Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 III 404



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Urteilskopf

139 III 404

58. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. und B.
gegen C. und D. (Beschwerde in Zivilsachen)
5A_66/2013 vom 29. August 2013

Regeste

Art. 738 ZGB; Ermittlung von Inhalt und Umfang eines Fuss- und Fahrwegrechts
nach Massgabe des Erwerbsgrundes.
Grundsätze für die Auslegung eines Dienstbarkeitsvertrags. Voraussetzungen,
unter denen zur Bestimmung des Inhalts eines ungemessenen Fuss- und
Fahrwegrechts öffentlich-rechtliche Vorschriften berücksichtigt werden dürfen
(E. 7).

Sachverhalt ab Seite 404

BGE 139 III 404 S. 404
Die S.-bergstrasse umschliesst beinahe kreisförmig mehrere mit Wohnhäusern
überbaute Grundstücke. Die Liegenschaft Nr. 289 liegt an der nördlichen
S.-bergstrasse, während die Liegenschaft Nr. 45 auf der gegenüberliegenden
Seite an die südliche S.-bergstrasse grenzt. Zugunsten der Parzelle Nr. 45 ist
im Grundbuch ein "Fuss- und Fahrwegrecht zulasten Nr. 289" eingetragen. Laut
Grunddienstbarkeitsvertrag vom 28. Oktober 1974 gestattet der Eigentümer der
Parzelle Nr. 289 dem Eigentümer der Parzelle Nr. 45 "das unbeschränkte Fuss-
und Fahrwegrecht auf dem im Grundbuchplan eingezeichneten Fahrweg von der
T.-str. Parz. 41 her bis zur Parz. 45 und umgekehrt". Bei der T.-strasse
handelt es sich um die heutige nördliche S.-bergstrasse. Im beigehefteten
Grundbuchplan ist das Wegrecht mit einer gestrichelten Linie eingezeichnet. Es
führt ab dem Grundstück Nr. 45 in nordöstlicher Richtung entlang der Grenze zur
Parzelle Nr. 296 über das Grundstück Nr. 289 und mündet in die S.-bergstrasse
ein. Eigentümer der berechtigten Parzelle Nr. 45 sind seit 2012 A. und B.
(Beschwerdeführer). Die belastete Parzelle Nr. 289 steht seit 1980 im Eigentum
von C. und D. (Beschwerdegegner).
Die Ausübung des Wegrechts führte zu Streitigkeiten zwischen den Eigentümern.
Auf Klage der Rechtsvorgänger der Beschwerdeführer wies das Bezirksgericht die
Beschwerdegegner an, aufgeschüttetes Material und einen Findling bei der
Nord-Ost-Ecke der Liegenschaft Nr. 289 zu entfernen. Ein Verfahren betreffend
Besitzesstörung durch den Zaun, den die Beschwerdegegner entlang des Wegrechts
errichtet hatten, blieb erfolglos (Urteil 5A_59/2010 vom 22. März 2010).
BGE 139 III 404 S. 406
Am 24. August 2010 klagten die Rechtsvorgänger der Beschwerdeführer unter
anderem auf Feststellung, dass das Fuss- und Fahrwegrecht eine Fahrbahnbreite
von 2,3 m aufweisen darf. Neben der Fahrbahn begehrten sie einen
freizuhaltenden Randstreifen (sog. Bankett), so dass innerhalb des Abstandes
von 2,7 m von der Grenze zur Parzelle Nr. 296 insbesondere Anpflanzungen zu
verbieten bzw. unter der Schere zu halten sowie der Holzzaun und der Lebhag im
Westen/Nordwesten des Weges zu entfernen bzw. zurückzuversetzen seien. Das
Bezirksgericht stellte fest, "dass das im Grundbuch eingetragene Fuss- und
Fahrwegrecht [...] derzeit eine Fahrbahnbreite von 2,3 m aufweist." Im Übrigen
wies es die Klage ab, soweit darauf einzutreten war. Gegen den Entscheid legten
die Beschwerdeführer eine Berufung ein. Das Obergericht bestätigte den
bezirksgerichtlichen Entscheid. Die Beschwerdeführer sind darauf an das
Bundesgericht gelangt, das ihre erneuerten Verbotsbegehren teilweise gutheisst.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

7. Auszulegen ist der Grunddienstbarkeitsvertrag vom 28. Oktober 1974. Danach
gestattet der Eigentümer der Parzelle Nr. 289 dem Eigentümer der Parzelle Nr.
45 "das unbeschränkte Fuss- und Fahrwegrecht auf dem im Grundbuchplan
eingezeichneten Fahrweg".

7.1 Die Auslegung des Grunddienstbarkeitsvertrags erfolgt in gleicher Weise wie
die sonstiger Willenserklärungen. Gemäss Art. 18 Abs. 1 OR bestimmt sich der
Inhalt des Vertrags nach dem übereinstimmenden wirklichen Willen der Parteien.
Nur wenn eine tatsächliche Willensübereinstimmung unbewiesen bleibt, ist der
Vertrag nach dem Vertrauensgrundsatz auszulegen. Die empirische oder subjektive
hat gegenüber der normativen oder objektivierten Vertragsauslegung den Vorrang.
Diese allgemeinen Auslegungsgrundsätze gelten vorbehaltlos unter den
ursprünglichen Vertragsparteien, im Verhältnis zu Dritten dagegen nur mit einer
Einschränkung, die sich aus dem öffentlichen Glauben des Grundbuchs (Art. 973
ZGB) ergibt, zu dem auch der Dienstbarkeitsvertrag gehört. Bei dessen Auslegung
können gegenüber Dritten, die an der Errichtung der Dienstbarkeit nicht
beteiligt waren und im Vertrauen auf das Grundbuch das dingliche Recht erworben
haben, individuelle persönliche Umstände und Motive nicht berücksichtigt
werden, die für die Willensbildung der ursprünglichen Vertragsparteien
bestimmend waren,
BGE 139 III 404 S. 407
aus dem Dienstbarkeitsvertrag selber aber nicht hervorgehen und für einen
unbeteiligten Dritten normalerweise auch nicht erkennbar sind. Im gezeigten
Umfang wird der Vorrang der subjektiven vor der objektivierten
Vertragsauslegung eingeschränkt (BGE 130 III 554 E. 3.1 S. 557). Die Eigentümer
der berechtigten und belasteten Grundstücke sind im vorliegenden Fall nicht die
Begründungsparteien, deren wirklicher Wille auch nicht hat festgestellt werden
können.

7.2 Die Begründungsparteien haben ein "unbeschränktes" Fuss- und Fahrwegrecht
vereinbart und damit künftige Entwicklungen im Dienstbarkeitsvertrag nicht
ausgeschlossen. Die Bezeichnung "unbeschränkt" bedeutet zwar nicht, dass das
Wegrecht ein nach allen Richtungen und auch gegenüber allfälligen zukünftigen
Mehrbelastungen geschütztes, absolut unbeschränktes Recht wäre. Mit der Wendung
"unbeschränkt" wird aber immerhin zum Ausdruck gebracht, dass ein Recht nicht
auf bestimmte einzelne Zwecke beschränkt oder mit einer besonderen
Leistungspflicht verbunden ist (Urteile 5C.199/2002 vom 17. Dezember 2002 E.
3.1 und 5A_264/ 2009 vom 4. Juni 2009 E. 3.1, in: ZBGR 84/2003 S. 307 f. und 91
/2010 S. 171). Dass das Wegrecht seinerzeit zur landwirtschaftlichen
Bewirtschaftung des berechtigten Grundstücks begründet wurde, wie die
Beschwerdegegner im kantonalen Verfahren hervorgehoben haben, macht die heutige
Benutzung des Wegrechts zu Wohnzwecken deshalb nicht unzulässig.

7.3 Innerhalb der Schranken des Gesetzes können die Vertragsparteien den Inhalt
und den Umfang des Wegrechts beliebig regeln (vgl. Art. 19 Abs. 1 OR). Das
Wegrecht kann aufgrund der Bestimmungen im Dienstbarkeitsvertrag gemessen sein.
Es steht den Parteien aber auch frei, ein ungemessenes Wegrecht zu vereinbaren,
so dass sich sein Inhalt und sein Umfang nach den Bedürfnissen des berechtigten
Grundstücks richten (BGE 131 III 345 E. 4.3.2 S. 358). Im
Grunddienstbarkeitsvertrag vom 28. Oktober 1974 haben die Begründungsparteien
keine Regelung getroffen und damit ein ungemessenes Wegrecht vereinbart.
Massgebend für Inhalt und Umfang sind deshalb die Bedürfnisse des berechtigten
Grundstücks. Eine gewisse künftige Entwicklung wird damit nicht ausgeschlossen.
Ändern sich die Bedürfnisse des berechtigten Grundstücks, darf dem
Verpflichteten zwar eine Mehrbelastung nicht zugemutet werden (Art. 739 ZGB).
Bei der ungemessenen Dienstbarkeit ist dem Dienstbarkeitsbelasteten aber
diejenige Mehrbelastung grundsätzlich zumutbar, die auf eine objektive
Veränderung der Verhältnisse, wie
BGE 139 III 404 S. 408
etwa die Entwicklung der Technik, zurückgeht und nicht auf willentlicher
Änderung der bisherigen Zweckbestimmung beruht und die die zweckentsprechende
Benützung des belasteten Grundstücks nicht behindert oder wesentlich mehr als
bisher einschränkt. Erst wenn die - verglichen mit dem früheren Zustand -
gesteigerte Inanspruchnahme des belasteten Grundstücks zur Befriedigung der
Bedürfnisse des herrschenden Grundstücks eine erhebliche Überschreitung der
ungemessenen Dienstbarkeit bedeutet, liegt eine unzumutbare Mehrbelastung vor.
Diesfalls muss die Zunahme aber derart stark sein, dass mit Sicherheit
angenommen werden kann, sie überschreite die Grenze dessen, was bei der
Begründung der Dienstbarkeit vernünftigerweise in Betracht gezogen worden sein
könnte (BGE 131 III 345 E. 4.3.2 S. 359; für ein Fahrwegrecht: Urteile 5C.282/
2005 vom 13. Januar 2006 E. 5.1, in: ZBGR 88/2007 S. 483 f., und 5A_602/2012
vom 21. Dezember 2012 E. 4).

7.4 Zur konkreten Bestimmung der Bedürfnisse des berechtigten Grundstücks Nr.
45, die die Beschwerdeführer bemängeln, ergibt sich Folgendes:

7.4.1 Das Bezirksgericht hat aufgrund des Zwecks der Dienstbarkeit (E. 7.2)
festgestellt, die Bedürfnisse der Liegenschaft Nr. 45 bestünden grundsätzlich
darin, eine direkte Verbindung zur nördlichen S.-bergstrasse zu haben und zu
diesem Zweck das Grundstück Nr. 289 zu Fuss und mit Fahrzeugen zu überqueren.
Zur näheren Bestimmung dieser Bedürfnisse hat es das Bezirksgericht abgelehnt,
öffentlich-rechtliche Vorschriften und insbesondere Normen öffentlicher
Strassen und Wege wie Zugangsnormalien oder andere Empfehlungen beizuziehen, da
es sich vorliegend um ein privatrechtliches, zwischen zwei Parteien vertraglich
festgelegtes Wegrecht handle und sich der Inhalt des Wegrechts nicht nach
öffentlich-rechtlichen oder anderen Vorgaben richte, sondern allein nach dem
Vertragsinhalt.

7.4.2 Grundlage der Dienstbarkeit ist das Vertragsrecht. Vorschriften des
öffentlichen Rechts können den Inhalt der Dienstbarkeit dann (mit-)bestimmen,
wenn im Dienstbarkeitsvertrag darauf verwiesen wird (z.B. BGE 137 III 444 E.
4.2 S. 450 ff.) oder wenn die Dienstbarkeit vor dem Hintergrund einer
öffentlich-rechtlichen Regelung begründet wird (z.B. BGE 131 III 345 E. 1.3 und
E. 2.1.2 S. 348 f.; Urteil 5C.240/2004 vom 21. Januar 2005 E. 4, in: ZBGR 87/
2006 S. 158 f.). Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass
BGE 139 III 404 S. 409
sich der Inhalt des Eigentums und damit auch der beschränkten dinglichen Rechte
aufgrund der geltenden schweizerischen Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit
bestimmt. Dazu gehört neben dem privaten ebenso das öffentliche Recht des
Bundes und der Kantone auf Gesetzes- und Verordnungsstufe. Es ist deshalb nicht
unzulässig, in der Beurteilung der Frage, was für Anforderungen an ein Wegrecht
zu stellen sind, damit es die Bedürfnisse des berechtigten Grundstücks
befriedigt, auch die öffentlich-rechtlichen Vorgaben oder hier die Empfehlungen
der Vereinigung der Schweizerischen Strassenfachleute (VSS-Normalien) an die
Erstellung und Gestaltung von Privatstrassen zu berücksichtigen (Urteil 5C.238/
1991 vom 29. April 1992 E. 2, zum Einbezug kantonaler Zugangsnormalien).

7.4.3 Die VSS-Empfehlungen, auf die § 12 der Verordnung des Regierungsrates vom
15. Dezember 1992 zum Gesetz über Strassen und Wege vom 14. September 1992 (RB
725.10) verweist, sehen für Grundstückzufahrten des Typs A "Zufahrtsweg" eine
Breite von 3 m beim Befahren vor (Ziff. 7) und verlangen längs von Mauern,
Hecken und Zäunen seitlich der Grundstückzufahrt eine zusätzliche lichte Breite
von mindestens 20 cm (Ziff. 8 der Schweizer Norm, SN 640 050). Privatrechtlich
kann diese Mindestbreite unterschritten werden, so dass von der gerichtlich
festgestellten Breite der Fahrbahn des Zufahrtswegs von 2,3 m auszugehen ist.
Die Beschwerdeführer haben die Fahrbahnbreite nicht mehr angefochten, fordern
aber auf jeder Seite längs der Hecke und des Zauns ein Bankett von 20 cm.
Aufgrund der Bedürfnisse des berechtigten Grundstücks kann ein Fahrweg von 2,7
m (Fahrbahn von 2,3 m mit je einem seitliche Bankett von 20 cm) für eine
normale Befahrbarkeit nicht als unangemessen beanstandet werden. Wie die
Beschwerdegegner im kantonalen Verfahren hervorgehoben haben, wurde der S.-berg
einst vom Grundstück der Beschwerdeführer aus auch landwirtschaftlich genutzt.
Nutzfahrzeuge und Ladewagen mit einer Breite von 2,5 m dürften somit keine
Seltenheit gewesen sein (vgl. aus der kantonalen Praxis: ZBGR 72/1991 S. 132
ff. E. 3). Dass die Benutzer des Wegs dem Holzzaun entlangschrammen, Pflanzen
aus den Lebhägen ausreissen oder Natursteinmäuerchen platt walzen, wie es schon
vorgekommen sein soll, dürfte nicht im Interesse der Beschwerdegegner liegen
und lässt sich auf einer Fahrbahn von 2,3 m mit Banketten von je 20 cm auch
eher vermeiden. Da das Wegrecht entlang der Grenze zur Parzelle Nr. 296
verläuft, aber ausschliesslich die Parzelle Nr. 289 belastet, kann der
Eigentümer der Parzelle
BGE 139 III 404 S. 410
Nr. 296 nicht verpflichtet werden, seinen Grenzzaun um 20 cm zurückzuversetzen.
Vielmehr sind die Beschwerdegegner als Eigentümer der Parzelle Nr. 289 zu
verpflichten, die gesamte Wegrechtsfläche mit einer Breite von 2,7 m zu
gewährleisten und folglich ihren Zaun um 40 cm zurückzuversetzen und ihre
Pflanzen um 40 cm zurückzuschneiden, damit beidseitig der Fahrbahn ein
Randstreifen von 20 cm gewährleistet werden kann.

7.4.4 Mit Bezug auf das niedrige Sandsteinmäuerchen längs des Zufahrtswegs
beantragen die Beschwerdeführer lediglich ein Zurücksetzen um 20 cm, d.h. einen
Abstand von 2,5 cm von der Grenze zur Parzelle Nr. 296. Damit hat es sein
Bewenden (Art. 107 Abs. 1 BGG).

7.4.5 Die Beschwerdeführer verlangen zusätzlich ein Stutzen der Pflanzen bis
zur Höhe von 2,5 m über dem Fahrweg. Die beantragte lichte Höhe von 2,5 m
entspricht § 42 Abs. 2 des Gesetzes vom 14. September 1992 über Strassen und
Wege (RB 725.1) und erscheint für eine normale Befahrbarkeit als angemessen.

7.5 Gegen die Gutheissung der Beschwerdebegehren wenden die Beschwerdegegner
wie schon im kantonalen Verfahren ein, der Fahrweg über ihr Grundstück sei
keine Erschliessungsstrasse zur öffentlichen S.-bergstrasse im Norden. Das
Grundstück der Beschwerdeführer sei vielmehr vom Süden her erschlossen, wo es
ebenfalls an die S.-bergstrasse grenze und wo sich der Briefkasten und ein
Hydrant befänden. Die Beschwerdeführer müssten die früher aufgeschüttete
Südzufahrt wieder herstellen. Es mag zutreffen, dass das Grundstück der
Beschwerdeführer aus öffentlich-rechtlicher Sicht von Süden her erschlossen
ist, wie das die Verfügung des Gemeinderates vom 19. März 2008 belegt, doch
ändert diese Erschliessung von Süden her nichts daran, dass das im Grundbuch
eingetragene Fuss- und Fahrwegrecht zulasten des Grundstücks der
Beschwerdegegner und zugunsten des Grundstücks der Beschwerdeführer mit dem
Inhalt und dem Umfang, wie hiervor (E. 7.4) beschrieben, zu Recht besteht und
ausgeübt werden darf. Dass die begehrten Randstreifen beidseits der Fahrbahn
die Benützung ihres Grundstückes erheblich mehr als bis anhin behinderten und
den Rahmen dessen sprengten, was die Parteien mit der Begründung des Wegrechts
vernünftigerweise gewollt haben dürften, machen die Beschwerdeführer nicht
geltend. Eine unzumutbare Mehrbelastung (E. 7.3) liegt insoweit nicht vor.