Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 220



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Urteilskopf

139 IV 220

31. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Swissmedic, Schweizerisches
Heilmittelinstitut (Beschwerde in Strafsachen)
6B_708/2012 vom 8. Juli 2013

Regeste

Art. 8 StPO (Verzicht auf Strafverfolgung); Art. 52-54 StGB (Strafbefreiung).
Art. 8 StPO bildet keine Grundlage für die Einstellung des Verfahrens durch das
Gericht nach der Anklageerhebung in den Anwendungsfällen von Art. 52-54 StGB.
Das Gericht hat über die Anklage zu entscheiden und im Falle eines
Schuldspruchs von einer Bestrafung abzusehen (Bestätigung der unter dem
früheren Prozessrecht begründeten Rechtsprechung). Unter den Gerichten im Sinne
von Art. 8 StPO sind die Gerichte zu verstehen, die über Beschwerden gegen
Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft
entscheiden (E. 3.4).

Sachverhalt ab Seite 221

BGE 139 IV 220 S. 221

A. X. ist als Fachärztin für Rheumatologie tätig. Sie bestellte in der Zeit vom
30. Mai 2005 bis zum 29. Mai 2006 insgesamt 700 Dosen zu je 100 Tabletten des
damals von der Swissmedic nicht zugelassenen Präparats "GC" und gab dieses an
Familienangehörige und Freunde sowie an Patienten mit Arthrosebeschwerden ab.
Das Präparat "GC" wurde von der A. AG produziert und zum Befüllen der Dosen an
die B. AG weitergegeben. Diese füllte das Präparat in Dosen zu 100 Tabletten
ab, verschloss die Dosen und lieferte diese an die C. AG beziehungsweise an die
D. AG, wo sie zwischengelagert und entsprechend den Bestellungen ausgeliefert
wurden. X. respektive ihre Mitarbeiterinnen bestellten die Dosen mit dem
Präparat "GC" über E. beziehungsweise dessen Firma F. GmbH.
Das Präparat "GC" ist ein Kombinationspräparat bestehend aus Glucosaminsulfat
und Chondroitinsulfat. Der letztgenannte Wirkstoff ist in der Stoffliste der
Swissmedic in der Kategorie B (Abgabe auf ärztliche oder tierärztliche
Verschreibung) aufgeführt. Das Präparat "GC" wurde zur Behandlung von
Arthrosebeschwerden eingesetzt und bis 2006 praktisch ausschliesslich über
Ärzte vertrieben.

B.

B.a Mit Strafverfügung vom 10. Februar 2010 bestrafte das Statthalteramt des
Bezirkes Zürich X. wegen mehrfacher fahrlässiger Übertretung des Bundesgesetzes
vom 15. Dezember 2000 über Arzneimittel und Medizinprodukte (Heilmittelgesetz,
HMG; SR 812.21) im
BGE 139 IV 220 S. 222
Sinne von Art. 87 Abs. 1 lit. f und Abs. 3 i.V.m. Art. 86 Abs. 1 lit. b HMG mit
einer Busse von 300 Franken.
X. erhob Einsprache und verlangte die gerichtliche Beurteilung.

B.b Die II. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich sprach X. am 17.
Oktober 2012 in Bestätigung des Entscheids des Einzelgerichts des Bezirkes
Zürich (10. Abteilung) vom 20. Februar 2012 der mehrfachen fahrlässigen
Widerhandlung gegen das Heilmittelgesetz im Sinne von Art. 87 Abs. 1 lit. f in
Verbindung mit Art. 86 Abs. 1 lit. b und Art. 87 Abs. 3 HMG schuldig. Sie sah
unter Hinweis auf das Verbot der "reformatio in peius" wie das Einzelgericht
von der Ausfällung einer Strafe ab. Sie verpflichtete X., dem Staat als Ersatz
für widerrechtlich erlangten Vermögensvorteil Fr. 11'500.- zu bezahlen.

C. X. führt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen, das Urteil des
Obergerichts sei aufzuheben, und sie sei freizusprechen. In jedem Fall sei auf
die Einziehung eines Vermögensvorteils zu verzichten. Eventualiter sei die
Ersatzforderung angemessen zu reduzieren. Subeventualiter sei die Sache zur
Neubeurteilung des einzuziehenden Vermögensvorteils an die erste Instanz
zurückzuweisen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eingetreten ist.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

3.

3.3 In den Anwendungsfällen der Strafbefreiung im Sinne von Art. 52 bis 54 StGB
ist im Stadium des gerichtlichen Verfahrens nach der Anklageerhebung nur ein
Schuldspruch unter Verzicht auf Strafe möglich. Ein Freispruch fällt ausser
Betracht (FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 3. Aufl. 2013,
N. 18, 26 vor Art. 52 ff. StGB). Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut von
Art. 52, 53 und 54 StGB, wonach die zuständige Behörde von einer "Bestrafung"
absieht (renonce à lui "infliger une peine"; prescinde "dalla punizione").
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist in diesen Fällen auch eine
Verfahrenseinstellung ausgeschlossen (BGE 135 IV 27 E. 2 betreffend Art. 53
StGB). Zu prüfen ist, ob diese Rechtsprechung in Anbetracht der Schweizerischen
Strafprozessordnung, die am 1. Januar 2011 in Kraft getreten ist, zu ändern
beziehungsweise obsolet geworden ist.
BGE 139 IV 220 S. 223

3.4 Gemäss Art. 8 Abs. 1 StPO sehen Staatsanwaltschaft und Gerichte von der
Strafverfolgung ab, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den
Voraussetzungen der Artikel 52, 53 und 54 StGB. Nach Art. 8 Abs. 4 StPO
verfügen sie in diesen Fällen, dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende
Verfahren eingestellt wird.
Es stellt sich die Frage, ob das Gericht, das im Verfahren nach der
Anklageerhebung die Voraussetzungen von Art. 52, 53 oder 54 StGB als erfüllt
erachtet, entsprechend BGE 135 IV 27 E. 2 über die Anklage entscheiden und im
Falle eines Schuldspruchs von einer Bestrafung absehen muss oder ob es gemäss
Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO das Verfahren einzustellen hat.

3.4.1 In der Lehre sind die Meinungen geteilt. Nach der überwiegenden
Auffassung hat das Gericht in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB
gestützt auf Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO das Verfahren einzustellen (siehe FIOLKA/
RIEDO, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2010, N. 105
ff. zu Art. 8 StPO; WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung, 2010, N. 11 zu Art. 8 StPO; NIKLAUS SCHMID, Handbuch des
schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, N. 202 Fn. 335; ROBERT ROTH, in:
Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 8 zu Art. 8;
JEANNERET/KUHN, Précis de procédure pénale, 2013, n. 4091; wohl auch PIERRE
CORNU, Exemption de peine et classement, ZStrR 127/2009 S. 393 ff., 418). Diese
Ansicht stützt sich im Wesentlichen auf den Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 StPO,
worin neben der Staatsanwaltschaft auch die Gerichte genannt werden, sowie auf
Art. 329 Abs. 4 StPO, wonach unter der darin genannten Voraussetzung das
Gericht nach Anklageerhebung das Verfahren einstellt. Nach der anderen
Auffassung hat das Gericht bei Vorliegen der diesbezüglichen Voraussetzungen
einen Schuldspruch auszufällen und von einer Bestrafung abzusehen. Mit den
"Gerichten" im Sinne von Art. 8 StPO seien offensichtlich gerichtliche
Beschwerdeinstanzen gemeint, die im Vorverfahren wegen einer
Verfahrenseinstellung oder deren Ablehnung angerufen werden (RIKLIN, a.a.O., N.
27 vor Art. 52 ff. StGB).

3.4.2 Bereits der Vorentwurf des Eidgenössischen Justiz- und
Polizeidepartements vom Juni 2001 zu einer Schweizerischen Strafprozessordnung
sowie der Entwurf des Bundesrates vom Dezember 2005 enthielten in Art. 8 eine
Regelung betreffend das "Opportunitätsprinzip" beziehungsweise den "Verzicht
auf Strafverfolgung" unter anderem bei geringfügiger Tat. Art. 8 Abs. 3 sah
vor, dass
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Staatsanwaltschaft und Gerichte in diesen Fällen eine Nichtanhandnahme- oder
Einstellungsverfügung erlassen. Der Verzicht auf Strafverfolgung sollte nur in
Form einer solchen Verfügung erfolgen können, gegen welche die Beschwerde an
das Gericht zulässig ist (Begleitbericht zum Vorentwurf, S. 36; Botschaft des
Bundesrates vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts,
BBl 2006 1085 ff., 1131 f. zu Art. 8).
Der Begleitbericht zum Vorentwurf enthält keine Anhaltspunkte für die
Auffassung, dass das Gericht nach Anklageerhebung gestützt auf Art. 8 das
Verfahren einstellen muss, wenn es beispielsweise die Tat als geringfügig
erachtet. Aus den Ausführungen in der Botschaft des Bundesrates ergibt sich
nicht, dass durch Art. 8 StPO etwas an der bisherigen Rechtslage betreffend das
Vorgehen in den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB geändert werden
sollte. Diese Bestimmungen sehen neben dem Absehen von einer Strafverfolgung
und einer Überweisung an das Gericht ausdrücklich auch das Absehen von
Bestrafung vor. Mit Letzterem ist nicht eine Verfahrenseinstellung, sondern ein
Schuldspruch unter Verzicht auf Strafe gemeint. Dies folgt auch aus der
Botschaft des Bundesrates vom 21. September 1998 zur Revision des Allgemeinen
Teils des Strafgesetzbuches, worin zu Art. 52 des Entwurfs (entsprechend Art.
52 StGB) festgehalten wird, dass die zuständige Behörde unter den in dieser
Bestimmung genannten Voraussetzungen zwingend darauf verzichten muss, das
laufende Verfahren fortzusetzen oder eine Strafe aufzuerlegen (Botschaft zur
Änderung des StGB vom 21. September 1998, BBl 1999 1979 ff., 2064 Ziff.
213.31). Die Botschaft weist darauf hin, dass in der künftigen eidgenössischen
Strafprozessordnung gemäss dem Konzeptbericht der Expertenkommission von 1997
ein gemässigtes Opportunitätsprinzip gelten soll, welches unter anderem
geringfügige Straftaten erfasst. Bei den Ausnahmen vom Verfolgungszwang soll in
der eidgenössischen Strafprozessordnung besonderes Gewicht gelegt werden auf
die rechtsstaatliche Überprüfbarkeit der Verfügungen, die den Verzicht auf die
Strafverfolgung begründen (Botschaft, a.a.O., S. 2065 Ziff. 213.31). Damit ist
offenkundig die Überprüfung von Nichtanhandnahme- und Einstellungsverfügungen
der Staatsanwaltschaft durch ein Gericht gemeint.

3.4.3 Gemäss Art. 52 bis 54 StGB sieht die zuständige Behörde unter den darin
genannten Voraussetzungen "von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das
Gericht oder einer Bestrafung" ab. Nach
BGE 139 IV 220 S. 225
Art. 8 Abs. 1 StPO sehen Staatsanwaltschaft und Gerichte "von der
Strafverfolgung" ab, wenn das Bundesrecht es vorsieht, namentlich unter den
Voraussetzungen der Art. 52, 53 und 54 StGB. Gemäss Art. 8 Abs. 4 StPO verfügen
sie in diesen Fällen, "dass kein Verfahren eröffnet oder das laufende Verfahren
eingestellt wird". Art. 8 StPO erfasst nur die "Strafverfolgung", von welcher
in Art. 52 bis 54 StGB ebenfalls die Rede ist, nicht auch die in Art. 52 bis 54
StGB darüber hinaus genannte "Bestrafung". Art. 8 StPO betrifft nur die
Verfahrensabschnitte bis zur Anklageerhebung, mithin die Strafverfolgung (siehe
Art. 1 Abs. 1 StPO) durch die Strafverfolgungsbehörden (vgl. Art. 12 StPO),
nicht auch die Beurteilung (siehe Art. 1 Abs. 1 StPO) durch die Gerichte (vgl.
Art. 13 StPO) nach der Anklageerhebung (siehe Art. 351 Abs. 1 StPO). Aus Art. 8
Abs. 1 und 4 StPO kann somit nicht geschlossen werden, dass das Gericht,
welches nach der Anklageerhebung im Rahmen der Beurteilung die Voraussetzungen
von Art. 52, 53 oder 54 StGB als erfüllt erachtet, abweichend von der in diesen
Bestimmungen ausdrücklich vorgesehenen Möglichkeit der Befreiung von einer
Bestrafung das Verfahren einzustellen hat. Soweit in Art. 8 Abs. 1 StPO neben
der Staatsanwaltschaft auch die "Gerichte" genannt werden, sind damit nicht die
Gerichte gemeint, die im Hauptverfahren über die Anklage entscheiden (siehe
Art. 328 ff., 351 StPO), sondern diejenigen Gerichte, welche über Beschwerden
gegen Nichtanhandnahmeverfügungen und Einstellungsverfügungen der
Staatsanwaltschaft befinden. Dies ergibt sich auch aus nachstehenden Gründen.

3.4.4 Die Staatsanwaltschaft verfügt die Nichtanhandnahme unter anderem, wenn
"aus den in Artikel 8 genannten Gründen auf eine Strafverfolgung zu verzichten
ist" (Art. 310 Abs. 1 lit. c StPO). Sie verfügt die Einstellung des Verfahrens
unter anderem, wenn "nach gesetzlicher Vorschrift auf Strafverfolgung oder
Bestrafung verzichtet werden kann" (Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO). Die
Nichtanhandnahme- und die Einstellungsverfügung sind mit Beschwerde an die
gerichtliche Beschwerdeinstanz anfechtbar (Art. 322 Abs. 2, Art. 393 Abs. 1
lit. a StPO). Art. 310 Abs. 1 lit. c und Art. 319 Abs. 1 lit. e StPO wären
überflüssig, wenn sich die Kompetenz der Staatsanwaltschaft zum Erlass einer
Nichtanhandnahme- beziehungsweise Einstellungsverfügung in den Anwendungsfällen
von Art. 52 bis 54 StGB bereits aus Art. 8 StPO ergeben würde.

3.4.5 Wird das Verfahren von der Staatsanwaltschaft nicht eingestellt, so
erhebt sie Anklage beim zuständigen Gericht, wenn sie aufgrund
BGE 139 IV 220 S. 226
der Untersuchung die Verdachtsgründe als hinreichend erachtet und keinen
Strafbefehl erlassen kann (Art. 324 StPO). Damit wird das Verfahren beim
Gericht rechtshängig (Art. 328 StPO). Die Verfahrensleitung prüft gemäss Art.
329 Abs. 1 StPO, ob (a.) die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss
erstellt sind; (b.) die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind; (c.)
Verfahrenshindernisse bestehen. Ergibt sich aufgrund dieser Prüfung oder später
im Verfahren, dass ein Urteil zurzeit nicht ergehen kann, so sistiert das
Gericht das Verfahren. Falls erforderlich, weist es die Anklage zur Ergänzung
oder Berichtigung an die Staatsanwaltschaft zurück (Art. 329 Abs. 2 StPO). Das
Gericht entscheidet, ob ein sistierter Fall bei ihm hängig bleibt (Art. 329
Abs. 3 StPO). Kann ein Urteil definitiv nicht ergehen, so stellt das Gericht
gemäss Art. 329 Abs. 4 StPO das Verfahren ein, nachdem es den Parteien und
weiteren durch die Einstellung beschwerten Dritten das rechtliche Gehör gewährt
hat. Art. 329 Abs. 4 StPO steht offensichtlich im Kontext mit Art. 329 Abs. 1
StPO und betrifft somit Fälle, in welchen eine Prozessvoraussetzung definitiv
nicht erfüllt ist oder ein Verfahrenshindernis definitiv bestehen bleibt. Art.
329 Abs. 4 StPO bezieht sich nicht auf gesetzliche Vorschriften, wonach auf
Strafverfolgung und/oder Bestrafung verzichtet werden kann oder verzichtet
werden muss. In den Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB kann ohne weiteres
ein Urteil ergehen, nämlich ein Entscheid in Form eines Schuldspruchs unter
Verzicht auf Strafe, und ist daher die in Art. 329 Abs. 4 StPO genannte
Voraussetzung, dass ein Urteil definitiv nicht ergehen kann, nicht erfüllt.
Art. 328 ff. StPO betreffend das gerichtliche Hauptverfahren enthalten keine
Bestimmung, welche Art. 310 Abs. 1 lit. c StPO (bezüglich
Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft) oder Art. 319 Abs. 1 lit. e
StPO (hinsichtlich Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft) entspricht.
Die Strafprozessordnung sieht nicht vor, dass das Gericht nach der
Anklageerhebung über die in Art. 329 Abs. 4 StPO genannten Fälle hinaus das
Verfahren einstellen muss.
Kann das Gericht materiell über die Anklage entscheiden, so fällt es ein Urteil
über die Schuld, die Sanktionen und die weiteren Folgen (Art. 351 Abs. 1 StPO).
Ist Anklage erhoben worden, so hat das Gericht, auch wenn es einen
Anwendungsfall von Art. 52 bis 54 StGB als gegeben erachtet, im Hauptverfahren
zu prüfen, ob und inwiefern der eingeklagte Sachverhalt erstellt ist und einen
Straftatbestand erfüllt. Fehlt es an einem Straftatbestand, muss das Gericht
die beschuldigte Person freisprechen. Ist ein Straftatbestand gegeben und
BGE 139 IV 220 S. 227
sind auch die übrigen Voraussetzungen für einen Schuldspruch erfüllt, hat es
sie schuldig zu sprechen und in Anwendung von Art. 52, 53 oder 54 StGB von
einer Bestrafung abzusehen.
Dies liegt auch im Interesse der Privatklägerschaft, die im Strafverfahren
adhäsionsweise Zivilansprüche geltend gemacht hat. Denn das Gericht müsste im
Falle der Verfahrenseinstellung die Zivilklage nicht behandeln (siehe Art. 329
Abs. 4 in Verbindung mit Art. 320 Abs. 3 StPO). Auch die beschuldigte Person,
welche den eingeklagten Sachverhalt beziehungsweise dessen
Tatbestandsmässigkeit bestreitet, kann ein berechtigtes Interesse daran haben,
dass das Gericht über die Anklage entscheidet, womit auch die Chance eines
Freispruchs besteht.

3.4.6 Über den Anwendungsbereich von Art. 329 Abs. 4 StPO hinaus kommt nach der
Anklageerhebung eine Verfahrenseinstellung durch das Gericht nur in Betracht,
soweit das Gesetz eine solche vorsieht. Dies gilt beispielsweise für Art. 55a
StGB (Ehegatte usw. als Opfer), wonach bei den in dieser Bestimmung
aufgeführten Straftaten unter den darin genannten Voraussetzungen (Ersuchen des
Opfers etc.) die Staatsanwaltschaft und die Gerichte die Einstellung des
Verfahrens verfügen. Diese Regelung ergibt sich daraus, dass das Ersuchen des
Opfers um Sistierung beziehungsweise die Zustimmung des Opfers zu einem
entsprechenden Antrag der zuständigen Behörde als ein Prozesshindernis zu
qualifizieren ist, das in jedem Stadium des Verfahrens, mithin auch im
gerichtlichen Hauptverfahren nach der Anklageerhebung, zur
Verfahrenseinstellung führt. Art. 55a StGB unterscheidet sich von Art. 52 bis
54 StGB, welche nicht Prozessvoraussetzungen beziehungsweise
Prozesshindernisse, sondern Strafbefreiungsgründe zum Inhalt haben. Daher kann
aus Art. 55a StGB nicht abgeleitet werden, dass das Gericht auch in den
Anwendungsfällen von Art. 52 bis 54 StGB das Verfahren einzustellen hat.

3.4.7 Art. 8 Abs. 1 StPO bildet demnach keine Grundlage für die Einstellung des
Verfahrens durch das Gericht nach der Anklageerhebung in den Anwendungsfällen
von Art. 52 bis 54 StGB. Dies ergibt sich aus Art. 310 Abs. 1 lit. c, Art. 319
Abs. 1 lit. e, Art. 329 Abs. 4 und Art. 351 Abs. 1 StPO einerseits sowie aus
Art. 52 bis 54 und 55a StGB andererseits.
An der in BGE 135 IV 27 begründeten Rechtsprechung ist unter dem
Geltungsbereich der StPO festzuhalten.
BGE 139 IV 220 S. 228
Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, die kantonalen Instanzen hätten, da sie
die Schuld und die Tatfolgen im Sinne von Art. 52 StGB als geringfügig
erachteten, das Verfahren gestützt auf Art. 8 Abs. 1 und 4 StPO einstellen
müssen, ist unbegründet.