefochten in
Rechtskraft.

B. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, ihn vollumfänglich
freizusprechen. Eventualiter sei seine Beteiligung an den Straftaten als
Gehilfenschaft zu werten und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen. Subeventualiter sei die Strafe zu mildern und vom Widerruf
abzusehen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
BGE 139 IV 282 S. 284

C. Das Obergericht beantragte die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf
einzutreten sei. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf eine Stellungnahme.

D. Das Bundesgericht fällt sein Urteil in einer öffentlichen Sitzung und heisst
die Beschwerde teilweise gut.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe ihn bezüglich des
Einbruchdiebstahls vom 21. Mai 2009 in Verletzung von Art. 391 Abs. 2 StPO
wegen Mittäterschaft verurteilt, obschon erstinstanzlich lediglich ein
Schuldspruch wegen Gehilfenschaft ergangen sei. Das Verbot der reformatio in
peius sei auch bei einem klar verwerflicheren Schuldspruch verletzt.

2.2 Die Vorinstanz argumentiert in ihrer Vernehmlassung, das Verbot der
reformatio in peius gelte nach der einheitlichen Lehre und Praxis allein für
die zu verhängende Sanktion.

2.3

2.3.1 Das Berufungsgericht ist, ausser wenn es Zivilklagen beurteilt, nicht an
die Anträge der Parteien gebunden (Art. 391 Abs. 1 lit. b StPO). Dieser
Grundsatz wird in zweifacher Hinsicht eingeschränkt: Einerseits hat das
Berufungsgericht nur die angefochtenen Punkte des erstinstanzlichen Urteils zu
überprüfen (Art. 404 Abs. 1 StPO), anderseits hat es das in Art. 391 Abs. 2
StPO verankerte Verbot der reformatio in peius zu beachten (Botschaft vom 21.
Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1311 zu
Art. 399). Danach darf die Rechtsmittelinstanz Entscheide nicht zum Nachteil
der beschuldigten oder verurteilten Person abändern, wenn das Rechtsmittel nur
zu deren Gunsten ergriffen worden ist (Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO).
Vorbehalten bleibt eine strengere Bestrafung aufgrund von Tatsachen, die dem
erstinstanzlichen Gericht nicht bekannt sein konnten (Art. 391 Abs. 2 Satz 2
StPO). Das Verbot der reformatio in peius zählt nicht zu den
verfassungsmässigen Rechten und lässt sich nicht aus der EMRK herleiten (vgl.
Urteile 6B_332/2009 vom 4. August 2009 E. 4.2; 6B_411/2007 vom 2. November 2007
E. 1.3). Der Grundsatz war jedoch bereits vor Inkrafttreten der StPO in den
meisten kantonalen Strafprozessordnungen verankert (vgl. BBl 2006 1311; GILBERT
KOLLY, Zum Verschlechterungsverbot im schweizerischen Strafprozess, ZStrR 113/
1995 S. 296). Die Wirkung des Verschlechterungsverbots war allerdings von
unterschiedlicher Tragweite. Die kantonalen
BGE 139 IV 282 S. 285
Gesetzesbestimmungen sahen zum Teil ausdrücklich vor, dass sich das Verbot nur
auf die Strafe, nicht jedoch auf den Schuldspruch bezog. Andere Kantone
präzisierten in ihrer Gesetzgebung nicht, was unter einer verbotenen
Verschlechterung zu verstehen war (dazu KOLLY, a.a.O., S. 309 f. mit
Nachweisen; vgl. auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, Schweizerisches
Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2005, N. 5 f. S. 478). In diesen Kantonen wurde
teilweise die Meinung vertreten, das Verbot der reformatio in peius sei auch
bei einer schwereren rechtlichen Qualifikation der Tat verletzt (HAUSER/SCHWERI
/HARTMANN, a.a.O., N. 6 S. 478; STEFAN WEHRLE, Das Risiko der reformatio in
peius - trotz Verbot, in: Risiko und Recht, Festgabe zum Schweizerischen
Juristentag 2004, 2004, S. 618 ff.). Die zwei unterschiedlichen Konzepte des
Verbots der reformatio in peius finden sich auch im internationalen Vergleich:
Deutschland (§ 331 Abs. 1 StPO/D), Österreich (§ 290 Abs. 2 StPO/A) und Italien
(Art. 597 Ziff. 3 StPO/I) beispielsweise umschreiben das
Verschlechterungsverbot in ihrer Gesetzgebung eng, während die Praxis in
Frankreich eine weite Auslegung kennt (vgl. KOLLY, a.a.O., S. 310 mit
Nachweisen). Im bundesgerichtlichen Verfahren ergab sich das Verbot der
reformatio in peius aus der Bindung des Bundesgerichts an die Anträge der
Parteien (BGE 111 IV 51 E. 2; Urteil 6B_411/2007 vom 2. November 2007 E. 1.3).

2.3.2 Die Auslegung von Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO ist umstritten. Im
Schrifttum wird einerseits die Auffassung vertreten, die Bestimmung beziehe
sich nur auf die zu verhängende Sanktion (NIKLAUS SCHMID, Schweizerische
Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, N. 3 zu Art. 391 StPO; NIKLAUS
OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2012, N. 1635 S. 577).
Nach anderen Autoren ist auch eine schärfere rechtliche Qualifikation der Tat
untersagt (HANS MATHYS, Erstinstanzliches Hauptverfahren - Berufungsverfahren,
in: Schweizerische Strafprozessordnung, Tag/Hauri [Hrsg.], 2010, S. 141; VIKTOR
LIEBER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch/
Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2010, N. 12 zu Art. 391 StPO; GOLDSCHMID/MAURER/
SOLLBERGER, Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung
[...], 2008, S. 384; MARTIN ZIEGLER, in: Basler Kommentar, Schweizerische
Strafprozessordnung, 2011, N. 3 zu Art. 391 StPO; RICHARD CALAME, in:
Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 8 zu Art. 391
StPO).

2.3.3 Das Bundesgericht legte sich in seiner bisherigen Rechtsprechung auf
keine Auslegung des Verbots der reformatio in peius fest.
BGE 139 IV 282 S. 286
Es hatte sich vor Inkrafttreten der StPO namentlich mit § 399 der
Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO/ ZH) zu befassen,
der sich nicht explizit zur Tragweite des Verbots aussprach. Die Bestimmung
untersagte im Rechtsmittelverfahren eine Abänderung des Urteils zuungunsten des
Angeklagten, sofern nicht auch die Gegenpartei das Rechtsmittel ergriffen hatte
(§ 399 StPO/ZH). Gemäss der zürcherischen Rechtsprechung verstösst eine
Abänderung des Schuldspruchs ohne Verschärfung des Strafmasses nicht gegen §
399 StPO/ZH, was vom Bundesgericht als mit dem Willkürverbot vereinbar
angesehen wurde. Es erwog, diese Auffassung entspreche einer in Literatur und
Rechtsprechung verbreiteten Meinung. Sie widerspreche weder dem Wortlaut von §
399 StPO/ ZH noch seinem offensichtlichen Sinn und Zweck (Urteil 1P.338/2000
vom 23. Oktober 2000 E. 2c; bestätigt in Urteil 6B_199/2011 vom 10. April 2012
E. 8.3.2). Da das Bundesgericht die Auslegung des kantonalen Strafprozessrechts
nur auf Willkür überprüfte, ist nicht ausgeschlossen, dass eine andere
Interpretation ebenfalls vertretbar oder gar vorzuziehen gewesen wäre (vgl. zum
Willkürbegriff BGE 138 IV 13 E. 5.1; BGE 137 I 1 E. 2.4).

2.4

2.4.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der
Text nicht klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, muss unter
Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite gesucht
werden. Abzustellen ist namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm
(historische Auslegung) und ihren Zweck (teleologische Auslegung) sowie auf die
Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt
(systematische Auslegung). Das Bundesgericht hat sich bei der Auslegung von
Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und nur allein auf
den Wortlaut abgestellt, wenn sich daraus zweifelsfrei die sachlich richtige
Lösung ergab. Sind mehrere Interpretationen denkbar, soll jene gewählt werden,
welche die verfassungsrechtlichen Vorgaben am besten berücksichtigt (BGE 137 II
164 E. 4.1 mit Hinweis). Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar
entscheidend, dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen.
Namentlich bei neueren Texten kommt den Materialien - bei noch kaum veränderten
Umständen oder gewandeltem Rechtsverständnis - eine besondere Stellung zu (BGE
136 V 216 E. 5.1 und 5.3.1; BGE 135 V 153 E. 4.1).

2.4.2 Art. 459 Abs. 2 lit. a des Vorentwurfs zur StPO bestimmte ausdrücklich,
dass lediglich eine schwerere Bestrafung, nicht aber z.B.
BGE 139 IV 282 S. 287
eine Schuldigsprechung wegen eines schwereren Delikts untersagt sein sollte
(vgl. Begleitbericht zum Vorentwurf für eine Schweizerische
Strafprozessordnung, 2001, S. 260; WEHRLE, a.a.O., S. 619). Diese Einschränkung
des Verbots der reformatio in peius wurde im Vernehmlassungsverfahren von
mehreren Vernehmlassern kritisiert (vgl. Zusammenfassung der Ergebnisse des
Vernehmlassungsverfahrens über die Vorentwürfe zu einer Schweizerischen
Strafprozessordnung und zu einem Bundesgesetz über das Schweizerische
Jugendstrafverfahren, Bericht des Bundesamtes für Justiz, Februar 2003, S. 83).
Der Wortlaut von Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO lässt demgegenüber beide
Auslegungen zu (LIEBER, a.a.O., N. 12 zu Art. 391 StPO). Art. 391 Abs. 2 Satz 1
StPO entspricht § 399 StPO/ZH (MATHYS, a.a.O., S. 141), der eine enge Auslegung
erfuhr (vgl. NIKLAUS SCHMID, Strafprozessrecht, 4. Aufl. 2004, N. 985 ff. S.
371 f. mit Hinweisen; Urteil 1P.338/2000 vom 23. Oktober 2000 E. 2; oben E.
2.3.3). Die bundesrätliche Botschaft spricht sich allerdings klar für die
gegenteilige Lösung aus. Danach schützt die Bestimmung von Art. 391 Abs. 2 Satz
1 StPO die verurteilte Person nicht nur gegen eine strengere Verurteilung, d.h.
gegen eine Verschärfung der im Urteilsdispositiv verhängten Sanktion und die
Wahl einer anderen, strengeren Sanktionsart, sondern auch gegen eine Abänderung
der ursprünglichen juristischen Qualifikation der Tatsachen in eine strengere
Qualifikation (BBl 2006 1311). Art. 391 Abs. 2 Satz 1 StPO und der Hinweis in
der bundesrätlichen Botschaft gaben anlässlich der parlamentarischen Beratungen
zu keinen Diskussionen Anlass, obschon die Frage der engen oder weiten
Auslegung des Verbots der reformatio in peius im Vernehmlassungsverfahren zur
Sprache kam, der Bundesrat bewusst vom Vorentwurf abwich und die Problematik
bereits früher in Lehre und Rechtsprechung diskutiert worden war. Mangels
gegenteiliger Anhaltspunkte ist daher davon auszugehen, dass der Gesetzgeber
die weite Auslegung bevorzugte.

2.4.3 Zu keinem anderen Ergebnis führt die teleologische Auslegung. Der Sinn
des Verbots der reformatio in peius besteht darin, dass der Angeklagte nicht
durch die Befürchtung, strenger angefasst zu werden, von der Ausübung eines
Rechtsmittels abgehalten werden soll (WEHRLE, a.a.O., S. 621; KOLLY, a.a.O., S.
298; NICOLAUS BERNOULLI, Das Verbot der reformatio in peius im schweizerischen
Strafprozessrecht, 1953, S. 9 und 54 ff.). Durch die Verurteilung zu einer
schwerer eingestuften Straftat erhöht sich der Schuldvorwurf, was per se eine
Schlechterstellung bewirkt (WEHRLE, a.a.O., S. 622). Mündet das
Rechtsmittelverfahren in einen Schuldspruch wegen
BGE 139 IV 282 S. 288
einer verwerflicheren Tat, leidet darunter auch der Leumund der betroffenen
Person. Zu denken ist beispielsweise an eine Verurteilung wegen vorsätzlicher
anstelle der ursprünglichen fahrlässigen Körperverletzung oder Tötung. Daneben
kann eine Umqualifikation einer Übertretung in ein Verbrechen oder Vergehen
konkrete Nachteile wie einen Eintrag im Strafregister (vgl. Art. 366 Abs. 2
lit. a StGB; Art. 3 und 9 der Verordnung vom 29. September 2006 über das
Strafregister [SR 331]) nach sich ziehen (vgl. WEHRLE, a.a.O., S. 623).
Schlechterstellungen dieser Art können den Rechtsuchenden davon abhalten, ein
Rechtsmittel einzulegen.

2.4.4 Das Verbot der reformatio in peius steht im Widerspruch zum Prinzip der
materiellen Wahrheit (BERNOULLI, a.a.O., S. 57 f.). Der Gesetzgeber wollte die
materielle Wahrheit in der StPO mit der Möglichkeit der Revision zuungunsten
der beschuldigten Person (Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO; BBl 2006 1319 zu Art.
417 Abs. 1) auf Kosten des Verschlechterungsverbots privilegieren. In die
gleiche Richtung geht der Vorbehalt in Art. 391 Abs. 2 Satz 2 StPO zum Verbot
der reformatio in peius. Der Gesetzgeber knüpfte jedoch sowohl die Revision
zuungunsten der beschuldigten Person als auch den Vorbehalt von Art. 391 Abs. 2
Satz 2 StPO an bestimmte Voraussetzungen. Der Grundsatz der materiellen
Wahrheit ist auch in anderer Hinsicht nicht absolut. Er wird durch verschiedene
strafprozessuale Institutionen wie etwa die gesetzlichen
Beweisverwertungsverbote eingeschränkt, die zu inhaltlich falschen Entscheiden
führen können. Auch die systematische Auslegung spricht folglich nicht gegen
ein weites Verständnis des Verbots der reformatio in peius von Art. 391 Abs. 2
Satz 1 StPO.

2.5 Eine Verletzung des Verschlechterungsverbots liegt entsprechend dem
gesetzgeberischen Willen daher nicht nur bei einer Verschärfung der Sanktion,
sondern auch bei einer härteren rechtlichen Qualifikation der Tat vor. Dies ist
der Fall, wenn der neue Straftatbestand eine höhere Strafdrohung (ZIEGLER,
a.a.O., N. 3 zu Art. 391 StPO; a.M. CALAME, a.a.O., N. 8 und 9 zu Art. 391 StPO
, wonach mit dem neuen Schuldspruch auch eine Verschärfung der früheren
Qualifikation als Übertretung bzw. als Vergehen einhergehen muss) vorsieht,
d.h. einen höheren oberen Strafrahmen oder eine (höhere) Mindeststrafe, sowie
bei zusätzlichen Schuldsprüchen. Gleich verhält es sich, wenn der Verurteilte
im Berufungsverfahren für die vollendete Tat statt wegen Versuchs (MATHYS,
a.a.O., S. 141; CALAME, a.a.O., N. 8 zu Art. 391 StPO) oder als Mittäter
anstatt als Gehilfe verurteilt wird, da ein fakultativer bzw. obligatorischer
BGE 139 IV 282 S. 289
Strafmilderungsgrund wegfällt. Ob dies auch für die Teilnahmeform der
Anstiftung oder andere Strafmilderungsgründe gilt, braucht an dieser Stelle
nicht beantwortet zu werden.

2.6 Massgeblich für die Frage, ob eine unzulässige reformatio in peius
vorliegt, ist das Dispositiv (Urteil 6B_199/2011 vom 10. April 2012 E. 8.3.2).
Der Rechtsmittelinstanz ist es hingegen nicht untersagt, sich in ihren
Erwägungen zur rechtlichen Qualifikation zu äussern, wenn das erstinstanzliche
Gericht von einer abweichenden Sachverhaltswürdigung oder falschen rechtlichen
Überlegungen ausging (vgl. CALAME, a.a.O., N. 9 zu Art. 391 StPO; WEHRLE,
a.a.O., S. 624 f.). Entscheidend ist, dass sich dies im Dispositiv nicht in
einem schärferen Schuldspruch niederschlägt und auch nicht zu einer härteren
Strafe führt, wenn ausschliesslich die beschuldigte oder verurteilte Person ein
Rechtsmittel ergriff.

2.7 Nicht zu beanstanden ist unter dem Gesichtspunkt des
Verschlechterungsverbots, wenn die Vorinstanz in ihren Erwägungen darauf
hinweist, dass der Beschwerdeführer ihrer Auffassung nach am Einbruchdiebstahl
vom 21. Mai 2009 in N. direkt beteiligt war. Sie konnte diesem Umstand bei der
beantragten Reduktion des Strafmasses Rechnung tragen. Dies durfte sich aber
nicht auf den Schuldspruch auswirken, da der Beschwerdeführer in diesem Punkt
erstinstanzlich wegen blosser Gehilfenschaft verurteilt wurde und die
Staatsanwaltschaft weder Berufung noch Anschlussberufung erhob. Indem die
Vorinstanz es bezüglich des Einbruchdiebstahls vom 21. Mai 2009 nicht bei der
Verurteilung wegen Gehilfenschaft zu Diebstahl belässt, sondern den
Beschwerdeführer wegen Diebstahls schuldig spricht, verletzt sie Art. 391 Abs.
2 Satz 1 StPO. Die Rüge des Beschwerdeführers ist begründet.