Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 72



Urteilskopf

134 V 72

11. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. H. gegen
Helsana Versicherungen AG (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
K 136/06 vom 18. Januar 2008

Regeste

Art. 4 ATSG; Art. 1a Abs. 2 lit. b KVG; Unfallbegriff, ungewöhnlicher äusserer
Faktor. Wer sich beim Aufschlagen des Kopfes gegen das Lenkrad eines
Auto-Scooters eine Zahnverletzung zuzieht, erleidet einen Unfall im Rechtssinn
(Änderung der Rechtsprechung gemäss Urteil K 90/03 vom 4. November 2005, publ.
in: RKUV 2006 Nr. KV 351 S. 3; E. 2-5).

Sachverhalt ab Seite 73

BGE 134 V 72 S. 73

A. Der 1996 geborene H. ist bei der Helsana Versicherungen AG obligatorisch
krankenpflege- und unfallversichert. Als er am 2. Juli 2005 auf einem Jahrmarkt
in X. einen Auto-Scooter lenkte, schlug er bei einem Zusammenstoss mit dem Kopf
am Lenkrad auf und zog sich dabei eine Schädigung mehrerer Zähne zu (...). Der
Zahnarzt repositionierte und fixierte die betroffenen Zähne mittels einer
Traumaschiene. Die definitive Versorgung stellte er mit Blick auf mögliche
Langzeitfolgen zurück; es sei eine mindestens fünfjährige Beobachtung nötig.
Die Helsana lehnte die Vergütung der Behandlungskosten von Fr. 564.20 ab, weil
das zum Zahnschaden führende Geschehen keinem Unfall im Rechtssinn entspreche
(mit Einspracheentscheid vom 16. Dezember 2005 bestätigte Verfügung vom 19.
Oktober 2005).

B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 25. September 2006).

C. H. lässt, gesetzlich vertreten durch seinen Vater,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, die Helsana sei,
unter Aufhebung von vorinstanzlichem und Einspracheentscheid, zu verpflichten,
ihm für die Folgen des Unfalls vom 2. Juli 2005 die gesetzlichen Leistungen
(Vergütung der Zahnbehandlung) zu erbringen.
Die Helsana und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus
BGE 134 V 72 S. 74
den Erwägungen:

2. Streitig ist, ob der Beschwerdeführer einen Unfall im Rechtssinn erlitten
und deswegen einen grundsätzlichen Anspruch darauf hat, dass ihm im Rahmen der
obligatorischen Kranken- und Unfallversicherung gemäss KVG zahnärztliche Kosten
vergütet werden.

2.1 Die soziale Krankenversicherung gewährt Leistungen bei Krankheit und
Mutterschaft sowie bei Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG, soweit dafür keine
Unfallversicherung aufkommt, das heisst sofern und soweit die Versicherung
nicht zufolge entsprechender UVG-Deckung sistiert ist (Art. 1a Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 8 KVG). Dementsprechend übernimmt die obligatorische
Krankenpflegeversicherung die Kosten der Behandlung von Schäden des Kausystems,
wenn diese durch einen Unfall verursacht worden sind (Art. 31 Abs. 2 KVG;
GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in: Ulrich Meyer [Hrsg.], Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Band XIV, Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel
2007, S. 550 ff. Rz. 452 ff.). Weitergehend fällt die zahnärztliche Behandlung
nur unter den Schutz der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, wenn sie
durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems oder durch eine
schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt ist, oder wenn sie zur
Behandlung einer schweren Allgemeinerkrankung oder ihrer Folgen notwendig ist
(Art. 31 Abs. 1 lit. a-c KVG).
Entgegen dem Wortlaut des Rechtsbegehrens umfasst der Leistungsanspruch nicht
die zahnärztliche Behandlung als solche, wie dies in der Militär- oder
Unfallversicherung der Fall ist (Naturalleistungsprinzip); die Krankenkasse
trifft vielmehr bei Bejahung der Leistungsvoraussetzungen nur die Pflicht, die
zahnärztlichen Behandlungskosten nach Massgabe der einschlägigen gesetzlichen
Bestimmungen zu vergüten (Art. 24 und 28 KVG; Kostenvergütungsprinzip; UELI
KIESER, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, Rz. 5 zu Art. 14 ATSG).

2.2 Unfall ist die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines
ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine
Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder
den Tod zur Folge hat (Art. 4 ATSG). Diese Legaldefinition gilt seit dem 1.
Januar 2003 auch im Gebiet der obligatorischen Krankenversicherung (Art. 1 Abs.
1 KVG). Sie führt, wie schon die bis Ende 2002 in Kraft gestandenen Art. 9 Abs.
1 UVV und 2 Abs. 2 KVG (BGE 129 V 402 E. 2.1 S. 404; BGE 122 V 230 E. 1 S.
232), die ständige Rechtsprechung zum Unfallbegriff weiter, an deren Geltung
sich mit dem Inkrafttreten des ATSG zu Beginn des Jahres 2003 also nichts
änderte (RKUV 2004 Nr. U 530 S. 576 = SVR 2005 UV Nr. 2 S. 4, U 123/04; BBl
1999 S. 4544 f.; KIESER, a.a.O., Rz. 2 ff. zu Art. 4 ATSG).

2.3 Es steht fest, dass vier der fünf Tatbestandsmerkmale des Unfallbegriffs -
Körperverletzung, äussere Einwirkung, Plötzlichkeit und fehlende Absicht -
gegeben sind. Verwaltung und Vorinstanz erachten hingegen die erforderliche
Ungewöhnlichkeit der äusseren Einwirkung als nicht gegeben.

3.

3.1 Der Beschwerdeführer suchte als neunjähriges Kind einen Jahrmarkt
("Chilbi") auf und absolvierte dort eine Fahrt in einer Auto-Scooter-Anlage (je
nach Dialektraum auch "Putschauto", "Putschibahn" oder anders geheissen; vgl.
dazu ULRICH AMMON et al., Variantenwörterbuch des Deutschen, Berlin/New York
2004, S. 707). Dabei handelt es sich um ein Fahrgeschäft, bei welchem "kleine
Elektroautos, die über Stromabnehmer versorgt werden, frei über eine Fläche
gesteuert werden, wobei die Fahrzeuge gegen Rempler mit einem breiten
umlaufenden Gummiring gesichert sind. (...) Im Innenraum der Fahrzeuge befindet
sich das mittig angebrachte Lenkrad und ein Pedal im Fussbereich des linken
Sitzes. (...) Da alle Elektroautos in gleicher Höhe einen rundumlaufenden
Gummipuffer besitzen, sind bei den niedrigen Geschwindigkeiten der Autos
Unfälle wie Frontalzusammenstösse oder Auffahrunfälle nahezu ungefährlich"
(aus: Wikipedia - Die freie Enzyklopädie, http://de.wikipedia.org/wiki/
Autoscooter). Gleichwohl zog sich der Versicherte nicht unerhebliche
Verletzungen im Bereich von Gebiss und Zahnfleisch zu, als er infolge eines
Zusammenstosses mit dem Mund am Lenkrad anschlug.
Die Krankenversicherung lehnte die Vergütung der dadurch entstandenen
zahnärztlichen Kosten unter Hinweis auf ein Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts vom 4. November 2005 ab. Es liege begrifflich kein
versicherter Unfall vor, da kein ungewöhnlicher äusserer Faktor ausgewiesen
sei, der schädigend auf den Körper eingewirkt habe. Auf die konkrete Wirkung
des äusseren Faktors komme es nicht an.

3.2
BGE 134 V 72 S. 76
Das Eidg. Versicherungsgericht erwog mit Urteil K 90/03 vom 4. November 2005,
auszugsweise publ. in: RKUV 2006 Nr. KV 351 S. 3, der Zusammenstoss von
Auto-Scootern stelle nichts Ungewöhnliches dar. Da sich die Ungewöhnlichkeit
nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf diesen selber
beziehen könne, ändere sich daran durch das Anschlagen des Mundes nichts. Eine
äussere Einwirkung liege zwar vor; doch sei die Verletzung durch eine heftige
Körperbewegung verursacht worden, die ihrerseits Folge des gewollten
Zusammenstosses sei. Zweck der Vergnügungsfahrt sei, sich einem
unkoordinierten, unprogrammierten und damit auch von vornherein
unkontrollierbaren Bewegungsablauf auszusetzen. Der gesamte Bewegungsablauf
bilde eine Einheit. Daher könne auch die Störung der - durch den Aufprall
ausgelösten - unkontrollierbaren Bewegung des Körpers durch das Hindernis
Lenkrad nicht als Programmwidrigkeit angesehen werden, welche eine
Ungewöhnlichkeit begründen würde. Ein Anschlagen des Kiefers liege nicht
ausserhalb des Alltäglichen und Üblichen (E. 3.3).

3.3 Zu prüfen ist, ob an der Praxis zum Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit
des äusseren Faktors festzuhalten ist, soweit sie bei einem Geschehen wie dem
hier zu beurteilenden zur Verneinung eines Unfalls im Rechtssinn führt.
Eine Änderung der Rechtsprechung setzt wichtige Gründe voraus. Sie lässt sich
mit der Rechtssicherheit grundsätzlich nur vereinbaren, wenn die neue Lösung
besserer Erkenntnis der Ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder
gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (BGE 133 V 37 E. 5.3.3 S. 39; BGE 132
III 770 E. 4 S. 777; BGE 132 V 357 E. 3.2.4.1 S. 360 mit Hinweisen).

4.

4.1 Der äussere Faktor ist ungewöhnlich, wenn er - nach einem objektiven
Massstab - nicht mehr im Rahmen dessen liegt, was für den jeweiligen
Lebensbereich alltäglich und üblich ist (BGE 129 V 402 E. 2.1 S. 404).

4.1.1 Der äussere Faktor ist zentrales Begriffscharakteristikum eines jeden
Unfallereignisses; er ist Gegenstück zur - den Krankheitsbegriff
konstituierenden - inneren Ursache. Die Bezeichnung der massgebenden Genese
wird aber erst durch die weiter erforderliche Ungewöhnlichkeit des äusseren
Faktors ermöglicht. Die meisten Krankheiten beruhen auf einer Wechselwirkung
von inneren
BGE 134 V 72 S. 77
und äusseren Faktoren; oft ist die letztlich pathogene innere Ursache
ihrerseits ohne Umwelteinflüsse nicht denkbar. Das Begriffsmerkmal der
Ungewöhnlichkeit wurde entwickelt, um die "tausendfältigen kleinen und
kleinsten Insulte des täglichen Lebens, die als solche gänzlich
unkontrollierbar sind und deshalb nur beim Hinzutreten von etwas Besonderem
Berücksichtigung finden sollen", aus dem Unfallbegriff auszuscheiden (WERNER
LAUBER, Praxis des sozialen Unfallversicherungsrechts der Schweiz, Bern 1928,
S. 298; ALFRED BÜHLER, Der Unfallbegriff, in: Alfred Koller [Hrsg.],
Haftpflicht- und Versicherungsrechtstagung 1995, S. 234). Das Merkmal des
Ungewöhnlichen macht den alltäglichen Vorgang zum einmaligen Vorfall(EVGE 1944
S. 103 E. 2). Einwirkungen, die aus alltäglichen Vorgängen resultieren, taugen
in aller Regel nicht als Ursache einer Gesundheitsschädigung. Liegt der Grund
somit allein im Innern des Körpers, ist Krankheit gegeben. Daran ändert die
blosse Auslösung des Gesundheitsschadens durch einen äusseren Faktor nichts;
Unfall setzt vielmehr begrifflich voraus, dass das exogene Element so
ungewöhnlich ist, dass eine endogene Verursachung ausser Betracht fällt.

4.1.2 PAUL PICCARD hat dem Erfordernis einer Abgrenzung von Unfall und
Krankheit erstmalig Ausdruck verliehen. In seinem Werk "Haftpflichtpraxis und
Soziale Unfallversicherung" (Zürich 1917) hat er zum Erfordernis eines
ungewöhnlichen äusseren Faktors ausgeführt, die Ungewöhnlichkeit des auf den
Körper einwirkenden schädigenden Faktors sei als Kriterium zur Ausscheidung von
(nicht versicherten) Krankheiten unentbehrlich, während sichtbare äussere
Verletzungen auch dann als Unfälle zu qualifizieren seien, wenn es sich um
erfahrungsgemäss recht häufige Einwirkungen handle wie beispielsweise die
Verletzung der Hand mit dem Taschenmesser (S. 27 f.; derselbe, in: Gelpke/
Schlatter [Hrsg.], Unfallkunde, 2. Aufl., Bern 1930, S. 38 f.). Die spätere
Lehre hat diese Sichtweise beibehalten (GIORGIO/NABHOLZ, Die schweizerische
obligatorische Unfallversicherung, Zürich 1918, S. 116 f.; LAUBER, a.a.O., S.
92 f.; HAYMANN, La notion d'accident dans l'assurance obligatoire contre les
accidents en Suisse, in: Revue internationale du travail, Genf 1937, S. 629
ff.; Alfred Maurer, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen
Unfallversicherung, 2. Aufl., Bern 1963, S. 88; derselbe, Schweizerisches
Unfallversicherungsrecht, Bern 1985, S. 167; ALDO BORELLA, La giurisprudenza
del Tribunale federale delle assicurazioni sulla nozione d'infortunio, in: Temi
scelti di
BGE 134 V 72 S. 78
diritto delle assicurazioni sociali, Basel 2006, S. 12; JEAN-MAURICE FRÉSARD/
MARGIT MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: SBVR, a.a.O., S.
860 Rz. 71).

4.2

4.2.1 Die ältere Rechtsprechung hat vor allem auf das Element der
Ungewöhnlichkeit Bezug genommen, wenn es darum ging, krankhafte Schädigungen
abzugrenzen, dies namentlich bei arbeitsbedingten Überanstrengungen und
körpereigenen Traumen (vgl. dazu BORELLA, a.a.O., S. 10 und 13). Statt vieler
sei das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 11/60 vom 6. April 1960
(zitiert bei MAURER, Recht und Praxis S. 88 Fn. 19a) genannt: Das Gericht
verneinte die Ungewöhnlichkeit, weil beim Tragen einer Last von 100 Kilogramm,
einer für den Versicherten berufsüblichen Arbeit, nichts Ungewöhnliches
geschah. Könne eine bestimmte Körperverletzung ebenso gut rein krankhafter
Natur sein, so dürfe auf unfallmässige Entstehung nur geschlossen werden, wenn
ein plötzlich aufgetretener ungewöhnlicher äusserer Faktor schädigend auf den
Körper des Patienten eingewirkt habe. Der Wirbelbruch war denn auch auf eine
vorbestehende Osteoporose zurückzuführen.

4.2.2 Im Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 32/82 vom 7. Februar 1984
(wiedergegeben in: SUVA-Bericht 1984 Nr. 2 S. 3) wies das Gericht zunächst auf
die Rechtsprechung hin, wonach bei Gesundheitsschädigungen, die
erfahrungsgemäss auch als alleinige Folge von Krankheit bei durchaus normalem
Geschehensablauf auftreten könnten, die Merkmale des Unfallbegriffs besonders
deutlich erfüllt sein müssten; vor allem müsse dann die unmittelbare Ursache
der Schädigung unter besonders sinnfälligen Umständen gesetzt worden sein (vgl.
SUVA-Bericht 1980 Nr. 5 S. 9, E. 1b, U 1/80). Sodann hat es erkannt, wenn ein
Taucher beim Aufstieg zu wenig Luft abgebe und deswegen einen - in jenem Fall
letztlich tödlichen - Lungenriss erleide, so sei nicht der (in der Lunge
entstandene) Überdruck als solcher auslösendes Moment, sondern die
unzureichende Luftabgabe durch den Versicherten während des Auftauchens. Der
Mechanismus der Luftabgabe sei ein physiologisches Geschehen, das sich im
Körperinnern abspiele. Der Unfallcharakter könne nur bejaht werden, wenn die
Fehlreaktion in sinnfälligen äusseren Umständen begründet liege. Es sei aber
nicht erstellt, dass ein unerwartetes, schreckendes Ereignis wie beispielsweise
ein grosser Fisch oder eine plötzliche starke Wasserbewegung die zur Abwendung
eines Lungenüberdrucks erforderliche
BGE 134 V 72 S. 79
automatische oder willkürliche Tätigkeit der Atemmuskulatur behindert habe. Das
Kriterium eines ungewöhnlichen äusseren Faktors sei daher zu verneinen, weshalb
kein versicherter Unfall vorliege (vgl. auch RKUV 2005 Nr. U 539 S. 119, U 203/
04; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 220/96 vom 13. Juli 1998). Dieser
Entscheid wurde in der Lehre mit dem Argument kritisiert, der plötzliche
Druckabfall sei ungewöhnlich, weil er den Rahmen des im betreffenden
Lebensbereich Alltäglichen und Üblichen sprenge (GUIDO BRUSA, Tauchunfall, in:
SZS 1986 S. 30 ff.; BÜHLER, a.a.O., S. 233). Von der SUVA wurde er offenbar
seit Jahren nicht mehr befolgt (ROLAND SCHAER, in: ZBJV 142/2006 S. 721).

4.2.3 Bisweilen wurden bei der Beurteilung der Ungewöhnlichkeit des äusseren
Faktors persönliche Eigenschaften - wie die Konstitution oder die berufliche
oder ausserberufliche Gewöhnung - berücksichtigt (vgl. BGE 116 V 136 E. 3b S.
139; RKUV 1994 Nr. U 180 S. 38, E. 2, U 109/92). Im Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts U 43/92 vom 14. September 1992, teilweise publ. in: RKUV
1992 Nr. U 156 S. 258, war für die Annahme, ein Hechtsprung (saut de carpe),
der zu einer Knöchelverletzung führte, sei "programmwidrig" verlaufen,
wesentlich, dass die Versicherte eine geübte Turnerin war; "il en irait
autrement si une personne ne pratiquant pas la gymnastique tentait d'effectuer
un saut de carpe: il serait alors fort possible que l'exercice se déroule mal,
de sorte qu'une mauvaise réception au sol ou un autre incident du même genre ne
présenterait pas un caractère extraordinaire ou inhabituel". Nach Auffassung
der Lehre sind die individuellen Fähigkeiten jedoch kein massgebendes Kriterium
für die - sich nach objektiven Gesichtspunkten richtende - Bejahung oder
Verneinung der Ungewöhnlichkeit (FRÉSARD/MOSER-SZELESS, a.a.O., S. 862 Rz. 75;
THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003, S.
114 Rz. 14; KIESER, a.a.O., Rz. 17 zu Art. 4 ATSG; BÜHLER, a.a.O., S. 234 f.,
244 f.; JEAN-LOUIS DUC, Les assurances sociales en Suisse, Lausanne 1995, S. 79
f., 81 f. Fn. 90 und 93; ROBERTO GARAVAGNO, La cause extraordinaire dans la
définition de l'accident, in: Cahiers genevois et romands de sécurité sociale
1993 S. 39 Ziff. 46).

4.3

4.3.1 Nach der Rechtsprechung bezieht sich das Begriffsmerkmal der
Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf
diesen selber. Ohne Belang für die Prüfung der Ungewöhnlichkeit ist insoweit,
dass der äussere Faktor allenfalls
BGE 134 V 72 S. 80
schwerwiegende, unerwartete Folgen nach sich zog (BGE 129 V 402 E. 2.1 S. 404).
Ausschlaggebend ist also, dass sich der äussere Faktor vom Normalmass an
Umwelteinwirkungen auf den menschlichen Körper abhebt. Ungewöhnliche
Auswirkungen allein begründen keine Ungewöhnlichkeit.

4.3.2 Hingegen ist die Wirkung, das heisst die Natur des Gesundheitsschadens,
mit Blick auf die Bedeutung des Abgrenzungskriteriums im Einzelfall durchaus
beachtlich.

4.3.2.1 Ein gesteigertes Abgrenzungsbedürfnis besteht dort, wo der
Gesundheitsschaden seiner Natur nach auch andere Ursachen als eine plötzliche
schädigende Einwirkung haben kann, also keine gesicherte Zuordnung zum exogenen
Faktor erlaubt. Dies gilt nach der Rechtsprechung insbesondere dann, wenn die
Gesundheitsschädigung erfahrungsgemäss auch als alleinige Folge von Krankheit,
insbesondere von vorbestandenen degenerativen Veränderungen eines Körperteils,
innerhalb eines durchaus normalen Geschehensablaufs auftreten kann. In solchen
Fällen muss die unmittelbare Ursache der Schädigung unter besonders
"sinnfälligen" Umständen gesetzt worden sein (BGE 99 V 136 E. 1 S. 138; RKUV
1999 Nr. U 345 S. 422, E. 2b, U 114/97). Ist eine Verletzung wiederholten
Mikrotraumata des täglichen Lebens zuzuschreiben, welche zu einer allmählichen
Abnützung geführt haben, so ist sie (im Bereich der obligatorischen
Unfallversicherung unter Vorbehalt von Art. 9 Abs. 2 UVV) als Krankheitsfolge
zu betrachten (RKUV 1986 Nr. K 685 S. 295, K 42/85; EVGE 1969 S. 24; zur
Bedeutung des weiteren Begriffselements der Plötzlichkeit in diesem
Zusammenhang vgl. RKUV 2001 Nr. U 437 S. 344, U 430/00 mit Hinweisen).
Somit wird eine Einwirkung ohne offensichtliche Schadensneigung erst durch das
Hinzukommen eines zusätzlichen Ereignisses zum ungewöhnlichen äusseren Faktor.
Stellt sich nach einer Fahrt auf einem Auto-Scooter (oder einer anderen
Vergnügungsbahn) beispielsweise ein Zervikalsyndrom infolge Distorsion der
Halswirbelsäule ein, so bedarf es - neben den üblichen auf den Körper
einwirkenden Kräften - eines schadensspezifischen Zusatzgeschehens, damit ein
Unfall angenommen werden kann (vgl. RKUV 1998 Nr. U 311 S. 468, U 2/97; 1996
Nr. U 253 S. 199, U 219/95; vgl. auch SVR 2006 UV Nr. 18 S. 65, U 296/05).
Entsprechendes gilt mit Bezug auf eine Hyperflexionsbewegung der
Halswirbelsäule bei der Vollbremsung eines Autos ohne Kollision, weil es hier
um einen im betreffenden Lebensbereich alltäglichen und üblichen Vorgang geht,
zu dem nichts Besonderes ("Programmwidriges" oder "Sinnfälliges") hinzugetreten
ist (Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts U 131/03 vom 25. März 2004, E. 3.3
und 3.4, und U 349/99 vom 3. August 2000; vgl. auch Urteil U 79/98 vom 20. Juli
2000, E. 3). Ein solches Zusatzgeschehen - und mit diesem das Merkmal des
ungewöhnlichen äusseren Faktors im Sinne einer den normalen Bewegungsablauf
störenden Programmwidrigkeit - ist gegeben beieinem Skifahrer, der auf einer
Buckelpiste auf einer vereisten Stelle ausgleitet, ohne zu stürzen, danach
unkontrolliert einen Buckel anfährt, abgehoben wird und bei verdrehter
Oberkörperhaltung hart auf dem Boden aufschlägt (RKUV 1999 Nr. U 345 S. 420,U
114/97), nicht aber, wenn beim Skifahren auf einer steilen, buckligen Piste und
Kompression in einer Wellenmulde eine Diskushernie auftritt (SUVA-Bericht 1991
Nr. 3 S. 5, U 16/91).
BGE 134 V 72 S. 81

4.3.2.2 Ist die Gesundheitsschädigung hingegen typische Folge einer äusseren
Einwirkung, so erlaubt dies allenfalls, Rückschlüsse auf die Ungewöhnlichkeit
zu ziehen. Unter Umständen kann aufgrund des medizinischen Befunds erstellt
sein, dass eine Schädigung auf eine ungewöhnliche äussere Einwirkung und somit
auf ein Unfallereignis zurückzuführen ist. Der mangelnde Nachweis eines Unfalls
lässt sich zwar nur selten durch medizinische Feststellungen ersetzen. Diese
dienen mitunter aber als Indizien im Beweis für oder gegen das Vorliegen eines
Unfalls (RKUV 1996 Nr. U 253 S. 203, U 219/95, E. 4b mit Hinweis; MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 264). Im Bereich der
obligatorischen Unfallversicherung sind die in Art. 9 Abs. 2 UVV abschliessend
aufgezählten Schädigungen - im Wesentlichen des Bewegungsapparats, etwa von
Knochen, Muskeln, Sehnen und Bändern - denn auch selbst ohne ungewöhnliche
äussere Einwirkung Unfällen gleichgestellt, wenn sie nicht eindeutig auf eine
Erkrankung oder eine Degeneration zurückzuführen sind (vgl. BGE 129 V 466).
BGE 134 V 72 S. 82
Auch ausserhalb der unfallähnlichen Körperschädigungen kann es sich ergeben,
dass von der Auswirkung eines von aussen betrachtet regulär verlaufenden
Geschehens zwangsläufig auf einen tatsächlich ungewöhnlichen Verlauf
geschlossen werden muss. So hat das Eidg. Versicherungsgericht im Jahre 1964
festgehalten, es liege ein Unfall im Rechtssinn vor, wenn das Trommelfell eines
Wasserspringers durch den Wasserdruck perforiert wird. Wasser sei als
ungewöhnlicher äusserer Faktor zu bewerten, wenn es eine Gesundheitsschädigung
bewirke, indem es plötzlich in den Körper eines Badenden eindringe. Bei dem
umstrittenen Turmsprung habe durch das Untertauchen der äussere Druck auf das
Trommelfell plötzlich zugenommen, wie ein Schlag gewirkt und eine Perforation
verursacht. Wie ein geübter Mineur einmal ein akustisches Trauma erleiden oder
wie Wasser in das Mittelohr eindringen und zu einer tödlichen Infektion führen
könne, so vermöge auch unter Umständen der Wasserdruck das Trommelfell eines
Wasserspringers zu schädigen, zumal wenn dieser vom höchsten Brett abspringe.
Ob der Sprung technisch einwandfrei ausgeführt werde oder aber misslinge, sei
in diesem Zusammenhang unerheblich (EVGE 1964 S. 65 E. 2d S. 69 mit Hinweis;
vgl. nun Art. 9 Abs. 2 lit. h UVV).

4.3.3 Die hier interessierende Zahnverletzung infolge eines Zusammenstosses
während einer Auto-Scooter-Fahrt lässt sich - anders als ein Zervikalsyndrom
aus gleicher Ursache - ihrer Natur nach zweifelsfrei einem äusseren Faktor
zuordnen. Zudem ist mit dem Anschlagen des Kopfes am Lenkrad ein sinnfälliges
und nicht regelmässig bei Auto-Scooter-Fahrten vorkommendes Zusatzereignis
gegeben, das für sich allein die Ungewöhnlichkeit des Geschehens begründet.

5.

5.1 Die rechtliche Bestimmung des Kriteriums der Ungewöhnlichkeit besteht vorab
darin, Unfälle von krankheitsbedingten Schädigungen der körperlichen oder
psychischen Integrität abzugrenzen. An der Praxis, wonach das
Unfallbegriffsmerkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors bei Zahnschäden
verneint wird, die durch die Benützung von Auto-Scooter-Anlagen entstanden sind
(oben E. 3.2), kann zufolge besserer Erkenntnis der Ratio legis (E. 3.3) nicht
länger festgehalten werden. Die I. zivilrechtliche Abteilung und die I.
sozialrechtliche Abteilung haben dieser Änderung der Rechtsprechung zugestimmt
(Art. 23 Abs. 1 BGG).

5.2 Der Beschwerdeführer hat nach dem Gesagten einen versicherten Unfall
erlitten, weshalb der streitige Anspruch unter diesem Gesichtspunkt begründet
ist.