Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 I 49



Urteilskopf

134 I 49

6. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen
Gemeinde Buchs (subsidiäre Verfassungsbeschwerde)
1D_12/2007 vom 27. Februar 2008

Regeste

Diskriminierende Nichteinbürgerung wegen Tragens des Kopftuches; Art. 8 Abs. 2
und Art. 15 BV. Bedeutung des Diskriminierungsverbotes und der Glaubens- und
Gewissensfreiheit (E. 2 und 3.1). Einen negativen Einbürgerungsentscheid auf
das Tragen des Kopftuches als religiöses Symbol abzustellen, ist geeignet, die
Gesuchstellerin unzulässig zu benachteiligen. Hierfür fehlt eine qualifizierte
Rechtfertigung: Das blosse Tragen des Kopftuches bringt für sich keine gegen
rechtsstaatliche und demokratische Wertvorstellungen verstossende Haltung zum
Ausdruck (E. 3.2).

Sachverhalt ab Seite 50

BGE 134 I 49 S. 50
A. kam 1981 aus der Türkei in die Schweiz und verheiratete sich mit B. Das
Ehepaar hat zwei Kinder, C. und D. Die Familie lebt seit 1995 in Buchs (AG).
A. stellte in der Gemeinde Buchs ein Einbürgerungsgesuch. Der Ehemann B. sah
von einem entsprechenden Ersuchen ab, die Tochter C. stellte ein eigenständiges
Gesuch.
Aufgrund eines persönlichen Gesprächs hielt der Gemeinderat fest, dass die
Gesuchstellerin A. einen guten Eindruck hinterlassen habe und mit den hiesigen
Verhältnissen bestens vertraut sei. Mit seiner Botschaft beantragte er dem
Einwohnerrat, A. das Gemeindebürgerrecht von Buchs zuzusichern.
Der Einwohnerrat von Buchs (Gemeindeparlament) diskutierte das
Einbürgerungsersuchen von A.; teils wurde Anstoss genommen, dass die
Gesuchstellerin ein Kopftuch trägt, was als Ausdruck der Unterwerfung der
Frauen gegenüber Männern zu bewerten sei. Das Einbürgerungsgesuch von A. wurde
mit 19 Nein gegen 15 Ja abgelehnt. Der Tochter C. wurde das Gemeindebürgerrecht
zugesichert.
Der Gemeinderat teilte A. den negativen Beschluss des Einwohnerrates mit und
hielt in seinem Schreiben das Folgende fest:
"Der Einwohnerrat hat Ihnen an seiner Sitzung vom 14. Juni 2007 die Zusicherung
des Einwohnerbürgerrechts von Buchs AG mit 19 : 15 Stimmen verweigert. Er
begründete seine Ablehnung damit, dass Sie durch das Tragen des Kopftuches eine
fundamentalistische Glaubensrichtung bezeugen. Der Schleier bzw. das Kopftuch
sei nicht religiöses Symbol, sondern sichtbarer Ausdruck der Unterwerfung der
Frau unter den Mann. Damit werde eine Ungleichbehandlung der Frau allein
aufgrund ihres Geschlechts demonstriert. Das verstosse gegen Art. 2 und 8 der
Bundesverfassung und damit gegen unsere gemeinsame Wertvorstellung. Ihre
Assimilation an unsere gesellschaftlichen und politischen Normen sei nicht
gegeben. Dieser Beschluss ist endgültig. Ein Referendum ist ausgeschlossen."
Gegen diesen Beschluss des Einwohnerrates hat A. beim Bundesgericht subsidiäre
Verfassungsbeschwerde erhoben. Im Wesentlichen erachtet sie sich wegen des
Tragens des Kopftuches als Ausdruck ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert
und macht eine Verletzung von Art. 8 Abs. 2 BV geltend; zudem beruft sie sich
auf Art. 15 BV und Art. 9 EMRK.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Beschluss
auf und weist die Sache zu neuem Entscheid an die Gemeinde Buchs zurück.
BGE 134 I 49 S. 51

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerdeführerin geht in Übereinstimmung mit der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung (vgl. BGE 132 I 167 E. 3 S. 170) davon aus, dass ihrer Berufung
auf Art. 15 BV und Art. 9 EMRK im vorliegenden Fall keine direkte und
eigenständige Bedeutung zukommt. Durch den angefochtenen Beschluss wird ihr an
sich nicht versagt, ihre Religion frei zu wählen und auszuüben oder sie durch
religiös bedingte Gewohnheiten wie das Tragen des Kopftuches zu bekennen.
Soweit das Tragen des Kopftuches die Beschwerdeführerin indes im
Einbürgerungsverfahren benachteiligt oder einer Einbürgerung gar entgegensteht,
stellt sich typischerweise die Frage, ob eine von Art. 8 Abs. 2 BV untersagte
Diskriminierung wegen eines religiösen Bekenntnisses vorliegt.

2.2 Nach Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht
wegen der Lebensform und der religiösen, weltanschaulichen oder politischen
Überzeugung. In diesem Rahmen ist für die Bestimmung des Inhalts der religiösen
Überzeugung Bezug zu nehmen auf die Garantie der Glaubens- und
Gewissensfreiheit gemäss Art. 15 BV (vgl. Rainer J. Schweizer, Die
Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 1. Aufl. 2002, N. 64 zu
Art. 8 BV; JÖRG P. MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl. 1999, S. 433).

2.3 Art. 15 BV gewährleistet die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Abs. 1) und
räumt jeder Person das Recht ein, ihre Religion und ihre weltanschauliche
Überzeugung frei zu wählen und allein oder in Gemeinschaft mit andern zu
bekennen (Abs. 2). Unter diesem Schutze stehen nicht nur die traditionellen
Glaubensformen der christlich-abendländischen Kirchen und
Religionsgemeinschaften, sondern alle Religionen, unabhängig von ihrer
quantitativen Verbreitung in der Schweiz (BGE 119 Ia 178 E. 4b S. 184; BGE 123
I 296 E. 2b/aa S. 300 f.). Die Religionsfreiheit umfasst sowohl die innere
Freiheit, zu glauben, nicht zu glauben oder seine religiösen Anschauungen zu
ändern, wie auch die äussere Freiheit, entsprechende Überzeugungen innerhalb
gewisser Schranken zu äussern, zu praktizieren und zu verbreiten (BGE 123 I 296
E. 2b/aa S. 300; BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 184). Sie enthält den Anspruch des
Einzelnen darauf, sein Verhalten grundsätzlich nach den Lehren des Glaubens
auszurichten und den Glaubensüberzeugungen gemäss zu handeln. Zur derart
gewährleisteten
BGE 134 I 49 S. 52
Religionsausübung zählen über kultische Handlungen hinaus auch die Beachtung
religiöser Gebräuche und andere Äusserungen des religiösen Lebens im Rahmen
gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der Kulturvölker,
soweit solche Verhaltensweisen Ausdruck der religiösen Überzeugung sind (BGE
123 I 296 E. 2b/aa S. 300; BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 184). Das gilt auch für
Religionsbekenntnisse, welche - wie der Islam - die auf den Glauben gestützten
Verhaltensweisen sowohl auf das geistig-religiöse Leben wie auch auf weitere
Bereiche des alltäglichen Lebens beziehen (BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 185).
Insoweit werden religiös bedingte Bekleidungsvorschriften wie das Tragen des
Kopftuches vom Schutz von Art. 15 BV erfasst (BGE 123 I 296 E. 2b/aa S. 300;
BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 184).
Vor diesem Hintergrund hat das Bundesgericht erkannt, dass das
gemischtgeschlechtliche Baden in der Schule grundsätzlich im Widerspruch zu
einer islamischen Glaubensregel stehe und entsprechende Verhaltensweisen unter
den Schutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit fielen. Unerheblich sei
insoweit, ob entsprechende Gepflogenheiten von allen, von einer Mehrheit oder
allenfalls lediglich von einer Minderheit der islamischen Glaubensangehörigen
befolgt würden (BGE 119 Ia 178 E. 4d S. 185 f.).
In gleicher Weise steht das Tragen des Kopftuches von Frauen, die dem Islam
angehören, als Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses unter dem Schutz der
Religionsfreiheit gemäss Art. 15 BV (BGE 123 I 296 E. 2b/aa S. 300; BGE 119 Ia
178 E. 4c S. 184; vgl. auch BGE 119 IV 260 E. 3b/aa S. 263). Daran vermag der
Umstand nichts zu ändern, dass bei gegebenen verfassungsmässigen
Voraussetzungen Eingriffe in die Glaubens- und Gewissensfreiheit möglich und
Einschränkungen von aus der Religion abgeleiteten Gepflogenheiten zulässig sind
(vgl. BGE 123 I 296; BGE 119 IV 260).

2.4 Die Glaubens- und Gewissensfreiheit nach Art. 15 BV ist nicht nur ein
individuelles Abwehrrecht, sondern enthält auch einen objektivrechtlichen
Gehalt, an dem sich gemäss Art. 35 Abs. 1 BV die gesamte Staatstätigkeit
auszurichten hat (vgl. Urs Josef CAVELTI, Die Schweizerische Bundesverfassung,
St. Galler Kommentar, 1. Aufl. 2002, N. 7 zu Art. 15 BV) und der auch im
Einbürgerungsverfahren ungeachtet der Natur und der Stufe des entscheidenden
Organs zu beachten ist. In diesem Sinne verbietet Art. 8 Abs. 2 BV
Diskriminierungen, die an religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen und
ihren Manifestationen anknüpfen.
BGE 134 I 49 S. 53

3.

3.1 Gemäss Art. 8 Abs. 2 BV darf niemand diskriminiert werden, namentlich nicht
wegen seiner Herkunft und der religiösen, weltanschaulichen oder politischen
Überzeugung. Eine Diskriminierung liegt vor, wenn eine Person ungleich
behandelt wird allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe,
welche historisch oder in der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit tendenziell
ausgegrenzt oder als minderwertig behandelt wird. Die Diskriminierung stellt
eine qualifizierte Ungleichbehandlung von Personen in vergleichbaren
Situationen dar, indem sie eine Benachteilung von Menschen bewirkt, die als
Herabwürdigung oder Ausgrenzung einzustufen ist, weil sie an
Unterscheidungsmerkmalen anknüpft, die einen wesentlichen und nicht oder nur
schwer aufgebbaren Bestandteil der Identität der betroffenen Personen
ausmachen; insofern beschlägt das Diskriminierungsverbot auch Aspekte der
Menschenwürde nach Art. 7 BV. Das Diskriminierungsverbot gemäss Art. 8 Abs. 2
BV schliesst indes die Anknüpfung an ein verpöntes Merkmal - wie beispielsweise
Herkunft, Rasse, Geschlecht oder religiöse Überzeugung - nicht absolut aus.
Eine solche begründet zunächst lediglich den blossen Verdacht einer
unzulässigen Differenzierung. Diese kann indes durch eine qualifizierte
Rechtfertigung umgestossen werden. Eine indirekte oder mittelbare
Diskriminierung liegt demgegenüber vor, wenn eine Regelung, die keine
offensichtliche Benachteiligung von spezifisch gegen Diskriminierung geschützte
Gruppen enthält, in ihren tatsächlichen Auswirkungen Angehörige einer solchen
Gruppe besonders benachteiligt, ohne dass dies sachlich begründet wäre (BGE 129
I 217 E. 2.1 S. 223 mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Doktrin; Regina Kiener
/Walter Kälin, Grundrechte, Bern 2007, S. 359 ff.).

3.2 Im vorliegenden Fall bildete das Tragen des Kopftuches durch die
Beschwerdeführerin den Anknüpfungspunkt für die Verweigerung des Bürgerrechts.
Es ist von keiner Seite behauptet oder dargelegt worden, dass die
Beschwerdeführerin nicht hinreichend integriert sei und aus diesem Grunde nicht
eingebürgert werden könnte. Das Tragen des Kopftuches war sowohl in der
Diskussion im Einwohnerrat wie auch in der Begründung des Gemeinderates
Ausgangspunkt für die Abweisung des Einbürgerungsgesuchs. Dieser Umstand ist
geeignet, Frauen, die sich zum Islam bekennen und das Kopftuch tragen,
gegenüber Männern und solchen Frauen, die das Kopftuch trotz des Bekenntnisses
zum Islam nicht tragen oder
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einer andern Glaubensrichtung verpflichtet sind, im Einbürgerungsverfahren zu
benachteiligen und rechtsungleich zu behandeln oder ihnen die Erlangung des
Bürgerrechts gar zu verunmöglichen.
Das Tragen des Kopftuches von Frauen, die sich zum Islam bekennen, gilt, wie
dargelegt (E. 2.3), als Ausdruck eines religiösen Bekenntnisses. Daran vermögen
die Behauptungen einzelner, die Einbürgerung ablehnender Einwohnerräte, die dem
Tragen des Kopftuches den Charakter eines religiösen Symbols aberkennen, nichts
zu ändern. Der negative Entscheid des Einwohnerrates beruht somit im
Ausgangspunkt auf einem Merkmal, das nach Art. 8 Abs. 2 BV verpönt und im
Grundsatz unzulässig ist. Insoweit ist die Beschwerdeführerin wegen ihrer
religiösen Überzeugung und deren Bezeugung durch das Tragen des Kopftuches in
spezifischer Weise gegenüber andern Gesuchstellern und Gesuchstellerinnen
ungleich behandelt und diskriminiert worden.
Diese Ungleichbehandlung wegen eines religiösen Bekenntnisses lässt sich durch
keinerlei qualifizierte und objektive Gründe rechtfertigen. Glaubensinhalte,
die ein religiös motiviertes Verhalten begründen oder bestimmte
Bekleidungsweisen nahelegen, sind grundsätzlich nicht zu überprüfen und zu
bewerten (vgl. BGE 119 Ia 178 E. 4c S. 185). Art. 8 Abs. 2 BV ist insoweit
Ausdruck weltanschaulicher Pluralität und gebietet im Grundsatz die Anerkennung
von Bekenntnissen und Überzeugungen, die von den in der Schweiz herkömmlichen
Vorstellungen abweichen.
Es kann nicht mit Grund gesagt werden, das Tragen des Kopftuches als
Manifestation eines religiösen Bekenntnisses bringe in allgemein erkennbarer
Weise eine Haltung der Unterwerfung der Frau unter den Mann und eine
Herabminderung von Frauen zum Ausdruck. Die Befolgung der aus dem Koran
abgeleiteten Übung kann auf eigenständigem Entschluss der Frauen selber
beruhen, ihren Glauben auf diese Weise zu manifestieren, ohne dass damit eine
Haltung der Unterwerfung ausgedrückt würde. Insoweit erweist sich das blosse
Tragen des Kopftuches in der Regel als wenig aussagekräftig und wertneutral;
daran ändert nichts, dass in der Übung des Tragens des Kopftuches teils eine
Ungleichbehandlung von Frauen gegenüber Männern erblickt wird (vgl. vor dem
Hintergrund eines unterschiedlichen Sachverhalts BGE 123 I 296 E. 4b/cc S.
312). Der Umstand, dass eine Gesuchstellerin ein Kopftuch trägt, könnte
lediglich mitberücksichtigt werden, wenn darin vor dem Hintergrund der
konkreten Verhältnisse
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eine Haltung zum Ausdruck kommt, die mit unsern grundlegenden rechtsstaatlichen
und demokratischen Wertvorstellungen im Widerspruch stünde. Ein derartiger
konkreter Bezug wird im kommunalen Verfahren weder behauptet noch nachgewiesen.
Die Diskussionsteilnehmer im Einwohnerrat haben es bei einer allgemeinen
Behauptung bewenden lassen, das Tragen des Kopftuches bringe eine generelle
Herabminderung der Frauen gegenüber Männern zum Ausdruck. Sie haben keinen
Bezug genommen auf die konkrete Situation der Gesuchstellerin und brachten
nicht im Einzelnen vor, dass diese grundlegende Prinzipien und Werte unserer
Gesellschaft missachten würde, die vorgehaltene Haltung im Alltagsleben
tatsächlich manifestiere und aus solchen Überlegungen nicht als integriert
gelten könnte. Schliesslich deuten die Akten nicht daraufhin, dass die
eigenständig auftretende Beschwerdeführerin eine Haltung der Unterwerfung der
Frauen vertreten würde. Anzufügen ist im Übrigen, dass aus den dem
Bundesgericht zur Verfügung gestellten Akten nicht ersichtlich ist, weshalb das
Einbürgerungsgesuch der Beschwerdeführerin abgewiesen, dasjenige der Tochter,
die ebenfalls das Kopftuch trägt, indessen gutgeheissen worden ist.
Bei dieser Sachlage fehlt es an einer qualifizierten, auf die konkreten
Umstände bezogenen Begründung, welche die Ungleichbehandlung der
Beschwerdeführerin wegen der Manifestation ihrer religiösen Überzeugung zu
rechtfertigen vermöchte. Damit ist die Beschwerdeführerin durch den negativen
Beschluss des Einwohnerrates, der wegen des Tragens des Kopftuches als
religiöses Bekenntnis ausschliesslich an einem verpönten Merkmal anknüpft und
die Beschwerdeführerin ohne qualifizierte Rechtfertigung rechtsungleich
behandelt und benachteiligt, im Sinne von Art. 8 Abs. 2 BV diskriminiert
worden. Die Beschwerde erweist sich daher als begründet.