Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 401



Urteilskopf

134 V 401

46. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. G. gegen
Ausgleichskasse des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen
Angelegenheiten)
9C_901/2007 vom 8. Oktober 2008

Regeste

Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 29a BV; Art. 52 AHVG; Überprüfung des
Forderungsbetrages. Die von einer Schadenersatzforderung betroffene Person muss
auf Grund der Rechtsweggarantie die Möglichkeit gehabt haben, das Massliche der
Beitragsforderungen, für die sie haftbar gemacht wird, zumindest einmal bei
einer Gerichtsinstanz bestreiten zu können, die den Sachverhalt frei prüft. Aus
der Unternehmung ausgeschiedene frühere Organe haben bei späterer Zustellung
der Beitragsverfügung keine Möglichkeit mehr, in ihrer Organeigenschaft die
Beitragsverfügung anzufechten oder anfechten zu lassen, weshalb diese in ihrem
Falle im Rahmen des Schadenersatzverfahrens frei überprüfbar sein muss
(Präzisierung der Rechtsprechung in E. 5 [insbes. E. 5.4]).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 402

BGE 134 V 401 S. 402
Aus den Erwägungen:

5. Zu beantworten bleibt die Frage, in welchem zeitlichen Rahmen der
Beschwerdeführer ersatzpflichtig ist. Das kantonale Gericht hat für das
Bundesgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG) festgestellt, dass der
Beschwerdeführer am 1. November 2002 aus der Gesellschaft ausgeschieden ist. Ab
diesem Zeitpunkt hat es ihn - anders als noch die Verwaltung - von der
Ersatzpflicht ausgenommen und die Forderung soweit korrigiert.

5.1 Diese Anpassung ist grundsätzlich richtig, denn nach der Rechtsprechung ist
für das Ende der Organstellung auf das Datum des tatsächlichen Ausscheidens
abzustellen (anstelle vieler vgl. BGE 126 V 61 E. 4a sowie MARCO REICHMUTH, Die
Haftung des Arbeitgebers und seiner Organe nach Art. 52 AHVG, Diss. Freiburg
2008, Rz. 244 f. mit Hinweisen) und haftet eine Person grundsätzlich nur für
jenen Schaden, der durch die Nichtbezahlung von Beiträgen verursacht ist, die
zu einem Zeitpunkt zur Zahlung anstanden, als sie eine formelle, materielle
oder faktische Organstellung innehatte und somit disponieren sowie Zahlungen an
die Ausgleichskasse
BGE 134 V 401 S. 403
veranlassen konnte (vgl. BGE 103 V 120 E. 5 S. 123 sowie REICHMUTH, a.a.O., Rz.
256 f. mit Hinweisen).

5.2 Der Beschwerdeführer bringt vor, die Gesellschaft habe in der fraglichen
Zeit keine AHV-beitragspflichtigen Löhne bezahlt. Die Vorinstanz hat in diesem
Zusammenhang auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung verwiesen, wonach die
rechtskräftigen Beitragsverfügungen im Schadenersatzverfahren nicht mehr
anfechtbar sind, ausser wenn sie zweifellos unrichtig sind oder ein
Revisionsgrund vorliegt (AHI 1993 S. 172, E. 3a, H 155/91; ZAK 1991 S. 125, E.
II/1b, H 116/85). Diese Rechtsprechung findet auch auf Personen Anwendung,
denen im Zeitpunkt des Verfügungserlasses keine Organstellung mehr zukommt.
Dies ist damit begründet worden, dass für das Unternehmen ungeachtet der
personellen Zusammensetzung der Organe stets dasselbe Interesse bestehe, die
Frage des Beitragsstatus korrekt beantwortet zu haben, weil es als Arbeitgeber
von Gesetzes wegen der Schuldner der Beiträge und somit die Gefahr sehr gering
sei, dass ein Verzicht der Firma, von der Anfechtungsbefugnis Gebrauch zu
machen, auf sachfremden Motiven beruhe (SVR 2001 AHV Nr. 15 S. 51, E. 3b, H 136
/00). Es sei in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass jede juristische
Person an der Abwehr ungerechtfertigter Nachzahlungsforderungen interessiert
ist, einerseits weil sie keine Nichtschulden bezahlen wolle, andererseits weil
die für die juristische Person handelnden Organe wegen der allfälligen
persönlichen Haftung auch ein ganz besonderes Interesse daran hätten,
ungerechtfertigte Zahlungen abzuwehren (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts
H 14/00 vom 30. Juli 2001, E. 3d).

5.3 Gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK (SR 0.101) hat jedermann ein Recht darauf, dass
über Streitigkeiten in Bezug auf seine zivilrechtlichen Ansprüche und
Verpflichtungen von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz
beruhenden Gericht entschieden wird. Entsprechend dem vom Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weit gefassten Begriff der
"zivilrechtlichen" Ansprüche und Verpflichtungen hat das Eidg.
Versicherungsgericht die prinzipielle Anwendbarkeit des Art. 6 Ziff. 1 EMRK für
sämtliche Bereiche des Bundessozialversicherungsrechts - für Leistungs- ebenso
wie für Beitragsstreitigkeiten - bejaht (vgl. BGE 131 V 66 E. 3.3 S. 70 mit
Hinweisen). Am 1. Januar 2007 trat in Ergänzung zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK die
Rechtsweggarantie von Art. 29a BV in Kraft. Danach hat jede Person bei
Rechtsstreitigkeiten
BGE 134 V 401 S. 404
Anspruch auf Beurteilung durch eine richterliche Behörde. Bund und Kantone
können durch Gesetz die richterliche Beurteilung in Ausnahmefällen
ausschliessen. Es wird damit garantiert, dass eine betroffene Person ein
Gericht mit freier Rechts- und Sachverhaltsprüfung anrufen kann (KÄLIN/KIENER,
Grundrechte, Bern 2007, S. 434; ANDREAS KLEY, in: Bernhard Ehrenzeller/Philippe
Mastronardi/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallender [Hrsg.], Die Schweizerische
Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 15 zu Art. 29a BV mit
Hinweisen).

5.4 Die von einer Schadenersatzforderung betroffene Person muss auf Grund der
Rechtsweggarantie die Möglichkeit haben, das Massliche der Beitragsforderungen,
für die sie haftbar gemacht wird, zumindest einmal bei einer Gerichtsinstanz
bestreiten zu können, die den Sachverhalt frei prüft. Solange sie noch Organ
der Gesellschaft ist, hat sie die Möglichkeit, eine solche Beitragsverfügung
anzufechten, sei es direkt für die Gesellschaft oder indirekt, indem sie
innerhalb der Unternehmung darauf hinwirkt, dass die Verfügung angefochten und
die Rechtslage geklärt wird. Anders verhält es sich, wenn die ins Recht
gefasste Person im Zeitpunkt der betreffenden Beitragsverfügung nicht mehr
Organ der Gesellschaft ist: Aus der Unternehmung ausgeschiedene frühere Organe
haben bei späterer Zustellung der Beitragsverfügung in der Regel keine
Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, dass die Gesellschaft die Verfügung
anficht. Beitragsschuldnerin und damit Verfügungsadressatin ist die
Gesellschaft. Ein ehemaliges Gesellschaftsorgan ist nicht legitimiert, die
Beitragsforderung vor Gericht zu ziehen. Es ist auch nicht immer so, dass die
noch vorhandenen Organe zum Beispiel einer Unternehmung, deren Firmentätigkeit
eingeschlafen ist, sich noch ausreichend um die Verwaltung kümmern; darum wird
etwa eine Beitragsverfügung nicht mehr angefochten, auch wenn dazu aller Grund
bestehen würde, weil in der entsprechenden Periode tiefere als die veranlagten
oder gar keine beitragspflichtigen Lohnzahlungen erfolgten. Die bisherige
Rechtsprechung (oben E. 5.2) wonach rechtskräftige Beitragsverfügungen im
Schadenersatzprozess masslich nur eingeschränkt überprüfbar sind, ist darum zu
differenzieren:

5.5 Diese Rechtsprechung gilt weiterhin, soweit die Beitragsverfügungen zu
einem Zeitpunkt ergangen sind, als die ins Recht gefasste Person noch eine
formelle, materielle oder faktische Organstellung hatte und entsprechend auch
eine Einwirkungsmöglichkeit
BGE 134 V 401 S. 405
in der beitragspflichtigen Gesellschaft bestand. War hingegen die ins Recht
gefasste Person in diesem Zeitpunkt als Organ ausgeschieden und hatte sie
demzufolge keine Möglichkeit mehr, in ihrer Organeigenschaft die
Beitragsverfügung anzufechten oder anfechten zu lassen, muss die
Beitragsverfügung im Rahmen des Schadenersatzverfahrens frei überprüfbar sein.