Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 139 III 358



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Urteilskopf

139 III 358

50. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Y.
(Beschwerde in Zivilsachen)
5A_352/2013 vom 22. August 2013

Regeste

Art. 106 Abs. 1 und Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO; Kostenverteilung im
Scheidungsverfahren.
Bei Rückzug der Scheidungsklage sind die Prozesskosten grundsätzlich der
klagenden Partei aufzuerlegen (E. 3).

Sachverhalt ab Seite 358

BGE 139 III 358 S. 358

A. Y. reichte am 21. September 2011 beim Regionalgericht Bern-Mittelland eine
Klage auf Scheidung von seiner Ehefrau, X., ein. Die Einigungsverhandlung fand
am 7. Februar 2012 statt. Am 25. April 2012 reichte Y. die schriftlich
begründete Scheidungsklage ein und X. antwortete darauf am 27. August 2012. Das
Regionalgericht setzte die Hauptverhandlung auf den 11. Dezember 2012 an. Am 6.
Dezember 2012 zog Y. die Scheidungsklage zurück.
Hinsichtlich der Kostenliquidation beantragte X. darauf hin, die Gerichtskosten
Y. aufzuerlegen und ihn zu verurteilen, ihr eine Parteientschädigung von Fr.
8'000.- zu bezahlen. Y. beantragte, die Gerichtskosten zu halbieren und die
Parteikosten wettzuschlagen.
Mit Verfügung vom 7. Januar 2013 stellte der Gerichtspräsident des
Regionalgerichts den Klagerückzug fest und schrieb das Verfahren als
gegenstandslos ab. Die Gerichtskosten von Fr. 3'436.-
BGE 139 III 358 S. 359
auferlegte er den Parteien je zur Hälfte. Y. wurde verurteilt, X. eine
Parteientschädigung von Fr. 2'000.- (inkl. MwSt) zu bezahlen. Weitergehende
Parteikosten sollten die Parteien selber tragen.

B. Am 20. Januar 2013 erhob X. im Kostenpunkt Beschwerde an das Obergericht des
Kantons Bern. Sie verlangte, die Gerichtskosten Y. aufzuerlegen und ihn zur
Bezahlung einer Parteientschädigung von Fr. 8'000.- (inkl. MwSt) zu
verpflichten.
Mit Entscheid vom 8. April 2013 wies das Obergericht die Beschwerde
kostenfällig ab.

C. Am 13. Mai 2013 hat X. (Beschwerdeführerin) Beschwerde in Zivilsachen und
eventuell subsidiäre Verfassungsbeschwerde an das Bundesgericht erhoben. Sie
verlangt die Aufhebung des Entscheids des Obergerichts und beantragt, die
erstinstanzlichen Gerichtskosten Y. (Beschwerdegegner) aufzuerlegen und ihn zur
Bezahlung einer Parteientschädigung von Fr. 8'000.- (inkl. MwSt) zu
verpflichten. Desgleichen verlangt sie, ihm die obergerichtlichen
Gerichtskosten aufzuerlegen und ihn zur Bezahlung einer Parteientschädigung von
Fr. 1'400.- (inkl. MwSt) zu verurteilen.
Das Obergericht beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten
sei. Der Beschwerdegegner ersucht um Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, auferlegt dem Beschwerdegegner die
Gerichtskosten des kantonalen Verfahrens und verpflichtet ihn, die
Beschwerdeführerin für das kantonale Verfahren zu entschädigen. Zur Bestimmung
dieser Parteientschädigungen weist es die Sache an das Obergericht zurück.
(Zusammenfassung)

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2. Nach Ansicht des Obergerichts sind die Kosten im Scheidungsverfahren stets
nach Ermessen (Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO) zu verteilen, also auch dann, wenn -
wie im vorliegenden Fall - die klagende Partei die Klage zurückgezogen hat.
Bereits die frühere Zivilprozessordnung des Kantons Bern (Gesetz vom 7. Juli
1918 über die Zivilprozessordnung) habe in Art. 58 eine Möglichkeit zur
ermessensweisen Kostenverteilung enthalten. Die Verteilung abweichend vom
Unterliegerprinzip (wie es in Art. 106 Abs. 1 ZPO zum Ausdruck komme) solle die
Parteien veranlassen,
BGE 139 III 358 S. 360
Streitigkeiten wenn möglich aussergerichtlich zu erledigen. Der Anreiz zur
aussergerichtlichen Einigung müsse auf beiden Seiten bestehen, weshalb auch die
Kostenfolge beiden Seiten drohen soll. Bei einer Verteilung nach
Unterliegerprinzip würde der Anreiz zu einer Einigung für die klagende Partei
wegfallen. Nach der Botschaft zur ZPO sollten zumindest Scheidungen auf
gemeinsames Begehren generell Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO unterstehen. Art. 107
Abs. 1 lit. c ZPO umfasse jedoch nicht nur Scheidungen auf gemeinsames
Begehren, sondern alle eherechtlichen Verfahren und damit auch
Scheidungsklagen, weshalb auch in diesem Fall die Kosten nach Ermessen zu
verteilen seien. Nach der Berner Praxis seien die Gerichtskosten grundsätzlich
- und auch im vorliegenden Falle - den Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen.
Grundsätzlich trügen nach der Berner Praxis sodann die Parteien ihre jeweiligen
Parteikosten selber. Vorliegend habe der Beschwerdegegner die
Beschwerdeführerin jedoch mit Fr. 2'000.- zu entschädigen, da er durch den
späten Rückzug der Klage erst kurz vor der Hauptverhandlung unnötige Kosten
verursacht habe (Art. 108 ZPO).

3. Gemäss Art. 106 Abs. 1 ZPO werden die Prozesskosten (d.h. Gerichtskosten und
Parteientschädigung; Art. 95 Abs. 1 ZPO) der unterliegenden Partei auferlegt.
Bei Nichteintreten und bei Klagerückzug gilt die klagende Partei als
unterliegend, bei Klageanerkennung die beklagte Partei. Art. 107 ZPO sieht für
verschiedene typisierte Fälle vor, dass das Gericht von den
Verteilungsgrundsätzen gemäss Art. 106 ZPO abweichen und die Prozesskosten nach
Ermessen verteilen kann (vgl. BGE 139 III 33 E. 4.2 S. 35). Dies ist unter
anderem "in familienrechtlichen Verfahren" der Fall (Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO
).
Unzulässig ist es jedenfalls, unter Berufung auf die Ermessensbestimmung von
Art. 107 ZPO eine bisherige kantonale Regelung und Praxis einfach
weiterzuführen. Die Rechtsanwendung muss vor der eidgenössischen ZPO
standhalten und an diesem Massstab entscheidet sich, ob eine Anordnung, die im
Ergebnis einer früheren kantonalen Regelung oder Praxis entspricht, zulässig
ist oder nicht. Nach seinem klaren Wortlaut ist Art. 107 ZPO eine
"Kann"-Bestimmung. Das Gericht verfügt im Anwendungsbereich dieser Norm nicht
nur über Ermessen, wie es die Kosten verteilen will, sondern zunächst und
insbesondere bei der Frage, ob es überhaupt von den allgemeinen
Verteilungsgrundsätzen nach Art. 106 ZPO abweichen will. Im Zusammenhang mit
Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO ist allerdings
BGE 139 III 358 S. 361
umstritten, wie dieses "Kann" im Ingress dieser Norm zu verstehen ist und
welches das Verhältnis zu Art. 106 ZPO ist. Während manche Autoren in
familienrechtlichen Verfahren die ermessensweise Kostenverteilung gemäss Art.
107 ZPO zur Regel erheben (ROLAND FANKHAUSER, Das Scheidungsverfahren nach
neuer ZPO, FamPra.ch 2010 S. 754 f.; GASSER/RICKLI, Schweizerische
Zivilprozessordnung [ZPO], 2010, N. 1 f. zu Art. 107 ZPO; MARTIN H. STERCHI,
in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2012, N. 2 zu Art.
107 ZPO; ADRIAN URWYLER, in: Schweizerische Zivilprozessordnung [ZPO], Brunner/
Gasser/Schwander [Hrsg.], 2011, N. 5 zu Art. 107 ZPO; vgl. allgemein auch
FRANCESCO TREZZINI, in: Commentario al Codice di diritto processuale civile
svizzero [CPC] del 19 dicembre 2008, 2011, S. 437), bestehen andere darauf,
dass Art. 106 ZPO den Grundsatz darstelle und Art. 107 Abs. 1 lit. c ZPO nur
bei besonderen Umständen zum Zuge komme (DAVID JENNY, in: Kommentar zur
Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger
[Hrsg.], 2. Aufl. 2013, N. 12 zu Art. 107 ZPO; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND,
Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 2013, § 16 Rz. 36; im Ergebnis auch VIKTOR RÜEGG,
in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 2010, N. 1 f. zu Art.
107 ZPO); wieder andere sehen zwischen diesen Normen kein klares
Regel-Ausnahme-Verhältnis, sondern äussern sich zu einzelnen Fallgruppen, in
denen die eine oder andere Regel besser passe (DENIS TAPPY, in: CPC, Code de
procédure civile commenté, 2011, N. 18 ff. zu Art. 107 ZPO). Dazu, wie es sich
im Speziellen bei Rückzug einer Scheidungsklage verhält, äussert sich die Lehre
jedoch soweit ersichtlich nicht.
Auch den Materialien lässt sich dazu nichts Entscheidendes entnehmen: Art. 107
ZPO geht auf Art. 98 des Vorentwurfs der ZPO (VE-ZPO) zurück und der
letztgenannte Artikel enthielt gemäss seinem deutschen und französischen
Wortlaut die "Kann"-Formulierung noch nicht. Stattdessen sah er vor, dass das
Gericht die Kosten in den aufgezählten Fällen nach Ermessen verteilt, d.h.
also, dass das Gericht die Kosten in diesen Fällen immer nach Ermessen
verteilen muss (vgl. dazu auch FANKHAUSER, a.a.O., S. 755 Fn. 7). Allerdings
enthielt die italienische Fassung von Art. 98 VE-ZPO bereits die
"Kann"-Formulierung. Die "familienrechtlichen Verfahren" waren allerdings noch
nicht Gegenstand von Art. 98 VE-ZPO. Art. 105 des Entwurfs zur ZPO (E-ZPO)
enthielt dann, wie der geltende Art. 107 ZPO, in allen Fassungen die
"Kann"-Formulierung
BGE 139 III 358 S. 362
und die Norm erstreckte sich neu auch auf die familienrechtlichen Verfahren.
Die Formulierung im Entwurf scheint zahlreichen Anliegen aus der Vernehmlassung
zum Vorentwurf entgegengekommen zu sein (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur
Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], BBl 2006 7297 Ziff. 5.8.2 zu Art.
105 E-ZPO). In der Vernehmlassung wünschten manche zwecks Stärkung des
allgemeinen Grundsatzes des heutigen Art. 106 ZPO die Abschwächung der
Ermessensverteilung zur "Kann"-Bestimmung, andere - unter Hinweis auf bisherige
kantonale Regelungen und die entsprechende Praxis - die Aufnahme der
familienrechtlichen Verfahren in den Katalog des heutigen Art. 107 ZPO
(Zusammenstellung der Vernehmlassungen, 2004, S. 287 ff.). Der Botschaft lässt
sich im vorliegenden Zusammenhang nur entnehmen, dass der Billigkeitsnorm von
Art. 105 E-ZPO typischerweise die familienrechtlichen Verfahren unterstehen.
Bei Scheidungen auf gemeinsames Begehren liege ein billiger Kostenentscheid
sogar auf der Hand, da es sinnwidrig wäre, in diesen Verfahren von obsiegenden
und unterliegenden Parteien zu sprechen (Botschaft, a.a.O., 7297 Ziff. 5.8.2 zu
Art. 105 E-ZPO). Dass der Klagerückzug dem Unterliegerprinzip unterworfen sein
sollte, wurde im Übrigen ebenfalls erst im Entwurf in den Normtext aufgenommen
(Art. 104 Abs. 1 E-ZPO), nachdem dies im Vorentwurfsstadium einzig dem Bericht,
nicht aber dem Normtext zu entnehmen war (Bericht zum Vorentwurf der
Expertenkommission, 2003, zu Art. 97 VE-ZPO). Den Materialien lässt sich damit
weder eine Aussage zur Kostenverteilung bei Scheidung auf Klage noch zum
Spezialfall des Rückzugs der Scheidungsklage entnehmen.
Die Vorinstanz hat angeführt, die generelle Unterstellung des Rückzugs der
Scheidungsklage unter Art. 107 ZPO sei auch dadurch gerechtfertigt, dass sonst
ein Anreiz für die klagende Person zur Einigung bzw. Versöhnung wegfallen
würde. Dem kann nicht gefolgt werden: Die Vorinstanz weist zwar zu Recht darauf
hin, dass das Scheidungsrecht und das entsprechende Verfahrensrecht die
Einigung der Ehegatten über die Scheidung und ihre Folgen begünstigt. Dies hat
aber nichts mit der Frage zu tun, wie die Kosten zu verteilen sind, wenn es
nach Einreichung einer Scheidungsklage nicht zu einer solchen Einigung (und
gegebenenfalls der Weiterführung des Scheidungsverfahrens als solchem auf
gemeinsames Begehren) kommt, sondern zu einem Klagerückzug. Auch ein
wesentlicher Zusammenhang mit den Aussichten auf eine Versöhnung (also dem
BGE 139 III 358 S. 363
Verzicht auf ein Scheidungsverfahren) ist nicht ersichtlich: Ein
Scheidungsverfahren hat einschneidende Konsequenzen in persönlicher und häufig
auch in finanzieller Hinsicht. Diese Gesichtspunkte stehen im Vordergrund bei
der Frage, ob eine Versöhnung erzielt werden kann. Eine Versöhnung ist zudem am
ehesten im Anfangsstadium eines Prozesses möglich, so dass die Prozesskosten
bis zu diesem Zeitpunkt in der Regel eher moderat ausfallen und sie deshalb für
die Versöhnungsaussichten kaum ins Gewicht fallen dürften. Im Übrigen hindert
die Parteien in einem solchen Fall nichts, einen Vergleich über die Kosten
abzuschliessen (Art. 109 ZPO).
Angesichts dessen, dass das Gesetz die Kostenverteilung bei Klagerückzug
ausdrücklich in Art. 106 Abs. 1 ZPO regelt und dass es sich bei Art. 107 ZPO um
eine blosse "Kann"-Bestimmung handelt, muss deshalb davon ausgegangen werden,
dass die Kosten bei Rückzug der Scheidungsklage grundsätzlich der klagenden
Partei aufzuerlegen sind. Die blosse Tatsache, dass es sich um ein
familienrechtliches Verfahren handelt, vermag ein Abrücken von der klaren
Regelung von Art. 106 Abs. 1 ZPO noch nicht zu rechtfertigen. Insbesondere ist
die vorliegende Konstellation weder mit einem durch materielles Urteil
abgeschlossenen Scheidungsverfahren vergleichbar, bei dem es allenfalls
schwierig ist, von unterliegender und obsiegender Partei zu sprechen, noch
lässt sie sich mit einer Scheidung auf gemeinsames Begehren vergleichen, wo die
Einleitung des gerichtlichen Verfahrens von den Ehegatten gemeinsam veranlasst
wird. Vorliegend hat vielmehr der Beschwerdegegner das Verfahren selber
eingeleitet und danach auch wieder parteiautonom beendet. Dass der
Beschwerdeführerin für den einen oder anderen Entscheid des Beschwerdegegners
eine Mitverantwortung zuzuordnen wäre, die sich kostenmässig auswirken müsste,
lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Auch andere Gründe, die
vorliegend für eine Abweichung von Art. 106 Abs. 1 ZPO sprechen könnten, nennt
das Obergericht keine. Es muss deshalb bei der Grundregel bleiben, dass der
Beschwerdegegner als unterliegend gilt und die Prozesskosten zu tragen hat. Er
trägt demnach die erstinstanzlichen Gerichtskosten und hat der
Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung für das erstinstanzliche Verfahren
zu entrichten. Da das Obergericht die Höhe der vollständigen
Parteientschädigung an die Beschwerdeführerin für das erstinstanzliche
Verfahren noch nicht bestimmt hat, ist die Angelegenheit zu diesem Zwecke an
die Vorinstanz zurückzuweisen.