Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 V 109



Urteilskopf

134 V 109

15. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Allianz
Suisse Versicherungs-Gesellschaft gegen M. und Assura Kranken- und
Unfallversicherung (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
U 394/06 vom 19. Februar 2008

Regeste

Art. 10, Art. 16, Art. 18, Art. 19 Abs. 1 UVG; Zeitpunkt des Fallabschlusses;
"verfrühte Adäquanzprüfung"; Schleudertrauma-Praxis. Zeitpunkt des
Fallabschlusses (unter Einstellung der vorübergehenden Leistungen und Prüfung
des Anspruchs auf eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung).
Kritische Auseinandersetzung mit dem Einwand der "verfrühten Adäquanzprüfung"
bei Schleudertrauma, äquivalenter Verletzung der Halswirbelsäule und
Schädel-Hirntrauma ohne organisch objektiv ausgewiesene Beschwerden (sog.
Schleudertrauma-Praxis; Präzisierung der Rechtsprechung; E. 3 und 4).

Regeste

Art. 6 Abs. 1 UVG; Schleudertrauma-Praxis. Beibehalten der besonderen
Adäquanzprüfung bei Unfall mit Schleudertrauma, äquivalenter Verletzung der
Halswirbelsäule oder Schädel-Hirntrauma ohne organisch objektiv ausgewiesene
Beschwerden (sog. Schleudertrauma-Praxis; E. 7-9). Anforderungen an den
Nachweis einer natürlich unfallkausalen Verletzung, welche die Anwendung der
Schleudertrauma-Praxis rechtfertigt, erhöht (Dokumentation des Unfallhergangs;
medizinische Erstabklärung; medizinische Begutachtung; Präzisierung der
Rechtsprechung; E. 9). Teilweise Modifikation der adäquanzrelevanten Kriterien
im Rahmen der Schleudertrauma-Praxis (Präzisierung der Rechtsprechung; E. 10).

Sachverhalt ab Seite 110

BGE 134 V 109 S. 110
A. Die 1948 geborene M. war als Pflegemitarbeiterin/Nachtwach-Hilfe im Alters-
und Pflegeheim X. angestellt und dadurch bei der Berner Allgemeine
Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Berner) obligatorisch gegen
Unfallfolgen versichert. Am 24. Oktober 2000 verlor M., als sie im Wald auf
einem liegenden Baumstamm
BGE 134 V 109 S. 111
stand, um Efeu von einem stehenden Baum zu schneiden, das Gleichgewicht und
stürzte mehrere Meter eine Böschung hinunter in ein Bachbett, wo sie, nach
einer Bewusstlosigkeit unbekannter Dauer, wieder zu sich kam. Im notfallmässig
aufgesuchten Kantonsspital Y. wurden eine Distorsion der Halswirbelsäule (HWS)
und eine commotio cerebri diagnostiziert, und es wurde eine volle
Arbeitsunfähigkeit bestätigt. Die Berner gewährte Heilbehandlung und richtete
ein Taggeld aus. Mit Verfügung vom 3. Dezember 2004 verneinte die Allianz
Suisse Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Allianz) als Rechtsnachfolgerin
der Berner rückwirkend ab 24. Juli 2002 jeglichen weiteren Leistungsanspruch,
da die darüber hinaus vorhandenen Gesundheitsbeschwerden nicht in einem
adäquaten Kausalzusammenhang zum Unfall vom 24. Oktober 2000 stünden. M. und
die Assura Kranken- und Unfallversicherung (nachfolgend: Assura) als ihr
obligatorischer Krankenpflegeversicherer erhoben je Einsprache. Die Allianz
hielt an der Verfügung fest (Einspracheentscheid vom 9. September 2005).

B. In Gutheissung der von M. und der Assura geführten Beschwerden hob das
Kantonsgericht Basel-Landschaft den Einspracheentscheid vom 9. September 2005
auf und verhielt die Allianz, die gesetzlichen Leistungen über den 24. Juli
2002 hinaus zu erbringen. Zur Begründung wurde ausgeführt, der
Unfallversicherer habe die Adäquanz zu früh geprüft.

C. Die Allianz führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben. M. und die Assura beantragen je die
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit
verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid die Bestimmungen über
die Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers bei Berufsunfällen,
Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten (Art. 6 Abs. 1 UVG), über den
Anspruch auf Heilbehandlung (Art. 10 Abs. 1 UVG), auf Taggeld (Art. 16 Abs. 1
UVG) und auf eine Invalidenrente (Art. 18 Abs. 1 UVG) richtig wiedergegeben.
Gleiches gilt für die Grundsätze über den für einen Leistungsanspruch nebst
anderem erforderlichen natürlichen
BGE 134 V 109 S. 112
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181 mit Hinweisen).
Ebenfalls zutreffend dargelegt ist die Rechtsprechung über den zusätzlich zum
natürlichen Kausalzusammenhang erforderlichen adäquaten Kausalzusammenhang.
Danach spielt im Sozialversicherungsrecht die Adäquanz als rechtliche
Eingrenzung der sich aus dem natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung
des Unfallversicherers im Bereich organisch objektiv ausgewiesener Unfallfolgen
praktisch keine Rolle, da sich hier die adäquate weitgehend mit der natürlichen
Kausalität deckt (BGE 127 V 102 E. 5b/bb S. 103 mit Hinweisen). Anders verhält
es sich bei natürlich unfallkausalen, aber organisch nicht objektiv
ausgewiesenen Beschwerden. Hier ist bei der Beurteilung der Adäquanz vom
augenfälligen Geschehensablauf auszugehen, und es sind je nachdem weitere
unfallbezogene Kriterien einzubeziehen (BGE 117 V 359 E. 6 S. 366 ff. und 369
E. 4 S. 382 ff.; BGE 115 V 133 E. 6 S. 138 ff.). Bei psychischen
Fehlentwicklungen nach Unfall werden diese Adäquanzkriterien unter Ausschluss
psychischer Aspekte geprüft (BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140), während bei
Schleudertraumen (BGE 117 V 359 E. 6a S. 367) und äquivalenten Verletzungen der
HWS (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67, E. 2, U 183/93) sowie Schädel-Hirntraumen (BGE
117 V 369 E. 4b S. 383) auf eine Differenzierung zwischen physischen und
psychischen Komponenten verzichtet wird (vgl. zum Ganzen auch BGE 127 V 102 E.
5b/bb S. 103 und SVR 2007 UV Nr. 8 S. 27, E. 2 ff., U 277/04, je mit
Hinweisen).

2.2 Zu ergänzen ist, dass sich der zu beurteilende Sachverhalt vor dem
Inkrafttreten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) am 1. Januar 2003 ereignet hat. Damit sind die
materiellrechtlichen Bestimmungen dieses Erlasses (zur sofortigen Anwendbarkeit
der formellrechtlichen Normen: BGE 130 V 1 E. 3.2 S. 4 mit Hinweisen) nicht
anwendbar (RKUV 2005 Nr. U 536 S. 57, U 126/04). Das ATSG hat im Übrigen nicht
zu einer inhaltlichen Änderung der für die Beurteilung massgeblichen
Bestimmungen und Grundsätze geführt. Das nachfolgend Gesagte gilt daher auch
unter der Herrschaft des ATSG.

3.

3.1 Während die Allianz in ihrem Einspracheentscheid in Anwendung der für
psychische Fehlentwicklungen nach Unfall geltenden Grundsätze einen adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und den persistierenden Beschwerden
verneint hatte, folgte
BGE 134 V 109 S. 113
die Vorinstanz in ihrem Urteil der Auffassung der Versicherten, die Allianz
habe den adäquaten Kausalzusammenhang verfrüht beurteilt und damit den Fall zu
früh abgeschlossen. Diese Prüfung sei erst nach Abschluss des normalen
unfallbedingten Heilungsprozesses vorzunehmen. Solange von der Fortsetzung der
ärztlichen Behandlung eine Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden
könne, sei es dem Unfallversicherer verwehrt, die Adäquanzprüfung vorzunehmen
und damit den Fallabschluss herbeizuführen. Im vorliegenden Fall sei ein
somatisches "Verbesserungspotenzial" vorhanden, und es bestehe hinsichtlich der
psychischen Beschwerden eine "Behandlungsbedürftigkeit".

3.2 Da das Gericht in jüngerer Zeit öfters mit Entscheidungen unterer
Instanzen, die eine verfrühte Adäquanzprüfung bejahten, befasst wird und selbst
Entscheide dieses Inhalts erlassen hat (vgl. etwa BGE 130 V 380 E. 2.3.1 S. 384
mit Hinweis; Urteil U 254/06 vom 6. März 2007, E. 6.1; Urteile des Eidg.
Versicherungsgerichts U 11/06 vom 12. Oktober 2006, E. 4.1; U 380/04 vom 15.
März 2005, E. 4.2, nicht publ. in: RKUV 2005 Nr. U 549 S. 236, und U 246/03 vom
11. Februar 2004, zusammengefasst und kommentiert in HAVE 2004 S. 119, E. 2.4
mit weiteren Hinweisen), erscheint es als geboten, vorweg die Frage zu prüfen,
in welchem Zeitpunkt der Unfallversicherer einen Fall abschliessen darf. Wenn
davon gesprochen wird, die Adäquanzprüfung sei zu früh erfolgt, so erschwert
dies das Verständnis insofern, als der Eindruck erweckt wird, die
Adäquanzprüfung sei die Prüfung einer Rechtsfrage besonderer Art. Dabei handelt
es sich um eine Rechtsfrage nebst anderen Rechtsfragen im Zusammenhang mit der
Prüfung der Leistungsansprüche. Zu fragen ist nicht danach, in welchem
Zeitpunkt die Adäquanzprüfung vorgenommen werden darf, sondern wann der
Unfallversicherer einen Fall abzuschliessen hat. Beim Abschluss hat er den
Anspruch auf eine Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung zu prüfen.

4. Die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des Unfallversicherungsgesetzes
ergibt diesbezüglich eine klare und in sich geschlossene Ordnung.

4.1 Der Dritte Titel des Gesetzes behandelt die Versicherungsleistungen. Das
erste Kapitel dieses Titels ist den Pflegeleistungen und Kostenvergütungen, das
zweite Kapitel den Geldleistungen und das dritte Kapitel deren Kürzung und
Verweigerung aus besonderen
BGE 134 V 109 S. 114
Gründen gewidmet. Kerngehalt der Pflegeleistungen bildet die Heilbehandlung in
Art. 10 UVG. Diese zählt wie das in Art. 16 f. UVG geregelte Taggeld und anders
als etwa die als klassische Dauerleistung geltende Invalidenrente gemäss Art.
18 ff. UVG zu den vorübergehenden Leistungen (vgl. BGE 133 V 57 E. 6.6 und 6.7
S. 63 ff. mit Hinweisen). Bis zu welchem Zeitpunkt Heilbehandlung und Taggeld
durch den Unfallversicherer zu gewähren sind, kann dem ersten Kapitel nicht
entnommen werden. Dieser Zeitpunkt ergibt sich indessen aus Art. 19 UVG des
zweiten Kapitels über Beginn und Ende der Invalidenrente, die, sofern die
Voraussetzungen für deren Ausrichtung erfüllt sind, den vorübergehenden
Leistungen folgt. Danach entsteht der Rentenanspruch, wenn von der Fortsetzung
der ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes des
Versicherten mehr erwartet werden kann und allfällige Eingliederungsmassnahmen
der Invalidenversicherung abgeschlossen sind (Abs. 1 erster Satz). Mit dem
Rentenbeginn fallen die Heilbehandlung und die Taggeldleistungen dahin (Abs. 1
zweiter Satz; vgl. auch Art. 16 Abs. 2 zweiter Satz UVG, wo dies für den
Taggeldanspruch nochmals statuiert wird). Nach konstanter Rechtsprechung heisst
dies, der Versicherer hat - sofern allfällige Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung abgeschlossen sind - die Heilbehandlung (und das Taggeld)
nur solange zu gewähren, als von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung noch
eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden kann. Trifft
dies nicht mehr zu, ist der Fall unter Einstellung der vorübergehenden
Leistungen mit gleichzeitiger Prüfung des Anspruchs auf eine Invalidenrente und
auf eine Integritätsentschädigung abzuschliessen (vgl. BGE 133 V 57 E. 6.6.2 S.
64; BGE 128 V 169 E. 1b S. 171 mit Hinweisen; BGE 116 V 41 E. 2c S. 44; RKUV
1995 Nr. U 227 S. 190, E. 2a, U 29/95; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U
244/04 vom 20. Mai 2005, E. 2, nicht publ. in: RKUV 2005 Nr. U 557 S. 388;
siehe auch RKUV 2006 Nr. U 571 S. 82, U 294/04).

4.2 Nahtlos an diese Regelung schliesst sich Art. 21 Abs. 1 UVG an. Danach soll
Heilbehandlung - wie die übrigen Pflegeleistungen und die Kostenvergütungen -
nach Festsetzung der Rente durch den Unfallversicherer nur unter besonderen
Voraussetzungen gewährt werden, so bei Berufskrankheit (lit. a), bei Rückfall
oder Spätfolgen zur wesentlichen Besserung oder Bewahrung vor wesentlicher
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit (lit. b), zur Erhaltung
BGE 134 V 109 S. 115
der verbleibenden Erwerbsfähigkeit (lit. c) und zur wesentlichen Verbesserung
oder zur Bewahrung vor wesentlicher Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes
im Falle der Erwerbsunfähigkeit (lit. d). Im dazwischen liegenden Bereich,
nämlich wenn einerseits von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung keine
namhafte Besserung im Sinne von Art. 19 Abs. 1 UVG mehr erwartet werden kann
und anderseits die Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 1 UVG nicht erfüllt sind,
hat der Unfallversicherer keine Heilbehandlung mehr zu übernehmen. An seine
Stelle tritt der obligatorische Krankenpflegeversicherer.

4.3 Was unter einer namhaften Besserung des Gesundheitszustandes des
Versicherten ("une sensible amélioration de l'état de l'assuré", "un sensibile
miglioramento della salute dell'assicurato" in der französischen resp.
italienischen Textfassung des Art. 19 Abs. 1 UVG) zu verstehen ist, umschreibt
das Gesetz nicht näher. Mit Blick darauf, dass die soziale Unfallversicherung
ihrer Konzeption nach auf die erwerbstätigen Personen ausgerichtet ist (vgl.
etwa Art. 1 [seit 1. Januar 2003 Art. 1a mit unverändertem Wortlaut] und Art. 4
UVG), wird sich dies namentlich nach Massgabe der zu erwartenden Steigerung
oder Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, soweit unfallbedingt
beeinträchtigt, bestimmen. Dabei verdeutlicht die Verwendung des Begriffes
"namhaft" durch den Gesetzgeber, dass die durch weitere Heilbehandlung zu
erwartende Besserung ins Gewicht fallen muss. Unbedeutende Verbesserungen
genügen nicht (vgl. Urteile U 244/04 vom 20. Mai 2005, E. 2, nicht publ. in:
RKUV 2005 Nr. U 557 S. 388, und U 412/00 vom 5. Juli 2001, E. 2a; ALFRED
MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl., Bern 1989, S. 274).

5. Der Grundsatz, dass der Unfallversicherer nur solange Heilbehandlung und
Taggeld zu gewähren hat, als von der ärztlichen Behandlung eine namhafte
Besserung des Gesundheitszustandes zu erwarten ist, steht insofern in einem
Spannungsverhältnis zur Praxis betreffend die Adäquanzprüfung im Bereich der
organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden nach Unfall, als danach
mehrere Kriterien massgebend sein können, deren Erfüllung von der
Zeitkomponente "Dauer" abhängt. Dies trifft auf die Kriterien der ungewöhnlich
langen Dauer der ärztlichen Behandlung, der Dauerbeschwerden resp.
Dauerschmerzen sowie des Grades und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit (BGE 117 V
359 E. 6a S. 367, BGE 117 V 369 E. 4b S. 383; BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140)
zu. Je länger der
BGE 134 V 109 S. 116
Sachverhalt, der den einzelnen Kriterien zugrunde liegt, dauert, desto eher
sind diese bei der Adäquanzprüfung als erfüllt anzusehen. Es verwundert daher
nicht, dass Versicherte, wie das Bundesgericht in letzter Zeit vermehrt
feststellen konnte, dem Abschluss ihres Falles mit der Begründung opponieren,
die Adäquanz sei mit Blick auf die dauerbezogenen Kriterien zu früh geprüft
worden. Vor diesem Hintergrund sind auch die vorerwähnten Gerichtsentscheide
(E. 3.2) zu sehen.
Dieses Spannungsverhältnis erfordert eine Überprüfung der Rechtsprechung zur
Kausalitätsbeurteilung bei organisch nicht objektiv ausgewiesenen Beschwerden.

6.

6.1 Bei den psychischen Fehlentwicklungen nach Unfall (sog. Psycho-Praxis, BGE
115 V 133) besteht diesbezüglich kein Handlungsbedarf. Die hier bei der
Adäquanzprüfung einzig zu berücksichtigenden physischen Komponenten (BGE 115 V
133 E. 6c/aa S. 140; vgl. auch BGE 117 V 359 E. 6a in fine S. 367; E. 2.1
hievor) lassen sich im Zeitpunkt, in welchem von einer Fortsetzung der auf die
somatischen Leiden gerichteten ärztlichen Behandlung keine namhafte Besserung
mehr erwartet werden kann, zuverlässig beurteilen (vgl. SVR 2007 UV Nr. 29 S.
99, E. 3.1, U 98/06).

6.2 Anders verhält es sich bei der sog. Schleudertrauma-Praxis.

6.2.1 Das Eidg. Versicherungsgericht ging bei dieser mit BGE 117 V 359
begründeten Praxis davon aus, dass bei diagnostiziertem Schleudertrauma der HWS
und Vorliegen eines für diese Verletzung typischen Beschwerdebildes (mit einer
Häufung von Beschwerden wie diffuse Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrations-
und Gedächtnisstörungen, Übelkeit, rasche Ermüdbarkeit, Visusstörungen,
Reizbarkeit, Affektlabilität, Depression, Wesensveränderung usw.) der
natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und der danach eingetretenen
Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit in der Regel anzunehmen ist (BGE 117 V 359 E.
4b S. 360). Es erkannte, ausgehend von den Ergebnissen der medizinischen
Forschung, dass ein Unfall mit Schleudertrauma der HWS in der
charakteristischen Erscheinungsform einer Häufung von typischen Beschwerden
eine Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit verursachen kann, auch wenn die
festgestellten Funktionsausfälle organisch nicht nachweisbar sind (BGE 117 V
359 E. 5d/aa S. 363 f.). Das Gericht erklärte deshalb für die Beurteilung des
adäquaten Kausalzusammenhangs
BGE 134 V 109 S. 117
zwischen einem Unfall und der infolge eines Schleudertraumas der HWS auch nach
Ablauf einer gewissen Zeit nach dem Unfall weiterbestehenden Arbeits- und
Erwerbsunfähigkeit, die nicht auf organisch nachweisbare Funktionsausfälle
zurückzuführen ist, die für psychische Störungen nach einem Unfall entwickelte
Methode (BGE 115 V 133 E. 6 S. 138) im Einzelfall für analog anwendbar (BGE 117
V 359 E. 5d/bb S. 365). Im Gegensatz zu den bei psychischen Fehlentwicklungen
nach Unfall relevanten Kriterien (BGE 115 V 133 E. 6c/aa S. 140) wurde indessen
auf eine Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten
verzichtet. Begründet wurde dies damit, dass im Hinblick auf die Beurteilung
des adäquaten Kausalzusammenhangs als einer Rechtsfrage nicht entscheidend ist,
ob die im Anschluss an ein Schleudertrauma der HWS auftretenden Beschwerden
medizinisch eher als organischer und/ oder psychischer Natur bezeichnet werden,
zumal diese Differenzierung angesichts des komplexen und vielschichtigen
Beschwerdebildes in heiklen Fällen gelegentlich grosse Schwierigkeiten bereitet
(BGE 117 V 359 E. 5d/aa S. 364 mit Hinweisen und E. 6a S. 367).

6.2.2 Die dargelegten Grundsätze zum natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhang bei Schleudertrauma der HWS (sehr häufig im Strassenverkehr
verursachte Distorsion der HWS, medizinisch auch kraniozervikales
Beschleunigungstrauma genannt - STÖCKLI et al., Diagnostisches und
therapeutisches Vorgehen in der chronischen Phase nach kraniozervikalem
Beschleunigungstrauma [cKZBT, sog. Schleudertrauma] [ohne Commotio cerebri/mild
traumatic brain injury], Pragmatische Empfehlungen der multidisziplinären
Konsensusgruppe Olten vom 13. Januar 2005, in: Schweizerisches Medizin-Forum
2005, S. 1182 ff., nachstehend: "Empfehlungen Konsensusgruppe") ohne organisch
objektiv ausgewiesene Beschwerden wurden seither auch für Beschwerden nach
einem dem Schleudertrauma "äquivalenten" Mechanismus (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67,
E. 2, U 183/93; vgl. überdies, auch zum Folgenden: RKUV 2000 Nr. U 395 S. 316,
E. 3, U 160/98) und nach einem Schädel-Hirntrauma (BGE 117 V 369) für anwendbar
erklärt, wenn und soweit sich die Folgen mit jenen eines Schleudertraumas der
HWS vergleichen lassen. Gemeinhin wird deshalb für diese Art der
Adäquanzprüfung der Begriff "Schleudertrauma-Praxis" (im Gegensatz etwa zum
Begriff "Psycho-Praxis" für die Adäquanzprüfung bei psychischen
Fehlentwicklungen nach Unfall, BGE 115 V 133) verwendet.
BGE 134 V 109 S. 118

7.

7.1 Die Schleudertrauma-Praxis und namentlich die ihr zugrunde liegende
Annahme, dass eine bei einem Unfall erlittene Verletzung im Bereich von HWS
oder Kopf auch ohne organisch nachweisbare (objektivierbare) Funktionsausfälle
zu länger dauernden, die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden
Beschwerden führen kann, bildet seit Begründung dieser Rechtsprechung
Gegenstand verschiedenartiger Diskussionen (vgl. etwa die Auseinandersetzung
mit unterschiedlichen Meinungsäusserungen bereits in BGE 119 V 335; sodann aus
jüngerer Zeit und medizinischer Sicht: Thierry Ettlin, Schleudertrauma, in:
Primary Care, 6/2007, S. 116 f.; Schmidt et al., in: Schmidt/Senn [Hrsg.],
Schleudertrauma - neuester Stand: Medizin, Biomechanik, Recht und Case
Management, Zürich 2004, S. 174 ff., und aus juristischer Sicht etwa die von
Erwin Murer in verschiedenen Aufsätzen [u.a. in: Nicht objektivierbare
Gesundheitsbeeinträchtigungen: Ein Grundproblem des öffentlichen und des
privaten Versicherungsrechts sowie des Haftpflichtrechts, Freiburger
Sozialrechtstage 2006, S. 253 ff.; ferner in: SZS 2007 S. 355 ff.; 2006 S. 248
ff., S. 639 ff., und 2003 S. 365 ff.] und von Stefan A. Dettwiler, MTBI -
Versicherungsrechtliche Aspekte, in: SUVA - Medizinische Mitteilungen, Nr. 78,
2007, S. 133 ff., geäusserte Kritik). Gesicherte neue medizinische
Erkenntnisse, welche diese Annahme ernsthaft in Frage stellen und die
Verletzungen sowie deren Folgen als weniger gravierend oder gar inexistent
erscheinen lassen könnten, liegen jedoch bis heute nicht vor (vgl. auch:
STREBEL et al., Diagnostisches und therapeutisches Vorgehen in der Akutphase
nach kranio-zervikalem Beschleunigungstrauma [sog. Schleudertrauma],
Empfehlungen einer schweizerischen Arbeitsgruppe, in: Schweizerisches
Medizin-Forum 2002, S. 1119 ff., nachfolgend: "Empfehlungen Arbeitsgruppe",
und, darauf Bezug nehmend: Empfehlungen Konsensusgruppe, a.a.O., S. 1183).
Dasselbe gilt für die Feststellung, wonach solche Verletzungen durch ein
komplexes und vielschichtiges Beschwerdebild mit eng ineinander verwobenen,
einer Differenzierung kaum zugänglichen Beschwerden physischer und psychischer
Natur gekennzeichnet sind (E. 6.2.1 hievor; vgl. auch RKUV 2000 Nr. U 397 S.
327, E. 3b, U 273/99; Urteile des Eidg. Versicherungsgerichts U 142/02 vom 21.
Mai 2003, E. 5.2.1, und U 424/01 vom 24. Oktober 2002, E. 3.2). Eine derartige
Differenzierung wäre zwar im Hinblick auf eine vereinfachte Adäquanzbeurteilung
wünschenswert, ist aber nach dem derzeitigen medizinischen Wissensstand nicht
zuverlässig möglich.
BGE 134 V 109 S. 119

7.2 Es sind sodann derzeit auch keine neuen Untersuchungsmethoden ersichtlich,
welche in wissenschaftlich anerkannter Weise den bislang nicht möglichen
Nachweis von organischen Störungen im Bereich von HWS (bei Unfall mit
Schleudertrauma resp. äquivalenter Verletzung) oder Schädel-Hirn gestatteten
(vgl. etwa RKUV 2000 Nr. U 395 S. 316, U 160/98, zur mangelnden Geeignetheit
der SPECT-Untersuchung; hiezu auch: Empfehlungen Konsensusgruppe, a.a.O., S.
1185). Sollte dieser Nachweis aufgrund neu entwickelter Untersuchungsmethoden
(zur Diskussion steht etwa die funktionelle Kernspintomographie [auch:
funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT, resp. functional magnetic
resonance imaging, fmri]; vgl. hiezu auch CHRISTIAN THÖNY, Richter foutieren
sich um medizinische Fortschritte, in: Plädoyer 2007 2 S. 20 ff.) vermehrt
verlässlich möglich werden, wird es zudem noch näherer Betrachtung bedürfen, ob
die damit erhobenen Befunde natürlich unfallkausal sind und die geklagten
Beschwerden zu erklären vermögen.

8. Die Kritik an der Schleudertrauma-Praxis hat ihren Niederschlag auch in
verschiedenen Änderungsvorschlägen grundsätzlicher Art gefunden.

8.1 Eine Frage geht dahin, ob an den adäquaten Kausalzusammenhang in der
sozialen Unfallversicherung höhere Anforderungen als im privaten
Haftpflichtrecht gestellt werden dürfen und die Abgrenzung adäquater
Unfallfolgen von inadäquaten in beiden Rechtsgebieten demnach unterschiedlich
ausfallen kann. Dieser Grundsatz wurde indessen bereits verschiedentlich
gestützt auf eine eingehende Betrachtung bestätigt (BGE 123 V 98 E. 3d S. 104;
BGE 123 III 110 E. 3a und b S. 113 f.; ferner BGE 127 V 102 E. 5b/aa S. 102 f.;
in HAVE 2007 S. 272 zusammengefasstes Urteil 1A.230/2006 vom 5. Juni 2007, E.
3.2 mit weiteren Hinweisen und E. 3.3.3) und ist unter Hinweis auf die
damaligen, nach wie vor überzeugenden Erwägungen beizubehalten.

8.2 Das einstige Eidg. Versicherungsgericht hat sich auch mit verschiedenen
anderen Ansätzen befasst. Es betrifft dies etwa den Vorschlag, der adäquate
Kausalzusammenhang sei wie bei den klar fassbaren physischen Unfallfolgen, wo
der Adäquanz praktisch keine eigenständige Bedeutung zukommt (BGE 127 V 102 E.
5b/bb S. 103 mit Hinweisen; E. 2.1 hievor), auch bei medizinisch zwar
angenommenem, jedoch nicht (hinreichend) organisch
BGE 134 V 109 S. 120
nachweisba rem natürlichem Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall mit
Schleudertrauma der HWS und andauernden Beschwerden ohne besondere Prüfung zu
bejahen (BGE 123 V 98 E. 3b S. 102 und BGE 122 V 415 E. 2c S. 417). Das Eidg.
Versicherungsgericht hat dies verworfen und dabei namentlich erwogen, dass
andernfalls die Versicherten, die an den Folgen eines Schleudertraumas der HWS
litten, gegenüber Versicherten mit anderen Verletzungsfolgen in
ungerechtfertigter Weise bevorzugt würden (BGE 123 V 98 E. 3b S. 103). In
gleicher Weise abgelehnt wurde die Empfehlung, es sei bei der Adäquanzprüfung
je nach Art der Leistung (Heilbehandlung oder Rente) ein unterschiedlicher
Massstab anzuwenden (BGE 127 V 102; vgl. auch die Äusserungen zu diesem Urteil
von HANS-JAKOB MOSIMANN in: Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S.
361 ff.; derselbe, in: AJP 2002 S. 570 ff.; derselbe, in: Psychische Störungen
und die Sozialversicherung - Schwerpunkt Unfallversicherung, Freiburger
Sozialrechtstag 2002, S. 159 ff., insbes. S. 215 ff.). Für eine abweichende
Betrachtungsweise hinsichtlich dieser Änderungsvorschläge besteht nach wie vor
kein Grund.

8.3 Thomas Locher und Ernst A. Kramer stellen zur Diskussion, die Adäquanz bei
natürlich unfallkausalem Schleudertrauma der HWS ohne organisch nachweisbare
Funktionsausfälle unter Verzicht auf eine besondere Prüfung zu bejahen, wobei
sie dies an bestimmte Voraussetzungen knüpfen. Locher (HWS-Distorsion
[Schleudertrauma] - Einführung in die Rechtslage nach schweizerischem Recht,
in: Erwin Murer et al. [Hrsg.], Das so genannte "Schleudertrauma" -
medizinische, biomechanische und rechtliche Aspekte der Distorsionen der
Halswirbelsäule, Bern 2001, S. 29 ff., S. 43 f.) verlangt hiefür, dass der
Nachweis einer solchen Gesundheitsschädigung unter Mitberücksichtigung der mit
dem Unfall verbundenen biomechanischen Belastung erhöhten Anforderungen zu
genügen habe. Demgegenüber empfiehlt Kramer (Schleudertrauma: Das
Kausalitätsproblem im Haftpflicht- und Sozialversicherungsrecht, in: BJM 2001
S. 153 ff., S. 169 ff.; vgl. auch Erwin Murer, in: SZS 2003 S. 365 ff., S. 367,
und HANS-JAKOB MOSIMANN, in: Psychische Störungen und die Sozialversicherung -
Schwerpunkt Unfallversicherung, a.a.O., S. 212), den adäquaten
Kausalzusammenhang ohne Weiteres zu bejahen, sofern eine Bagatell- oder
Harmlosigkeitsgrenze, definiert als Geschwindigkeitsveränderung (Delta-v) des
angestossenen Fahrzeugs von mindestens 10 km/h, erreicht sei.
BGE 134 V 109 S. 121
Die von Kramer angeregte Einführung eines Grenzwertes für die Bejahung der
Adäquanz erscheint indessen schon deswegen problematisch, weil die Auffassungen
zu dessen masslicher Festsetzung deutlich auseinander gehen (vgl. etwa Schmidt
et al., a.a.O., S. 154 ff. und S. 271 ff. mit Hinweisen, auch auf in
Deutschland gefällte Urteile). Abgesehen davon ist die tatsächliche
Geschwindigkeitsveränderung nicht immer zuverlässig ermittelbar und gilt es
zudem, Unfallkonstellationen ausserhalb der klassischen Heckauffahrkollisionen,
auf welche mit der Berücksichtigung von Delta-v namentlich Bezug genommen wird,
ebenfalls Rechnung zu tragen. Eine entsprechende Regelung würde im Übrigen auch
nach der Auffassung von Kramer (a.a.O., S. 170 f.) nicht ohne
Ausnahmetatbestände auskommen, womit sich wiederum Abgrenzungsprobleme ergäben.
Gleiches gilt letztlich auch für das von LOCHER zur Diskussion gestellte
Vorgehen, welches überdies im Ergebnis wiederum einer nicht gerechtfertigten
Bevorzugung der Patienten mit Schleudertrauma der HWS ohne organisch
nachweisbare Funktionsausfälle (vgl. E. 8.2 hievor) gleichkäme.

8.4 Empfohlen wurde weiter, die Schleudertrauma-Praxis als solche fallen zu
lassen und immer dann, wenn natürlich unfallkausale Beschwerden ohne organisch
nachweisbare Funktionsausfälle vorliegen, die Adäquanz nach den für psychische
Fehlentwicklungen nach Unfall (BGE 115 V 133) geltenden Grundsätzen zu
beurteilen (vgl. DETTWILER, a.a.O., S. 143). Dies kommt schon aus den folgenden
zwei Gründen nicht in Frage: Zunächst fehlt bei den der Schleudertrauma-Praxis
zugrunde liegenden Gesundheitsstörungen die massgebliche Bezugsgrösse, nach
welcher sich mehrere Adäquanzkriterien beurteilen, nämlich die augenfällige
physische Verletzung. Zwar wird auch bei solchen Gesundheitsstörungen von
physischen Verletzungen ausgegangen, doch sind diese zumeist nicht augenfällig
oder gar nicht objektivierbar. Zum andern gehören psychische Beschwerden zur
typischen Symptomatik solcher Gesundheitsstörungen, während sie nach
irgendwelchen körperlichen Beeinträchtigungen wie Knochenbrüchen, Verbrennungen
usw. nicht Symptome dieser Verletzungen sind.

9. Nach dem Gesagten besteht kein Anlass, das Bestehen und die Auswirkungen der
zur Diskussion stehenden unfallbedingten Verletzungen ohne organisch objektiv
ausgewiesene Beschwerden und das diese kennzeichnende Gemenge physischer und
psychischer Symptome grundsätzlich in Frage zu stellen. Gleiches gilt für die
BGE 134 V 109 S. 122
Konzeption einer besonderen Adäquanzprüfung für solche Verletzungen.
Nebst dem noch abzuhandelnden Problem der zeitbezogenen Adäquanzkriterien (vgl.
E. 10) hat sich aber in der Praxis gezeigt, dass die für die Anwendung der
Schleudertrauma-Praxis bei der Adäquanzprüfung erforderliche zuverlässige
Feststellung derartiger Verletzungen besonders diffizil ist. Dies liegt
zunächst darin begründet, dass diese Verletzungen zwar klinisch untersucht,
aber abgesehen von ossären Läsionen und dergleichen nicht bildgebend
objektiviert werden können. Damit kommt den Angaben der versicherten Person
über bestehende Beschwerden besondere Bedeutung zu, was aber auch ein
Missbrauchspotenzial bietet. Zudem können bei identischer Symptomatik die
erhobenen Befunde aus dem Katalog des für derartige Verletzungen als typisch
erachteten Beschwerdebildesgegebenenfalls auch nichttraumatischer Genese sein
(vgl. bereits BGE 119 V 335 E. 2b/bb S. 341). Entsprechend sind an die
Grundlagen für den Schluss auf das Vorliegen solcher Verletzungen hohe
Anforderungen zu stellen.

9.1 BGE 117 V 359 E. 4b S. 360 beliess es bei der Feststellung, zur Annahme
eines natürlich unfallkausalen Schleudertraumas der HWS genüge in der Regel,
dass ein solches von ärztlicher Seite diagnostiziert sei und das für eine
derartige Verletzung typische bunte Beschwerdebild, zumindest weitgehend,
vorliege. In BGE 119 V 335 E. 2b/aa S. 340 wurde betont, auch bei
Schleudermechanismen der HWS bildeten zuallererst die medizinischen Fakten, wie
die fachärztlichen Erhebungen über Anamnese, objektiven Befund, Diagnose,
Verletzungsfolgen, unfallfremde Faktoren, Vorzustand usw. die massgeblichen
Grundlagen für die Kausalitätsbeurteilung durch Verwaltung und
Gerichtsinstanzen. Das Vorliegen eines Schleudertraumas wie seine Folgen
müssten somit durch zuverlässige ärztliche Angaben gesichert sein. Treffe dies
zu und sei die natürliche Kausalität - aufgrund fachärztlicher Feststellungen
in einem konkreten Fall - unbestritten, so könne der natürliche
Kausalzusammenhang ebenso aus rechtlicher Sicht als erstellt gelten, ohne dass
ausführliche Darlegungen zur Beweiswürdigung nötig wären.
Diese Rechtsprechung, die auch für dem Schleudertrauma äquivalente Verletzungen
der HWS und Schädel-Hirntraumen gilt, ist näher zu beleuchten. Dabei sind die
zwischenzeitlich gewonnenen aktuellen medizinischen Erkenntnisse, namentlich
die von
BGE 134 V 109 S. 123
Spezialärzten verschiedener Fachrichtungen erarbeiteten Empfehlungen für ein
verlaufsabhängiges diagnostisches Vorgehen, zu berücksichtigen.

9.2 In einer ersten Phase nach dem Unfall ist zu erwarten, dass dessen Hergang
möglichst genau und verifizierbar dokumentiert wird. Gleiches gilt für die
anschliessend auftretenden Beschwerden. Diesen ersten tatbeständlichen
Grundlagen kommt grosses Gewicht zu.
Was im Besonderen den erstbehandelnden Arzt betrifft, ist dieser gehalten, die
versicherte Person sorgfältig abzuklären (in der Regel eingehende Befragung
sowie klinische und gegebenenfalls röntgenologische Untersuchungen; vgl.
Empfehlungen Arbeitsgruppe, a.a.O., S. 1120 f.; Empfehlungen Konsensusgruppe,
a.a.O., S. 1183 in fine). Dazu gehört auch die Befragung der versicherten
Person nach ihrem gesundheitlichen Vorzustand, so u.a. nach psychischen
Beschwerden vor dem Unfall oder im Zeitpunkt des Unfalls. Die Aussagen der
versicherten Person zum Unfallhergang und zu den bestehenden Beschwerden sind
gestützt auf die erhobenen Befunde und weitere zur Verfügung stehende Angaben
zum Unfallhergang und zum anschliessenden Verlauf kritisch zu prüfen. Gelangt
der Arzt bei der Diagnosestellung zur Auffassung, eine der hier zur Diskussion
stehenden Verletzungen komme aufgrund der bis dahin gegebenen zuverlässigen
Anhaltspunkte nur als Verdachts- oder Differentialdiagnose in Frage, hat er
dies in seinem Bericht so zum Ausdruck zu bringen. Von besonderer Bedeutung ist
sodann, dass der Arzt in seinem Bericht, gegebenenfalls in dem vom
Schweizerischen Versicherungsverband empfohlenen "Dokumentationsbogen für
Erstkonsultation nach kranio-zervikalem Beschleunigungstrauma" (früher
gebräuchlich: Zusatzfragebogen für HWS-Verletzungen), nebst den weiteren der
Diagnosestellung zugrunde gelegten Überlegungen auch den Verlauf der
Beschwerden ab dem Unfallzeitpunkt genau beschreibt. Zudem hat er
gegebenenfalls bestehende Anhaltspunkte für einen protrahierten Verlauf und/
oder ein Chronifizierungsrisiko anzuzeigen (vgl. nachfolgend E. 9.3 in fine und
9.4).
Gelangt der Arzt zum Ergebnis, die geklagten Beschwerden seien gegeben und auf
eine der hier zur Diskussion stehenden Verletzungen zurückzuführen, wird dies
dem Unfallversicherer, zusammen mit weiteren Angaben zum Unfallhergang (aus
Polizeiprotokollen etc.) und gegebenenfalls einer Rückfrage beim v
BGE 134 V 109 S. 124
ersicherungsinter nen medizinischen Dienst resp. beim beratenden Arzt, in der
Regel genügen, um vorübergehende Leistungen (Heilbehandlung; Taggeld) zu
erbringen (vgl. MARKUS FUCHS, Medizinische Aspekte im Rahmen des
Abklärungsverfahrens nach Unfällen, in: SUVA - Medizinische Mitteilungen, Nr.
78, 2007 S. 35 ff., S. 40 f.).

9.3 Bei einer Vielzahl dieser Unfälle tritt schon nach kurzer Zeit eine
deutliche Besserung ein (vgl. Empfehlungen Konsensusgruppe, a.a.O., S. 1182;
Empfehlungen Arbeitsgruppe, a.a.O., S. 1119; ROLF STEBLER, Assessment nach
Schleudertrauma - Erfolgsaussichten verbessern, in: Schweizer Versicherung, 9/
2007, S. 22). Diese Fälle bieten in der Rechtsanwendung kaum Probleme. Sie
können durch den Unfallversicherer rasch, und ohne dass sich die Frage nach
Dauerleistungen überhaupt stellt, abgeschlossen werden.
Schwierigkeiten bereiten Fälle, in welchen die Beschwerden länger andauern bis
hin zur Chronifizierung, und sich mithin auch die Frage einer Berentung stellen
kann. Ob sich solche persistierenden Beschwerden medizinisch (noch) mit einer
der hier diskutierten Verletzungen an der HWS oder am Kopf erklären lassen,
lässt sich aufgrund der erwähnten initialen Abklärungen in der Regel nicht
zuverlässig beantworten. Bestehen Beschwerden länger und ohne deutliche
Besserungstendenz, ist daher eine zügige interdisziplinäre Abklärung und
Beurteilung durch Fachärzte angezeigt (Empfehlungen Konsensusgruppe, a.a.O., S.
1183; Empfehlungen Arbeitsgruppe, a.a.O., S. 1123; vgl. auch WALTER KISSEL,
Whiplash/ Schleudertrauma - vom Unfall "Schleudertrauma" zur chronischen
Krankheit, in: Schweizerische Ärztezeitung 2000 S. 2803 ff., insbes. S. 2808 in
fine). Gleiches gilt, wenn bereits kurz nach dem Unfall Anhaltspunkte für einen
problematischen Verlauf vorliegen (Empfehlungen Arbeitsgruppe, a.a.O., S. 1120
f.; Empfehlungen Konsensusgruppe, a.a.O., Hinweis S. 1183 in fine).

9.4 Zusammenfassend ist als Grundlage für die Kausalitätsbeurteilung bei den
hier diskutierten Verletzungen nebst einer den umschriebenen Anforderungen
genügenden Erstabklärung zu verlangen, dass eine eingehende medizinische
Abklärung (im Sinne eines polydisziplinären/interdisziplinären Gutachtens)
bereits in einer ersten Phase nach dem Unfall vorgenommen wird, sofern und
sobald Anhaltspunkte für ein längeres Andauern oder gar eine Chronifizierung
der Beschwerden bestehen.
Eine entsprechende Begutachtung ist zudem jedenfalls dann angezeigt, wenn die
Beschwerden bereits längere Zeit angehalten
BGE 134 V 109 S. 125
haben und nicht von einer baldigen, wesentlichen Besserung ausgegangen werden
kann. In der Regel dürfte eine solche Begutachtung nach rund sechs Monaten
Beschwerdepersistenz zu veranlassen sein. Einen früheren Zeitpunkt zu
verlangen, wie er etwa für die therapiebezogene Diagnostik empfohlen wird
(Empfehlungen Konsensusgruppe, a.a.O., S. 1183; Empfehlungen Arbeitsgruppe,
a.a.O., S. 1123; vgl. auch KISSEL, a.a.O., S. 2808 in fine), liesse sich mit
Blick auf die notorischen Schwierigkeiten, geeignete Begutachtungsstellen mit
genügender Arbeitskapazität zu finden, schon aus Praktibilitätsgründen nicht
vertreten.

9.5 Ein solches poly-/interdisziplinäres Gutachten hat bestimmten
Voraussetzungen zu genügen. Nebst den allgemein gültigen Anforderungen an
beweiskräftige medizinische Berichte und Gutachten (BGE 125 V 351 E. 3 S. 352
ff.; vgl. auch Meyer-Blaser, u.a. in: Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.],
Rechtsfragen der medizinischen Begutachtung in der Sozialversicherung, St.
Gallen 1997, S. 9 ff.; RÜEDI, in: Gabriela Riemer-Kafka [Hrsg.], Medizinische
Gutachten, Zürich 2005, S. 69 ff.) ist empfehlenswert, dass die Begutachtung
durch mit diesen Verletzungsarten besonders vertraute Spezialärzte erfolgt
(vgl. Empfehlungen Arbeitsgruppe, a.a.O., S. 1123). Im Vordergrund stehen dabei
Untersuchungen neurologisch/orthopädischer (soweit indiziert mit apparativen
Mitteln) und psychiatrischer sowie gegebenenfalls auch neuropsychologischer
Fachrichtung. Bei spezifischer Fragestellung und zum Ausschluss von
Differentialdiagnosen sind auch otoneurologische, ophthalmologische oder andere
Untersuchungen angezeigt (vgl. Empfehlungen Konsensusgruppe, a.a.O., S. 1184
f.). Die Gutachter müssen hiebei über zuverlässige Vorakten verfügen. Dies
unterstreicht nochmals die Wichtigkeit einer sorgfältigen Dokumentierung des
Unfallereignisses und der medizinischen Erstabklärung, aber auch des weiteren
Verlaufes bis zur Begutachtung.
Inhaltlich sind überzeugende Aussagen dazu erforderlich, ob die geklagten
Beschwerden überhaupt glaubhaft sind, und bejahendenfalls, ob für diese
Beschwerden trotz Fehlens objektiv ausgewiesener organischer Unfallfolgen ein
beim Unfall erlittenes Schleudertrauma (Distorsion) der HWS, eine äquivalente
Verletzung oder ein Schädel-Hirntrauma überwiegend wahrscheinlich zumindest
eine Teilursache darstellt (zum im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad
der überwiegenden Wahrscheinlichkeit: BGE 129 V 177 E. 3.1 S. 181 mit
Hinweisen; zum Genügen einer
BGE 134 V 109 S. 126
Teilursächlichkeit zur Bejahung der Kausalität: BGE 123 V 43 E. 2b S. 45 mit
Hinweis; BGE 121 V 326 E. 2 S. 329 mit Hinweisen). Aufgrund der Besonderheiten
der Schleudertrauma-Praxis soll das Gutachten bei gefestigter Diagnose auch
darüber Auskunft geben, ob eine bestehende psychische Problematik als Teil des
für solche Verletzungen typischen, einer Differenzierung kaum zugänglichen
somatisch-psychischen Beschwerdebildes zu betrachten ist, oder aber ein von
diesem zu trennendes, eigenständiges psychisches Leiden darstellt. Nur wenn in
der Expertise überzeugend dargetan wird, dass die psychische Störung nicht
Symptom der Verletzung ist, kann dafür eine andere Ursache gesehen werden. Der
Hinweis auf ungünstige soziale und soziokulturelle Verhältnisse der
versicherten Person und dergleichen genügt nicht. Weiter ist zu beantworten,
inwieweit die Arbeitsfähigkeit in der bisherigen und (mit Blick auf eine
allfällige Berentung) in alternativen Tätigkeiten durch die festgestellten
natürlich unfallkausalen Leiden eingeschränkt ist.

10.

10.1 Was das Vorgehen bei der Adäquanzprüfung betrifft, ist nach der
Schleudertrauma-Praxis (analog zu den bei psychischen Fehlentwicklungen nach
Unfall geltenden Grundsätzen) für die Bejahung des adäquaten
Kausalzusammenhangs im Einzelfall zu verlangen, dass dem Unfall eine
massgebende Bedeutung für die Entstehung der Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit
zukommt. Dies trifft dann zu, wenn er eine gewisse Schwere aufweist oder mit
anderen Worten ernsthaft ins Gewicht fällt. Für die Beurteilung dieser Frage
ist an das Unfallereignis anzuknüpfen, wobei - ausgehend vom augenfälligen
Geschehensablauf - zwischen banalen bzw. leichten Unfällen einerseits, schweren
Unfällen anderseits und schliesslich dem dazwischen liegenden mittleren Bereich
unterschieden wird. Während der adäquate Kausalzusammenhang in der Regel bei
schweren Unfällen ohne Weiteres bejaht und bei leichten Unfällen verneint
werden kann, lässt sich die Frage der Adäquanz bei Unfällen aus dem mittleren
Bereich nicht aufgrund des Unfallgeschehens allein schlüssig beantworten. Es
sind weitere, objektiv erfassbare Umstände, welche unmittelbar mit dem Unfall
in Zusammenhang stehen oder als direkte bzw. indirekte Folgen davon erscheinen,
in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen. Je nachdem, wo im mittleren Bereich der
Unfall einzuordnen ist und abhängig davon, ob einzelne dieser Kriterien in
besonders ausgeprägter Weise erfüllt sind, genügt zur Bejahung des adäquaten
BGE 134 V 109 S. 127
Kausalzusammenhangs ein Kriterium oder müssen mehrere herangezogen werden (BGE
117 V 359 E. 6 S. 366 ff., BGE 117 V 369 E. 4b und c S. 383 f.).
Diese Grundsätze haben sich bewährt, und es besteht insoweit kein
Handlungsbedarf für eine Änderung der Rechtsprechung.

10.2 Als wichtigste der - abhängig von der Unfallschwere - in die
Adäquanzbeurteilung einzubeziehenden Kriterien gelten nach der Rechtsprechung (
BGE 117 V 359 E. 6a S. 367, BGE 117 V 369 E. 4b S. 383):
- besonders dramatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des
Unfalls;
- die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzungen;
- ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung;
- Dauerbeschwerden;
- ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert;
- schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen;
- Grad und Dauer der Arbeitsunfähigkeit.
Aus den in E. 3-5 erwähnten Gründen sind die Kriterien zu überarbeiten. Dies
betrifft in erster Linie jene, die eine Zeitkomponente enthalten. Zu
präzisieren sind ferner jene Kriterien, die sich in der Praxis als zu wenig
eindeutig erwiesen haben. Zudem ist festzuhalten, dass die Aufzählung der
Kriterien abschliessend ist. Denn die Erfahrung seit Begründung der
Schleudertrauma-Praxis hat gezeigt, dass nebst den ausdrücklich genannten keine
weiteren Kriterien zur Anwendung gelangt sind.

10.2.1 Das bisherige Kriterium der besonders dramatischen Begleitumstände oder
besonderen Eindrücklichkeit des Unfalls kann unverändert bestehen bleiben. Es
bereitet in der Praxis keine nennenswerten Probleme.

10.2.2 Der Sinngehalt des Kriteriums der Schwere und besonderen Art der
erlittenen Verletzung wurde bereits verschiedentlich näher umschrieben. Zu
betonen ist, dass rechtslogisch die Annahme eines Schleudertraumas der HWS
(resp. einer der weiteren, adäquanzrechtlich gleich behandelten Verletzungen)
lediglich bestimmt, dass die Schleudertrauma-Praxis anzuwenden ist. Hingegen
genügt die Diagnose einer HWS-Distorsion (oder einer anderen, adäquanzrechtlich
gleich zu behandelnden Verletzung) für sich allein nicht zur Bejahung des
Kriteriums der Schwere und besonderen Art der erlittenen Verletzung. Es bedarf
hiezu einer besonderen Schwere
BGE 134 V 109 S. 128
der für das Schleudertrauma typischen Beschwerden oder besonderer Umstände,
welche das Beschwerdebild beeinflussen können (SVR 2007 UV Nr. 26 S. 86, E.
5.3, U 339/06; RKUV 2005 Nr. U 549 S. 236, E. 5.2.3, U 380/04 mit Hinweisen).
Diese können beispielsweise in einer beim Unfall eingenommenen besonderen
Körperhaltung und den dadurch bewirkten Komplikationen bestehen (SVR 2007 UV
Nr. 26 S. 86, E. 5.3, U 339/06; RKUV 2003 Nr. U 489 S. 357, E. 4.3, U 193/01
mit Hinweisen). Auch erhebliche Verletzungen, welche sich die versicherte
Person neben dem Schleudertrauma, der äquivalenten Verletzung der HWS oder dem
Schädel-Hirntrauma beim Unfall zugezogen hat, können bedeutsam sein.
Mit der dargelegten inhaltlichen Umschreibung ist das Kriterium weiterhin zu
verwenden.

10.2.3 Das Kriterium der ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung
bietet in der Anwendung in verschiedener Hinsicht Schwierigkeiten. Neben der
Frage der Zeitbezogenheit haben sich namentlich auch Abgrenzungsprobleme zum
Kriterium des schwierigen Heilungsverlaufs und erheblicher Komplikationen
ergeben. Dennoch wäre es nicht gerechtfertigt, die ärztliche Behandlung als
eigenständigen Faktor wegfallen zu lassen, kann sie doch unter Umständen mit
einer erheblichen und durch die übrigen Kriterien nicht abgedeckten Belastung
für die versicherte Person verbunden sein. Der wesentliche Gehalt des
Kriteriums muss aber neu gefasst werden. Entscheidend soll sein, ob nach dem
Unfall fortgesetzt spezifische, die versicherte Person belastende ärztliche
Behandlung bis zum Fallabschluss notwendig war.
Nach dem Gesagten ist das Kriterium in der Kurzform wie folgt zu präzisieren:
fortgesetzt spezifische, belastende ärztliche Behandlung.

10.2.4 Das Kriterium der Dauerbeschwerden ist, wie die Praxis gezeigt hat, in
der bisherigen Formulierung schwer fassbar und mit zeitlichen
Abgrenzungsproblemen behaftet. Dem ist Rechnung zu tragen. Adäquanzrelevant
können nur in der Zeit zwischen dem Unfall und dem Fallabschluss nach Art. 19
Abs. 1 UVG ohne wesentlichen Unterbruch bestehende erhebliche Beschwerden sein.
Die Erheblichkeit beurteilt sich nach den glaubhaften Schmerzen und nach der
Beeinträchtigung, welche die verunfallte Person durch die Beschwerden im
Lebensalltag erfährt.
Nach dem Gesagten ist das Kriterium in der Kurzform wie folgt zu präzisieren:
erhebliche Beschwerden.
BGE 134 V 109 S. 129

10.2.5 Das Kriterium der ärztlichen Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen
erheblich verschlimmert, hat in der Anwendung zu keinen wesentlichen Problemen
geführt und kann unverändert beibehalten werden.

10.2.6 Gleiches gilt für das Kriterium des schwierigen Heilungsverlaufs und
erheblicher Komplikationen.

10.2.7 Das Kriterium des Grades und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit bot
besondere Differenzierungsprobleme und entsprechend häufigen Anlass für
gerichtliche Beurteilung (vgl. etwa: SVR 2007 UV Nr. 25 S. 81, E. 8.6.1, U 479/
05; RKUV 2005 Nr. U 550 S. 242, E. 11, U 287/04, Nr. U 549 S. 236, E. 5.2.5, U
380/04; 2001 Nr. U 442 S. 544, E. 3d/aa, U 56/00). Gerade bei diesem Kriterium
wirkt sich überdies ungünstig aus, dass es unter anderem von einer zeitlichen
Komponente abhängig ist. Dies schafft einen negativen Anreiz, indem die
versicherte Person, welche eine Rente anstrebt, wenig Interesse an einer
baldigen Wiederaufnahme der Arbeit hat. Ein längeres Aussetzen der Arbeit
fördert überdies die Chronifizierung der Beschwerden.
Das Kriterium bedarf aus diesen Gründen einer Präzisierung. Damit soll auch dem
Umstand Rechnung getragen werden, dass bei leichten bis mittelschweren
Schleudertraumen der HWS (und punkto Adäquanzbeurteilung gleich zu behandelnden
Verletzungen) ein längerer oder gar dauernder Ausstieg aus dem Arbeitsprozess
vom medizinischen Standpunkt aus als eher ungewöhnlich erscheint. Nicht mehr
die Dauer der Arbeitsunfähigkeit soll daher massgebend sein, sondern eine
erhebliche Arbeitsunfähigkeit als solche, die zu überwinden die versicherte
Person ernsthafte Anstrengungen unternimmt. Darin liegt der Anreiz für die
versicherte Person, alles daran zu setzen, wieder ganz oder teilweise
arbeitsfähig zu werden. Gelingt es ihr trotz solcher Anstrengungen nicht, ist
ihr dies durch Erfüllung des Kriteriums anzurechnen. Konkret muss ihr Wille
erkennbar sein, sich durch aktive Mitwirkung raschmöglichst wieder optimal in
den Arbeitsprozess einzugliedern. Dies gebietet schon der allgemeine
sozialversicherungsrechtliche Grundsatz der Schadenminderungspflicht. Danach
hat die versicherte Person nach Eintritt des Schadens alle ihr möglichen und
zumutbaren Massnahmen zu treffen, um diesen zu mindern oder zu beheben (BGE 129
V 460 E. 4.2 S. 463; BGE 123 V 230 E. 3c S. 233; BGE 117 V 275 E. 2b S. 278 und
394 E. 4b S. 400, je mit Hinweisen). Solche Anstrengungen
BGE 134 V 109 S. 130
der versicherten Person können sich insbesondere in ernsthaften
Arbeitsversuchen trotz allfälliger persönlicher Unannehmlichkeiten
manifestieren. Dabei ist auch der persönliche Einsatz im Rahmen von
medizinischen Therapiemassnahmen zu berücksichtigen. Sodann können Bemühungen
um alternative, der gesundheitlichen Einschränkung besser Rechnung tragende
Tätigkeiten ins Gewicht fallen. Nur wer in der Zeit bis zum Fallabschluss nach
Art. 19 Abs. 1 UVG in erheblichem Masse arbeitsunfähig ist und solche
Anstrengungen auszuweisen vermag, kann das Kriterium erfüllen.
Nach dem Gesagten ist das Kriterium in der Kurzform wie folgt zu präzisieren:
erhebliche Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen.

10.3 Zusammenfassend ist der Katalog der bisherigen adäquanzrelevanten
Kriterien (BGE 117 V 359 E. 6a S. 367, BGE 117 V 369 E. 4b S. 383; E. 10.2
hievor) wie folgt neu zu fassen:
- besonders dramatische Begleitumstände oder besondere Eindrücklichkeit des
Unfalls;
- die Schwere oder besondere Art der erlittenen Verletzungen;
- fortgesetzt spezifische, belastende ärztliche Behandlung;
- erhebliche Beschwerden;
- ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert;
- schwieriger Heilungsverlauf und erhebliche Komplikationen;
- erhebliche Arbeitsunfähigkeit trotz ausgewiesener Anstrengungen.

11. Im vorliegenden Fall dienen die über den 24. Juli 2002 hinaus
vorgeschlagenen medizinischen Massnahmen nach Lage der Akten in erster Linie
der Stabilisierung des bis zu diesem Zeitpunkt erreichten Gesundheitszustandes.
Soweit überhaupt eine gesundheitliche Besserung erwartet werden kann, wäre
diese nicht namhaft. Dies gilt für die empfohlenen Behandlungen somatischer wie
auch psychologisch-psychiatrischer Natur. Die Allianz hat demnach den Fall
nicht zu früh abgeschlossen und den Anspruch auf eine Invalidenrente und eine
Integritätsentschädigung nicht zu früh beurteilt. Der Entscheid der Vorinstanz
ist daher aufzuheben und die Sache an diese zurückzuweisen, damit sie über die
materielle Richtigkeit des Einspracheentscheides vom 9. September 2005
hinsichtlich dieser Leistungsansprüche befinden kann. Nötigenfalls sind hiefür
ergänzende Sachverhaltsabklärungen vorzunehmen oder
BGE 134 V 109 S. 131
anzuordnen und ist die im angefochtenen Entscheid ausdrücklich offengelassene
Frage, ob der adäquate Kausalzusammenhang gemäss den bei psychischen
Fehlentwicklungen nach Unfall oder gemäss der Schleudertrauma-Praxis zu prüfen
ist, zu beantworten. Hat eine Adäquanzbeurteilung nach der letzteren Praxis zu
erfolgen, sind die vorgenannten Grundsätze zu berücksichtigen. Die Parteien
können im kantonalen Verfahren ihre Standpunkte ergänzend erläutern, sofern sie
sich dazu aufgrund der mit Urteil U 394/06 vom 19. Februar 2008 präzisierten
bundesgerichtlichen Praxis veranlasst sehen.