Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 IV 175



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Urteilskopf

139 IV 175

22. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern (Beschwerde in Strafsachen)
1B_126/2013 vom 18. April 2013

Regeste

Art. 59 Abs. 4 StGB; Art. 220 Abs. 2, Art. 222 Satz 2, Art. 229-233 und 363
Abs. 1 StPO; Art. 80 Abs. 2 Satz 2 BGG; Sicherheitshaft in nachträglichen
richterlichen Massnahmeverfahren.
Wenn das kantonale Obergericht (nach dem kantonalen Gerichtsorganisationsrecht
und gestützt auf Art. 363 Abs. 1 StPO) dafür zuständig ist, im selbstständigen
nachträglichen Verfahren über die Verlängerung einer stationären
therapeutischen Massnahme zu urteilen, und die Massnahmenfrist von Art. 59 Abs.
4 StGB abläuft, bevor das neue Massnahmenurteil rechtskräftig wird, stützt sich
die zwischenzeitliche Anordnung von Sicherheitshaft auf Art. 229-233 i.V.m. 220
Abs. 2 StPO. In diesen Fällen ist die Verfahrensleitung des Obergerichtes auch
für strafprozessuale Haftentscheide zuständig. Dagegen ist die Beschwerde ans
Bundesgericht zulässig (E. 1).

Sachverhalt ab Seite 176

BGE 139 IV 175 S. 176

A. Das Obergericht des Kantons Luzern sprach X. am 29. März 2001 wegen
Zurechnungsunfähigkeit von Schuld und Strafe hinsichtlich des Tötungsdeliktes
an ihrem Ehemann frei, ordnete jedoch ihre Verwahrung (nach aArt. 43 Ziff. 1
Abs. 2 StGB) an. In Anwendung des (am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen) neuen
Sanktionenrechts hob das Obergericht am 13. September 2007 die altrechtliche
Verwahrung auf und erliess stattdessen eine stationäre therapeutische Massnahme
im Sinne von Art. 59 Abs. 1 StGB. Die von der Verurteilten dagegen erhobene
Beschwerde wies das Bundesgericht mit Urteil vom 4. März 2008 ab, soweit es
darauf eintrat (Verfahren 6B_623/2007).

B. Mit Entscheid vom 25. Juli 2012 empfahlen die Vollzugs- und
Bewährungsdienste des Kantons Luzern der kantonalen Oberstaatsanwaltschaft,
beim zuständigen Gericht (gestützt auf Art. 59 Abs. 4 StGB) Antrag auf
Verlängerung der stationären Massnahme um fünf Jahre zu stellen. Am 26. Juli
2012 gelangte die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Luzern mit einem
entsprechenden Rechtsbegehren (ergänzt mit Eingabe vom 12. November 2012) an
das kantonale Obergericht. Mit Verfügung vom 20. September 2012 versetzte die
Verfahrensleitung des Obergerichtes die Verurteilte (gestützt auf Art. 232 StPO
) in Sicherheitshaft. Am 18. Dezember 2012 verlängerte das Obergericht die
strafprozessuale Haft bis zum 17. März 2013.

C. Am 10. Januar 2013 fand die Verhandlung betreffend Verlängerung der
stationären Massnahme vor Obergericht statt. Mit Urteil
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vom 1. Februar 2013 verlängerte das Obergericht die am 13. September 2007
angeordnete stationäre therapeutische Massnahme (rückwirkend ab dem 13.
September 2012) um 18 Monate, nämlich bis zum 13. März 2014. Die
Urteilsbegründung ist noch ausstehend. Das Massnahmenurteil vom 1. Februar 2013
ist noch nicht rechtskräftig.

D. Am 5. März 2013 beantragte die Oberstaatsanwaltschaft die Verlängerung der
am 17. März 2013 auslaufenden Sicherheitshaft. Mit Verfügung vom 15. März 2013
verlängerte die Verfahrensleitung des Obergerichts des Kantons Luzern, 4.
Abteilung, die Sicherheitshaft bis zum 16. Mai 2013. Gleichzeitig wies die
Verfahrensleitung die Inhaftierte darauf hin, dass sie beim Obergericht
jederzeit ein Gesuch um Aufhebung der Sicherheitshaft stellen könne.

E. Gegen den Haftverlängerungsentscheid vom 15. März 2013 gelangte die
Inhaftierte mit Beschwerde vom 23. März 2013 an das Bundesgericht. Sie
beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und ihre sofortige
Haftentlassung (gegen Ersatzmassnahmen). (...)
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
(Auszug)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

1. Zunächst ist zu prüfen, ob und inwiefern ein beim Bundesgericht anfechtbarer
Entscheid vorliegt.

1.1 Art. 59 StGB sieht als stationäre therapeutische Massnahme die Behandlung
von psychischen Störungen vor. Ist der Täter (oder die Täterin) psychisch
schwer gestört, kann das Strafgericht diese Massnahme anordnen, wenn der Täter
ein Verbrechen oder Vergehen begangen hat, das mit seiner psychischen Störung
in Zusammenhang steht (Abs. 1 lit. a), und wenn zu erwarten ist, dadurch lasse
sich der Gefahr weiterer mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang
stehender Taten begegnen (lit. b). Die stationäre Behandlung erfolgt in einer
geeigneten psychiatrischen Einrichtung oder einer Massnahmenvollzugseinrichtung
(Abs. 2). Solange die Gefahr besteht, dass der Täter flieht oder weitere
Straftaten begeht, wird er in einer geschlossenen Einrichtung behandelt (Abs. 3
Satz 1). Der mit der stationären Behandlung verbundene Freiheitsentzug beträgt
in der Regel höchstens fünf Jahre. Sind die Voraussetzungen für die bedingte
Entlassung nach fünf Jahren noch nicht gegeben und ist zu erwarten, durch die
Fortführung der Massnahme lasse sich der Gefahr
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weiterer mit der psychischen Störung des Täters in Zusammenhang stehender
Verbrechen und Vergehen begegnen, so kann das Gericht auf Antrag der
Vollzugsbehörde die Verlängerung der Massnahme um jeweils höchstens fünf Jahre
anordnen (Abs. 4). Das Gericht, welches das erstinstanzliche Urteil gefällt
hat, trifft auch die einer gerichtlichen Behörde übertragenen selbstständigen
nachträglichen Entscheide, sofern Bund oder Kantone nichts anderes bestimmen (
Art. 363 Abs. 1 StPO). Das kantonale Behördenorganisationsrecht kann
insbesondere festlegen, dass das kantonale Berufungsgericht bzw. das kantonal
letztinstanzlich entscheidende Gericht auch die selbstständigen nachträglichen
Entscheide fällt (vgl. NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung
[StPO], Praxiskommentar, 2009,N. 2 zu Art. 364 StPO; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER,
in: Zürcher Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, N.
5 zuArt. 363 StPO). Im Rahmen der Einführung der StPO (per 1. Januar 2011) hat
der Kanton Luzern diese Option gewählt (§ 287^bis Abs. 1 des luzernischen
Gesetzes vom 3. Juni 1957 über den Straf- und Massnahmenvollzug; SRL 305). Das
Verfahren bei selbstständigen nachträglichen Massnahmenentscheiden des Gerichts
(insb. Art. 59 Abs. 4 StGB i.V.m. Art. 363 Abs. 1 StPO) richtet sich nach Art.
364 und 365 StPO. Eine besondere Regelung für die Anordnung und Fortsetzung von
Sicherheitshaft enthalten die Art. 363-365 StPO nicht (vgl. MARIANNE HEER, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 9 zu Art. 364
StPO).

1.2 Gemäss den dargelegten Bestimmungen musste die am 13. September 2007
angeordnete stationäre therapeutische Massnahme (Art. 59 Abs. 1 StGB) bzw.
deren beantragte Verlängerung von der Vorinstanz (spätestens nach Ablauf von
fünf Jahren) im nachträglichen richterlichen Verfahren (Art. 363-365 StPO) neu
geprüft werden. Gestützt auf das Urteil des Obergerichtes vom 13. September
2007 war ein stationärer Massnahmenvollzug nur noch bis September 2012 zulässig
(Art. 59 Abs. 4 StGB). Anschliessend und bis zur Rechtskraft des neuen
Massnahmenurteils des Obergerichtes vom 1. Februar 2013 stützte (und stützt)
sich der hier streitige Freiheitsentzug auf strafprozessuale Sicherheitshaft
(im Sinne von Art. 229-233 i.V.m. Art. 220 Abs. 2 StPO; vgl. BGE 133 IV 333;
Urteil 1B_6/ 2012 vom 27. Januar 2012 E. 2.4).

1.3 Die haftrichterliche Zuständigkeit des Obergerichtes im Rahmen von
Prozessen, die bei ihm anhängig sind, beschränkt sich nicht auf das
Berufungsverfahren (vgl. Art. 413 Abs. 4 StPO; NIKLAUS
BGE 139 IV 175 S. 179
SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, Rz. 1048). Die
in der Beschwerde erhobene Rüge, die Verfahrensleitung des Obergerichtes sei
für die Behandlung des Antrages vom 5. März 2013 um Verlängerung der
Sicherheitshaft gar nicht (mehr) zuständig gewesen, erweist sich als
unbegründet. Die Kompetenz eines unterinstanzlichen kantonalen Gerichtes
(Zwangsmassnahmengericht) zur Überprüfung von strafprozessualen Verfügungen
bzw. verfahrensleitenden Anordnungen des Obergerichtes im Rahmen von
nachträglichen Massnahmenentscheiden erschiene im Übrigen systemwidrig (vgl.
Art. 230-233 StPO; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des
Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1235 Ziff. 2.5.3.6).

1.4 Das Obergericht hat als einzige kantonale Instanz entschieden (vgl. Art.
222 Satz 2 i.V.m. 232 f. StPO bzw. Art. 227 i.V.m. 229 Abs. 3 lit. b StPO). Der
Haftverlängerungsentscheid der Vorinstanz ist mit Beschwerde in Strafsachen an
das Bundesgericht anfechtbar (Art. 80 Abs. 2 Satz 2 BGG; vgl. MARC FORSTER, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 7 zu Art. 222
StPO). Auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 78 ff. BGG sind
erfüllt.