Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 III 418



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Urteilskopf

139 III 418

60. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen X.
Versicherungen AG (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_20/2013 vom 15. Juli 2013

Regeste

Verjährung von Krankentaggeldern; Art. 46 VVG.
Kann der Versicherte fortlaufend die Leistung von Taggeldern verlangen,
verjähren diese mit der ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit und dem
Ablauf der Wartefrist nicht gesamthaft, sondern einzeln ab dem Tag, für den sie
beansprucht werden (Änderung der Rechtsprechung; E. 3 und 4).

Erwägungen ab Seite 418

BGE 139 III 418 S. 418
Aus den Erwägungen:

3. Nach Art. 46 Abs. 1 VVG (SR 221.229.1) verjähren die Forderungen aus dem
Versicherungsvertrag in zwei Jahren nach Eintritt der Tatsache, welche die
Leistungspflicht begründet. Während Lehre und Rechtsprechung hierfür
ursprünglich den Eintritt des Versicherungsfalles als massgeblich erachtet
haben, wird nunmehr in der Praxis je nach Versicherungsart und
Leistungsanspruch auf unterschiedliche fristauslösende Ereignisse abgestellt.
Dabei wird in der Regel der Zeitpunkt, in dem die leistungsbegründenden
Tatsachenelemente feststehen, als fristauslösend angesehen. Für
Krankentaggelder wird die Leistungspflicht des Versicherers nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts ausgelöst durch die krankheitsbedingte,
ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit und den Ablauf der vereinbarten
Wartefrist. Das Bundesgericht entschied, die für die Dauer der Krankheit
geltend gemachten Taggelder verjährten gesamthaft in zwei Jahren ab jenem
Zeitpunkt. Gestützt auf die Literatur (ERNST A. THALMANN, Die Verjährung im
Privatversicherungsrecht, 1940, S. 169) ging es davon aus, die
Taggeldentschädigung müsse grundsätzlich, wenn sich nicht etwas anderes
deutlich aus dem Vertrag ergebe, als einheitliche aufgefasst werden, die
gesamthaft verjähre. Es verwarf die These, dass jeder einzelne Tag der
krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ein eigenständiges leistungsbegründendes
Ereignis mit fristauslösender Wirkung darstelle. Das Bundesgericht habe schon
in BGE 111 II 501 E. 2 befunden, die im Rahmen einer Lebensversicherung
geschuldete jährliche Rente für Erwerbsausfall infolge Unfalls verjähre bei
jedem Unfallereignis in zwei Jahren seit dem Unglücksfall. Das gelte in
analoger Weise auch für die aufgrund einer privaten Krankenversicherung für die
Dauer der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit geltend gemachten Taggelder (
BGE 127 III 268 E. 2b S. 271 f.).

3.1 Diese Rechtsprechung hat das Bundesgericht seither bestätigt (Urteile des
Bundesgerichts 4A_532/2009 vom 5. März 2010 E. 2.1 ff.; 4A_516/2009 vom 11.
Dezember 2009 E. 3.1; 5C.42/2005 vom 21. April 2005 E. 2.1; CHRISTOPH K.
GRABER, in: Basler Kommentar, Versicherungsvertragsgesetz, Nachführungsband,
2012, S. 163 f. zu Art. 46 VVG). Sie ist in der Literatur aber auf Kritik
gestossen. Namentlich wird beanstandet, der vom Bundesgericht zitierte Autor
BGE 139 III 418 S. 420
THALMANN habe zwar tatsächlich die Taggeldentschädigung als einheitliche
aufgefasst, die gesamthaft verjähre. Er lasse die Verjährung aber erst mit Ende
der Deckungsperiode einsetzen. Die Voraussetzungen der Leistungserbringung
müssten auch für die folgenden Tage gegeben sein, wobei jeder Tag als neuer
Tatbestand anzusehen sei, der die Leistungspflicht des Versicherers auslöse
(SPIRO, Verjährung von Krankentaggeldansprüchen, HAVE 2002 S. 121; VINCENT
BRULHART, Justification de l'art. 46 LCA [...], AJP 2001 S. 1105; vgl. auch
MEUWLY, La prescription des créances d'assurance privée [...], AJP 2003 S. 312
f.; ROLAND BREHM, L'assurance privée contre les accidents, 2001, S. 365 N.
840). In der Praxis laufe die Rechtsprechung des Bundesgerichts darauf hinaus,
für das Grundverhältnis eine Verjährungsfrist von zwei Jahren anzunehmen, was
BGE 111 II 501 und dem Urteil des Bundesgerichts 5C.168/2004 vom 9. November
2004 E. 3.1 widerspräche (FUHRER, Anmerkungen zu privatversicherungsrechtlichen
Entscheiden des Bundesgerichts, HAVE 2010 S. 262 f.; SPIRO, a.a.O., S. 121 f.).
Das Bundesgericht hat in seiner jüngsten Rechtsprechung diese Kritik
wiedergegeben (BGE 139 III 263 E. 2.3), ohne im Einzelnen darauf einzugehen. Es
hielt lediglich fest, mit Blick auf die Leistungsdauer, die häufig auf den
relativ kurzen Zeitraum von 720 Tagen befristet sei, bestehe keine Analogie zu
einer Rentenleistung. Ob daran festzuhalten sei, dass die Taggelder als
Gesamtheit zu behandeln seien und wann diesfalls die Verjährung beginne, liess
das Bundesgericht offen (Urteil des Bundesgerichts 4A_702/2012 vom 18. März
2013 E. 2.6, nicht publ. in BGE 139 III 263). Diese Frage ist nachfolgend zu
prüfen.

3.2 Dem Versicherten wird nach Ablauf der Wartefrist nicht ein unbedingter
Anspruch auf eine bestimmte Anzahl Taggelder eingeräumt. Vielmehr hängen die
einzelnen Leistungen von der Arbeitsunfähigkeit ab und können demnach
Änderungen erfahren (vgl. BGE 139 III 263 E. 2.5). Ein Taggeld ist nur
geschuldet, wenn der Versicherte den jeweiligen Tag erlebt, an diesem Tag eine
Arbeitsunfähigkeit von mindestens 25 % gegeben ist und nicht feststeht, dass er
Anspruch auf hinreichende Geldleistungen nach IVG, UVG, MVG, der beruflichen
Vorsorge oder eines haftpflichtigen Dritten hat (derartige Geldleistungen
werden nach Art. B4 Abs. 1 und 2 der allgemeinen Versicherungsbedingungen [AVB]
von der Beschwerdegegnerin im Rahmen ihrer eigenen Leistungspflicht ergänzt,
und eine Vorleistungspflicht besteht nur, soweit der Rentenanspruch einer
staatlichen oder betrieblichen Versicherung noch nicht feststeht). Der Anspruch
des
BGE 139 III 418 S. 421
Beschwerdeführers aus der Taggeldversicherung geht nicht auf eine einheitliche
Leistung, die ihrer Natur nach über eine bestimmte Zeitspanne verteilt erbracht
wird (vgl. BRULHART, a.a.O., S. 1104 f., der BGE 127 III 268 diese Überlegung
zu Grunde legt). Die Taggeldzahlungen sollen vielmehr das laufende Einkommen
des Versicherten, das dieser zufolge seiner Arbeitsunfähigkeit nicht mehr
erzielen kann, ersetzen (vgl. SPIRO, a.a.O., S. 121). Mit Ablauf der Wartefrist
sind zwar die Anfangsvoraussetzungen der Zahlungspflicht gegeben, die auch für
die folgenden Taggeldansprüche gleich bleiben (vgl. BRULHART, a.a.O., S. 1104).
Ob und in welchem Umfang sich daraus eine Leistungspflicht der Versicherung
ergibt, ist aber offen, da noch nicht alle leistungsbegründenden
Tatsachenelemente feststehen, wie dies für den Beginn der Verjährung an sich
verlangt wird (vgl. BGE 127 III 268 E. 2b S. 271; MEUWLY, a.a.O., S. 313).

3.3 Auch aus der in BGE 127 III 268 zitierten Literatur und Rechtsprechung
lässt sich ein Beginn der Gesamtverjährung nach Ablauf der Wartefrist nicht
ableiten.

3.3.1 Soweit die Literatur eine Gesamtverjährung ins Auge fasst, lässt sie
diese in der Regel ab dem Zeitpunkt beginnen, in dem die ärztliche Behandlung
aufhört (THALMANN, a.a.O., S. 169 inkl. Fn. 14, der auf JAEGER/ROELLI,
Kommentar zum Schweizerischen Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag [...],
Bd. III, 1933, N. 86 zu Art. 87/88 VVG verweist) und somit die
Tatsachenelemente inklusive der andauernden Arbeitsunfähigkeit bereits für alle
Taggelder, die der Gesamtverjährung unterstellt werden sollen, grundsätzlich
feststehen. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Forderung aus der
Taggeldversicherung erst mit dem Abschluss der Heilperiode bestimmt und geltend
gemacht werden kann. Werden sogenannte Zwischenrenten zugesichert, beginnt die
Verjährung mit dem jeweiligen Fälligkeitstag (THALMANN, a.a.O., S. 169; JAEGER/
ROELLI, a.a.O., N. 86 zu Art. 87/88 VVG).

3.3.2 In BGE 111 II 501 E. 2 S. 502 f. entschied das Bundesgericht, dass die
einzelnen Renten ohne Unterbrechung der Verjährung nicht mehr als zwei Jahre
zurück eingefordert werden können. Dass seit dem Zeitpunkt, in dem der Anspruch
auf die erste Rentenleistung entstand, bereits mehr als zwei Jahre vergangen
waren, liess die Ansprüche, die weniger als zwei Jahre zurücklagen, unberührt.
Eine absolute Verjährung des gesamten Anspruches in zwei Jahren lehnte das
Bundesgericht ausdrücklich ab.
BGE 139 III 418 S. 422

3.4 Die in BGE 127 III 268 E. 2b S. 271 f. begründete Rechtsprechung wird nicht
nur in der Lehre kritisiert, sie hat auch nicht zu Rechtssicherheit geführt,
sondern dazu, dass man die Rechtsprechung als "fluctuante" bezeichnet
(PICHONNAZ, in: Commentaire romand, Code des obligations, Bd. I, 2. Aufl. 2012,
N. 4 zu Art. 131 OR; vgl. auch GRABER, a.a.O., S. 163 f. zu Art. 46 VVG), da
sie faktisch auf die Annahme einer Verjährung des Stammrechts in zwei Jahren
hinausläuft (FUHRER, a.a.O., S. 262). Für die Verjährung des Stammrechts wäre
Art. 46 VVG aber nicht einschlägig, sondern es käme die 10-jährige Verjährung
zur Anwendung (BGE 139 III 263 E. 2.5, zit. Urteil 5C.168/2004 E. 3.1; vgl.
auch BGE 111 II 501 E. 2; SPIRO, a.a.O., S. 122). Auch ergeben sich
Ungereimtheiten mit Bezug auf die Verjährungsunterbrechung. Im zit. Urteil
4A_532/2009 E. 2.6 liess das Bundesgericht offen, ob die vorbehaltlose
Ausrichtung von Taggeldern als Anerkennung der grundsätzlichen Zahlungspflicht
verstanden werden könne. In einer Zahlung mit der Mitteilung, dass die
Leistungen zufolge Verletzung der Mitwirkungspflichten definitiv eingestellt
würden, sah das Bundesgericht jedenfalls keine Anerkennungshandlung. Im zit.
Urteil 5C.42/2005 E. 2.1 sprach dagegen die kantonale Instanz einem Schreiben,
in dem der Versicherer ankündigte, er werde die Versicherungsleistungen auf ein
bestimmtes Datum einstellen, verjährungsunterbrechende Wirkung zu, was vom
Bundesgericht nicht beanstandet wurde.

3.5 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht gerechtfertigt, an der
Gesamtverjährung ab Ablauf der Wartefrist festzuhalten (vgl. zit. Urteil 4A_702
/2012 E. 2.6).

4.

4.1 Die Taggeldzahlungen sollen nach ihrer Natur das laufende Einkommen des
Versicherten ersetzen und daher fortlaufend gefordert und erbracht werden.
Diesem Zweck entspricht, die Taggeldforderungen grundsätzlich nicht einer
Gesamtverjährung zu unterstellen, sondern fortlaufend verjähren zu lassen
(SPIRO, a.a.O., S. 121; MEUWLY, a.a.O., S. 312; BRULHART, a.a.O., S. 1105;
BREHM, a.a.O., S. 365 N. 840). Eine Unterscheidung zwischen der Verjährung des
Stammrechts (des grundsätzlichen Anspruchs auf die Versicherungsleistung bei
Schadenseintritt nach Ablauf der Wartefrist) und der einzelnen
Taggeldleistungen (die von weiteren Bedingungen wie der anhaltenden
Arbeitsunfähigkeit abhängen) ist zwar, entgegen der Ansicht der
Beschwerdegegnerin, ohne weiteres möglich. Sie erübrigt sich indessen, soweit
das Stammrecht infolge der zeitlichen
BGE 139 III 418 S. 423
Beschränkung der Taggeldversicherungen gar nicht verjähren kann, bevor
sämtliche Einzelansprüche verjährt sind (vgl. zit. Urteil 4A_702/2012 E. 2.6).
Da die einzelnen Taggeldforderungen nach Art. 46 VVG in zwei Jahren verjähren,
besteht entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin keine Gefahr, dass der
Versicherte noch nach Jahren Ansprüche geltend machen könnte und über eine weit
zurückliegende Arbeitsunfähigkeit Beweis geführt werden müsste.

4.2 Voraussetzung für eine fortlaufende Verjährung der einzelnen
Taggeldforderungen ist aber, dass der Versicherte nach dem Versicherungsvertrag
(vgl. zu dessen Massgeblichkeit BGE 127 III 268 E. 2b S. 271 f.; THALMANN,
a.a.O., S. 169; JAEGER/ROELLI, a.a.O., N. 86 zu Art. 87/88 VVG) fortlaufend die
Zahlung der einzelnen Taggelder verlangen kann. Daran fehlt es, wenn die
Leistungspflicht der Versicherung von zusätzlichen Bedingungen abhängig gemacht
wird oder wenn die Aufteilung in Taggelder lediglich der Berechnung des
Leistungsumfangs dient, während die Leistung selbst nur als Gesamtes (oder
jedenfalls für mehrere Taggelder zusammen) verlangt werden kann.

4.2.1 Steht es, wie dies gewisse AVB vorsehen, bei Ungewissheit über die
Leistungspflicht der staatlichen Versicherung im Belieben der
Taggeldversicherung, ob sie Vorleistungen erbringt, beginnt die Verjährung für
die aufgelaufenen Taggelder erst im Moment, in dem die Unsicherheit über die
Leistungspflicht des Dritten beseitigt ist. Erst in diesem Zeitpunkt stehen
sämtliche leistungsbegründenden Tatsachen fest, so dass die Verjährung für alle
bisher aufgelaufenen Taggelder nach Art. 46 VVG in diesem Moment beginnt.

4.2.2 Ist dagegen, wie in den AVB der Beschwerdegegnerin (Art. B4 Abs. 2 AVB),
bei Unsicherheiten über die Leistungspflicht einer staatlichen Versicherung die
Vorleistungspflicht des Taggeldversicherers vereinbart, verjähren die
Taggeldansprüche einzeln, da der Berechtigte diese trotz der Ungewissheit über
die Leistung der staatlichen Versicherung laufend einfordern kann. Die
Verjährung beginnt mit dem Tag, für den die einzelne Taggeldleistung
beansprucht werden kann, da bereits in diesem Zeitpunkt sämtliche
leistungsbegründenden Tatsachen feststehen.

4.3 Im zu beurteilenden Fall erbrachte die SUVA Leistungen bis zum 8. Januar
2006. Für diesen Zeitraum macht der Beschwerdeführer keine Ansprüche geltend.
Für die Zeit danach konnte er aufgrund der vereinbarten Vorleistungspflicht
allfällige Taggeldleistungen
BGE 139 III 418 S. 424
laufend einfordern, so dass die Ansprüche auf Taggeld einzeln jeweils binnen
zwei Jahren verjähren. Diese Frist war für nach dem 9. Januar 2006 geschuldete
Taggelder im Zeitpunkt der Verjährungsverzichtserklärung vom 7. Januar 2008
noch nicht abgelaufen.