Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 233



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Urteilskopf

139 IV 233

33. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
6B_513/2012 vom 24. Juni 2013

Regeste

Abgekürztes Verfahren (Art. 358 ff. StPO).
Ein Urteil im abgekürzten Verfahren setzt voraus, dass die beschuldigte Person
ihr Geständnis in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bestätigt. Das
gerichtliche Bestätigungsverfahren ist einer der Schutzmechanismen dieses
speziellen Verfahrens. Die Möglichkeit, dass die beschuldigte Person ihre
Zustimmung zur Anklageschrift widerruft, ist hinzunehmen, wenn sich das Gericht
nicht persönlich davon überzeugen kann, dass sie den angeklagten Sachverhalt
anerkennt (E. 2.5 und 2.6).

Sachverhalt ab Seite 233

BGE 139 IV 233 S. 233

A. Das Bezirksgericht Zürich sprach X. im abgekürzten Verfahren der mehrfachen
qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig und
verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies die von X. erhobene Berufung mit
Beschluss ab.

B. X. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, der Beschluss des
Obergerichts und das Urteil des Bezirksgerichts seien aufzuheben. Die Akten
seien an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung
BGE 139 IV 233 S. 234
des ordentlichen Verfahrens zurückzuweisen. Eventualiter sei der angefochtene
Beschluss aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an das Obergericht
zurückzuweisen. X. ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.

C. Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichten
auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zur neuen
Entscheidung an die Vorinstanz zurück.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 362 Abs. 5 i.V.m. Art.
361 Abs. 2 StPO. Obwohl er sich an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung auf
sein Aussageverweigerungsrecht berufen habe, nehme die Vorinstanz an, es habe
seinerseits eine gültige Zustimmung zur Anklageschrift vorgelegen. Diese
umfasse nach Art. 362 Abs. 5 StPO begriffsnotwendig die Anerkennung des
Anklagesachverhalts. Gemäss Art. 361 Abs. 2 StPO befrage das Gericht die
beschuldigte Person an der Hauptverhandlung und stelle fest, ob sie den
Sachverhalt anerkenne, welcher der Anklage zugrunde liege und ob diese
Erklärung mit der Aktenlage übereinstimme. Der Wortlaut dieser Bestimmung lasse
nur den Schluss zu, dass die beschuldigte Person den Anklagesachverhalt an der
Hauptverhandlung anerkennen, mithin ihr bereits abgelegtes Geständnis vor dem
Gericht wiederholen müsse. Lege die beschuldigte Person kein erneutes
Geständnis ab, seien die Voraussetzungen für ein Urteil im abgekürzten
Verfahren nicht erfüllt. Anerkenne diese an der Hauptverhandlung den
Sachverhalt nicht, sei es durch Widerruf des Geständnisses oder durch
Aussageverweigerung, seien die Akten an die Staatsanwaltschaft zur Durchführung
eines ordentlichen Vorverfahrens zurückzuweisen. Der Schluss der Vorinstanz,
die Aussageverweigerung sei anders zu behandeln, als ein ausdrücklicher
Widerruf des Geständnisses, sei nicht nachvollziehbar. In beiden Fällen könne
das Gericht nicht feststellen, ob diese "Erklärung" mit der Aktenlage (Art. 361
Abs. 2 lit. b StPO) übereinstimme und die Anklage stimme nicht mit dem Ergebnis
der Hauptverhandlung überein (Art. 362 Abs. 1 lit. b StPO).

2.2 Die Vorinstanz hält fest, der Beschwerdeführer habe an der
staatsanwaltschaftlichen Einvernahme den Sachverhalt und dessen
BGE 139 IV 233 S. 235
rechtliche Würdigung gemäss Anklageschrift anerkannt. Sein Verteidiger habe ihm
das abgekürzte Verfahren zuvor erläutert. Nach dem Aushandeln und der
Besprechung des Urteilsvorschlags der Staatsanwaltschaft habe der
Beschwerdeführer zugestimmt und das abgekürzte Verfahren beantragt. In der
Folge sei die schriftliche Bestätigung erfolgt. Nach der Ansetzung der
Hauptverhandlung durch die erste Instanz, habe der Verteidiger den Staatsanwalt
informiert, der Beschwerdeführer wolle das Risiko einer höheren als der
vereinbarten Strafe eingehen, um im ordentlichen Verfahren eine tiefere Strafe
zu erwirken. Deshalb ersuche er darum, die Anklage zurückzuziehen. Sodann habe
der Verteidiger der ersten Instanz mitgeteilt, der Beschwerdeführer sei mit dem
Urteilsvorschlag nicht mehr einverstanden und werde an der Verhandlung
vermutlich sein Geständnis widerrufen. An der Hauptverhandlung habe der
Beschwerdeführer bestätigt, den Anklagesachverhalt im Vorverfahren anerkannt zu
haben. Heute wisse er jedoch nicht, was er sagen solle. Nachdem er auf das
Aussageverweigerungsrecht hingewiesen worden sei, habe er von weiteren Aussagen
abgesehen.
Die Vorinstanz erwägt, den dem Gericht obliegenden Prüfungspflichten gemäss
Art. 362 Abs. 1 StPO könne auch Genüge getan werden, ohne dass die beschuldigte
Person an der Hauptverhandlung aussage. Deren einlässliche Äusserung an der
Verhandlung sei nicht notwendig, sofern sich das Gericht anderweitig davon
überzeugen könne, dass das - im Vorverfahren vorbehaltlos erfolgte - Geständnis
plausibel sei. Die erste Instanz habe den Beschwerdeführer zur Frage der
Anerkennung des Sachverhalts befragt, nur habe sich dieser auf das
Aussageverweigerungsrecht berufen. Die Aussageverweigerung als Teil des
Aussageverhaltens des Beschuldigten würdigend, könne das Gericht zum Schluss
kommen, diese Erklärung ergebe zusammen mit den Akten ein schlüssiges Bild und
die Anklage stimme mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung sowie den Akten
überein. Der Beschwerdeführer habe nicht etwa das Geständnis widerrufen,
sondern lediglich die Aussage verweigert. Sinn und Zweck des abgekürzten
Verfahrens liessen es als nicht sachgerecht erscheinen, dass ein Beschuldigter
dieses Verfahren allein durch eine Aussageverweigerung an der Hauptverhandlung
zu Fall bringen könne. Dem Verhalten des Beschwerdeführers - zumal in
Kombination mit den Äusserungen des Verteidigers - könne entnommen werden, dass
er das abgekürzte Verfahren aufheben, nicht aber auf den in Bezug auf die
Strafzumessung erheblichen
BGE 139 IV 233 S. 236
Vorteil des Geständnisses verzichten wolle. Er habe sich die Sache nach der
Zustimmung zur Anklageschrift anders überlegt und wolle nicht mehr daran
gebunden sein, weil er die ausgehandelte Strafe als zu hoch empfinde. Dem stehe
aber Art. 360 Abs. 2 letzter Satz StPO entgegen, der ins Gesetz aufgenommen
worden sei, um Missbräuche zwecks Verfahrensverzögerung zu verhindern.

2.3 Gemäss Art. 358 Abs. 1 StPO kann die beschuldigte Person der
Staatsanwaltschaft bis zur Anklageerhebung die Durchführung des abgekürzten
Verfahrens beantragen, wenn sie den Sachverhalt, der für die rechtliche
Würdigung wesentlich ist, eingesteht und die Zivilansprüche zumindest im
Grundsatz anerkennt. Die Anklageschrift enthält im abgekürzten Verfahren unter
anderem den Hinweis an die Parteien, dass sie mit der Zustimmung zur
Anklageschrift auf ein ordentliches Verfahren und auf Rechtsmittel verzichten (
Art. 360 Abs. 1 lit. h StPO). Die Staatsanwaltschaft eröffnet die
Anklageschrift den Parteien, welche innert zehn Tagen zu erklären haben, ob sie
ihr zustimmen oder sie ablehnen. Die Zustimmung ist unwiderruflich (Art. 360
Abs. 2 StPO; vgl. NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung [StPO],
Praxiskommentar [nachfolgend: Praxiskommentar], 2009, N. 11 zu Art. 360 StPO
der in Anbetracht der gerichtlichen Überprüfung der Stichhaltigkeit der
Anerkennungvon einer relativen Unwiderruflichkeit ausgeht; derselbe, Handbuch
des schweizerischen Strafprozessrechts [nachfolgend: Handbuch], 2009, S. 632 N.
1382; gl.M. JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2013, S. 436 N. 17069).
Mit der Unwiderruflichkeit der Zustimmung soll sichergestellt werden, dass die
beschuldigte Person das abgekürzte Verfahren nicht zur Verfahrensverzögerung
missbrauchen kann, indem sie zunächst eine Absprache erzielt, diese aber in
letzter Minute ablehnt (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung
des Strafprozessrechts [nachfolgend: Botschaft StPO], BBl 2006 1296 zu Art.
367).
Mit der Berufung gegen ein Urteil im abgekürzten Verfahren kann eine Partei nur
geltend machen, sie habe der Anklageschrift nicht zugestimmt oder das Urteil
entspreche dieser nicht (Art. 362 Abs. 5 StPO). Die beschränkte
Rechtsmittelmöglichkeit hängt mit dem summarischen Charakter des abgekürzten
Verfahrens zusammen. Da die Parteien der Anklageschrift im Wissen um die Folgen
zustimmen, ist die Beschränkung der Berufungsgründe rechtsstaatlich akzeptabel
(Botschaft StPO, BBl 2006 1297 zu Art. 369 Abs. 4; NIKLAUS SCHMID, Handbuch, S.
635 N. 1389; BERTRAND PERRIN, in: Commentaire
BGE 139 IV 233 S. 237
romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 14 zu Art. 362 StPO). Der
Berufungsgrund der fehlenden Zustimmung einer Partei zur Anklageschrift hat den
Fall im Auge, in welchem das Gericht trotz fehlender Zustimmung ein Urteil im
abgekürzten Verfahren fällt (BERTRAND PERRIN, a.a.O., N. 15 zu Art. 362 StPO;
KUHN/PERRIER, Quelques points problématiques du Code de procédure pénale
suisse, Jusletter vom 22. September 2008 Rz. 28; ALINE BREGUET, La procédure
simplifiée dans le CPP: un réel progrès?, Jusletter vom 16. März 2009 Rz. 67).
Damit ist gemeint, dass Staatsanwaltschaft und Gericht zu Unrecht die
Zustimmung einer Partei nach Art. 387 VE (d.h. Art. 360 Abs. 2 StPO) bejaht
hätten (Begleitbericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom
Juni 2001 zum Vorentwurf für eine Schweizerische Strafprozessordnung, S. 235
[nachfolgend: Begleitbericht]). Es stellt sich die Frage, ob Willensmängel der
an sich erfolgten Zustimmung durch diesen Berufungsgrund abgedeckt sind
(GREINER/JAGGI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011,
N. 43 ff. zu Art. 362 StPO und N. 22 f. zu Art. 360 StPO; KUHN/PERRIER, a.a.O.,
Rz. 29; BERTRAND PERRIN, a.a.O., N. 16 zu Art. 362 StPO; DONATSCH/FREI, Die
Prüfungspflichten des Gerichts beim abgekürzten Verfahren, in: "Toujours agité
- jamais abattu", Festschrift für Hans Wiprächtiger, 2011, S. 80 f.). Verwehrt
ist die Rüge der beschuldigten Person, sie habe dem abgekürzten Verfahren zwar
zugestimmt, sei aber in Wirklichkeit nicht geständig, der Sachverhalt sei nicht
bewiesen oder der Tatbestand nicht erfüllt (Botschaft StPO, BBl 2006 1297 zu
Art. 369 Abs. 4; in Bezug auf das Geständnis differenzierend MIRIAM MAZOU, La
procédure simplifiée dans le nouveau Code de procédure pénale: principes et
difficultés, ZStrR 129/2011 S. 13 f. und 19, welche für die Zulassung der
Berufung unterscheidet, ob die beschuldigte Person ihr Geständnis bereits an
der Hauptverhandlung widerruft oder erst nach der Verhandlung vorbringt, sie
lehne die Anklageschrift ab; sinngemäss gl.M. MOREILLON/PAREIN-REYMOND, CPP,
Code de procédure pénale, CPP, 2013, N. 11 zu Art. 361 StPO).

2.4 Der Beschwerdeführer macht nicht geltend und gemäss Vorinstanz ist auch
nicht ersichtlich, dass das Urteil nicht der Anklageschrift entspräche.
Unbestritten ist, dass das abgekürzte Verfahren gesetzeskonform eingeleitet
wurde. Der Beschwerdeführer anerkannte im Vorverfahren den der Anklage zugrunde
liegenden und mit der Aktenlage übereinstimmenden Sachverhalt. Er bestätigte,
der Anklageschrift im abgekürzten Verfahren unwiderruflich
BGE 139 IV 233 S. 238
zuzustimmen und auf Rechtsmittel zu verzichten. Er macht nicht geltend, er habe
sich bei dieser Erklärung in einem Irrtum befunden. Inwiefern die Berufung
gegen ein Urteil im abgekürzten Verfahren im Falle eines Willensmangels
zulässig ist, kann vorliegend offenbleiben. Der Beschwerdeführer stellt sich
aber auf den Standpunkt, es mangle an seiner Zustimmung zur Anklageschrift,
weil er sich an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung auf sein
Aussageverweigerungsrecht berufen habe. Daher fehle es an der Erneuerung seiner
Anerkennung des Sachverhalts.

2.5 Das Bundesgericht hat sich bislang noch nicht dazu geäussert, ob ein Urteil
im abgekürzten Verfahren voraussetzt, dass die beschuldigte Person ihr
Geständnis in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bestätigt.

2.5.1 Gemäss Art. 361 Abs. 1 und 2 StPO führt das erstinstanzliche Gericht eine
Hauptverhandlung durch, an welcher es die beschuldigte Person befragt und
feststellt, ob diese den Sachverhalt anerkennt, welcher der Anklage zu Grunde
liegt, und ob diese Erklärung mit der Aktenlage übereinstimmt. Wenn nötig
befragt es auch die übrigen anwesenden Personen. Ein Beweisverfahren findet
indes nicht statt (Art. 361 Abs. 3 und 4 StPO). Soweit beim abgekürzten
Verfahren keine besonderen Vorschriften bestehen, namentlich zur
Hauptverhandlung, sind die allgemeinen Regeln anwendbar (vgl. Begleitbericht S.
231; BERTRAND PERRIN, a.a.O., N. 3 zu Art. 361 StPO; JO PITTELOUD, Code de
procédure pénale suisse [CPP], 2012, S. 705 N. 1035; GREINER/JAGGI, a.a.O., N.
3 zu Art. 361 StPO; JOHN NOSEDA, in: Codice svizzero di procedura penale [CPP],
2010, N. 10 zu Art. 358 StPO; NIKLAUS SCHMID, Praxiskommentar, N. 1 zu Art. 361
StPO; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung [StPO], 2010, N. 1 zu Art. 361 StPO). Das Gericht befindet
frei darüber, ob (a) die Durchführung des abgekürzten Verfahrens rechtmässig
und angebracht ist, (b) die Anklage mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und
den Akten übereinstimmt und (c) die beantragten Sanktionen angemessen sind (
Art. 362 Abs. 1 StPO).

2.5.2 Der Botschaft lässt sich nicht entnehmen, ob das Gericht die ihm
obliegenden Prüfungspflichten hinreichend wahrnehmen kann, wenn die
beschuldigte Person an der Hauptverhandlung zwar anwesend ist, aber schweigt
(Botschaft StPO, BBl 2006 1294 ff. Ziff. 2.8.3).
BGE 139 IV 233 S. 239

2.5.3 Nach GREINER/JAGGI kann sich das Gericht bei der Befragung der
beschuldigten Person an der erstinstanzlichen Verhandlung vergewissern, dass
die Anklageschrift tatsächlich auf dem freien Willen sämtlicher Beteiligter
beruht. Die Befragung stelle ein wesentliches Element der Schutzfunktion des
gerichtlichen Bestätigungsverfahrens dar. Das Gericht müsse sichergehen, ob
überhaupt ein Geständnis vorliege und ob es sämtliche zur Anklage gebrachten
Sachverhalte abdecke. Sodann müsse es sich versichern, dass die Erklärung,
welche die beschuldigte Person in der Verhandlung abgebe, mit der Aktenlage
übereinstimme. Die Autoren sind der Auffassung, die Befragung der beschuldigten
Person sei unabdingbar, weil das Gericht im Rahmen der Hauptverhandlung klären
müsse, ob diese den Sachverhalt anerkenne, welcher der Anklage zugrunde liege.
Ohne Befragung könne das Gericht seiner Prüfungspflicht kaum nachkommen,
weshalb ein abgekürztes Verfahren in Abwesenheit der beschuldigten Person nicht
möglich scheine (a.a.O., N. 11 ff. und 19 zu Art. 361 StPO mit Hinweisen; gl.M.
mit eingehender Begründung FALLER/REYMOND/VUILLE, Une procédure simplifiée au
sens des art. 358 ss CPP peut-elle se dérouler par défaut?, ZStR 130/2012 S. 87
ff.; ebenso STEFAN CHRISTEN, Anwesenheitsrecht im schweizerischen
Strafprozessrecht mit einem Exkurs zur Vorladung, 2010, S. 224 lit. c; gl.M.
JEANNERET/KUHN, a.a.O., S. 436 N. 17072; MOREILLON/PAREIN-REYMOND, a.a.O., N. 6
zu Art. 361 StPO; JOHN NOSEDA, a.a.O., N. 2 zu Art. 361 StPO; JO PITTELOUD,
a.a.O., S. 706 N. 1036; BERTRAND PERRIN, a.a.O., N. 14 ff. zu Art. 361 StPO;
a.M. NIKLAUS SCHMID, Praxiskommentar, N. 3 zu Art. 361 StPO; derselbe,
Handbuch, S. 633 Fn. 87; wahrscheinlich auch a.M. CHRISTIAN SCHWARZENEGGER,
a.a.O., N. 4 zu Art. 361 StPO). GREINER/JAGGI erachten eine Dispensation der
beschuldigten Person höchstens in absoluten Ausnahmefällen als denkbar (a.a.O.,
N. 20 zu Art. 361 StPO mit Hinweis; gl.M. JO PITTELOUD, a.a.O., S. 706 N. 1036;
FALLER/REYMOND/VUILLE, a.a.O., S. 91, plädieren für eine grosszügige Zulassung
von Dispensationen).

2.5.4 SVEN ZIMMERLIN nimmt an, aufgrund des erforderlichen Geständnisses der
beschuldigten Person setze das abgekürzte Verfahren deren Verzicht auf das
Aussageverweigerungsrecht voraus. Das Gericht habe zu prüfen, ob die
Voraussetzungen des abgekürzten Verfahrens vorliegen. Indem die beschuldigte
Person die Anerkennung des Sachverhalts zurücknehme, könne sie ein ordentliches
Verfahren erzwingen. Voraussetzung für die Gültigkeit der
BGE 139 IV 233 S. 240
abgegebenen Verzichtserklärungen der beschuldigten Person sei die strikte
Einhaltung der gesetzlichen Formalien. Dazu gehöre neben der Bestellung eines
amtlichen Verteidigers sowohl die Unterrichtung der beschuldigten Person über
die Bedeutung ihrer Zustimmung zur Anklageschrift als auch die gerichtliche
Kontrolle des Geständnisses bzw. der Anerkennung des Sachverhalts (inkl. deren
Zustandekommen) sowie der Angemessenheit der Sanktionen (SVEN ZIMMERLIN, Der
Verzicht des Beschuldigten auf Verfahrensrechte im Strafprozess, 2008, S. 239
N. 702, S. 241 N. 707 und S. 248 N. 724).

2.5.5 FELIX BOMMER ist der Auffassung, dass man in der Anerkennung des
Sachverhalts gemäss Art. 361 Abs. 2 lit. a StPO eine Erneuerung des
Geständnisses sehen müsse, das bereits zu Beginn des abgekürzten Verfahrens
abgelegt worden sei. Nur eine positive Erklärung könne daraufhin überprüft
werden, ob sie mit der Aktenlage übereinstimme (Art. 361 Abs. 2 lit. b StPO).
Fehle eine solche, müsse das abgekürzte Verfahren abgebrochen werden (FELIX
BOMMER, in: Kurzer Prozess mit dem abgekürzten Verfahren?, Schweizerische
Strafprozessordnung und Schweizerische Jugendstrafprozessordnung, 2010, S.
155).

2.6 Das gerichtliche Bestätigungsverfahren ist einer der gesetzlich
vorgesehenen Schutzmechanismen im abgekürzten Verfahren. Die Befragung der
beschuldigten Person anlässlich der Hauptverhandlung stellt dabei ein
wesentlicher Bestandteil dar. Die Anerkennung des angeklagten Sachverhalts
durch die beschuldigte Person gemäss Art. 361 Abs. 2 lit. a StPO muss als
Erneuerung des Geständnisses verstanden werden, das diese bereits im
Vorverfahren ablegte. Angesichts des Ausnahmecharakters des abgekürzten
Verfahrens kann auf eine solche Bestätigung nicht verzichtet werden. Wenn sich
die beschuldigte Person an der Hauptverhandlung auf ihr
Aussageverweigerungsrecht beruft, kann das Gericht seine Prüfungspflichten
nicht wahrnehmen. In einem solchen Fall kann es lediglich feststellen, dass die
Voraussetzungen für ein Urteil im abgekürzten Verfahren nicht erfüllt sind,
weshalb die Akten nach Art. 362 Abs. 3 Satz 1 StPO an die Staatsanwaltschaft
zur Durchführung eines ordentlichen Vorverfahrens zurückzuweisen sind. Die
Verweigerung der Aussage an der Gerichtsverhandlung führt zwar faktisch zur
Möglichkeit, die (grundsätzlich unwiderrufliche, vgl. Art. 360 Abs. 2 StPO)
Zustimmung zur Anklageschrift zu widerrufen. Diese Folge ist aber hinzunehmen,
wenn sich das Gericht nicht persönlich da von überzeugen kann, dass die
beschuldigte Person den angeklagten Sachverhalt anerkennt. Andernfalls könnte
ebenso gut auf die Durchführung einer Hauptverhandlung und das gerichtliche
Bestätigungsverfahren verzichtet werden.