Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 I 238



Urteilskopf

134 I 238

28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen
Oberrichter Naef und Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl (Beschwerde in Strafsachen)
1B_242/2007 vom 28. April 2008

Regeste

Ablehnung eines Oberrichters im Berufungsverfahren; Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6
Ziff. 1 EMRK. Anspruch auf einen unbefangenen, unvoreingenommenen und
unparteiischen Richter (E. 2.1). Referentensystem; die Meinungsbildung des
Referenten beeinträchtigt seine Unvoreingenommenheit nicht (E. 2.3). Mitteilung
einer vorläufigen Auffassung des Referenten im Allgemeinen (E. 2.4). Die
Mitteilung der vorläufigen Auffassung und der beabsichtigten Antragsstellung an
den Rechtsvertreter vor Durchführung der Berufungsverhandlung und auf
Initiative des Referenten hin lässt diesen als voreingenommen erscheinen (E.
2.6).

Sachverhalt ab Seite 239

BGE 134 I 238 S. 239
A. wurde mit Urteil des Einzelrichters am Bezirksgericht Zürich vom 30. Januar
2007 des mehrfachen Vergehens gegen das Betäubungsmittelgesetz für schuldig
befunden und mit einer Geldstrafe von 21 Tagessätzen zu Fr. 30.- unter Aufschub
des Vollzuges bestraft. Er legte gegen das Urteil des Einzelrichters Berufung
ein.
Zu Beginn der Berufungsverhandlung vor der I. Strafkammer des Obergerichts des
Kantons Zürich vom 20. August 2007 stellte A. gegen Oberrichter Rolf Naef wegen
Befangenheit resp. Anscheins der Befangenheit ein Ausstandsgesuch. Hintergrund
des Ersuchens bildete der Umstand, dass dieser als Referent in der
Berufungssache mit dem Rechtsvertreter des Beschuldigten anfangs Juli 2007
Kontakt aufgenommen und ihm mitgeteilt hatte, dass er gestützt auf die Akten
wohl einen Antrag auf Abweisung der Berufung stellen werde. Durch dieses
Vorgehen habe er den Anschein der Voreingenommenheit erweckt. Oberrichter Naef
gab die gewissenhafte Erklärung im Sinne von § 100 Abs. 1 GVG/ZH ab, in der
Sache nicht befangen zu sein.
Mit Beschluss vom 10. Oktober 2007 wies die II. Strafkammer des Obergerichts
das Ausstandsbegehren ab. Zur Begründung führt die Strafkammer aus, der
Referent mache sich allein aufgrund der Akten ein vorläufiges Bild und dürfe
diese Meinung kundtun. Der Ausgang des Verfahrens erscheine im Hinblick auf die
spätere Berufungsverhandlung (mit der Anhörung des Beschuldigten und den
Vorbringen des Rechtsvertreters) trotz der Meinungsäusserung noch als offen. Im
vorliegenden Fall habe der Referent weder auf den Rechtsvertreter noch auf den
Beschuldigten Druck ausgeübt.
Gegen diesen Beschluss des Obergerichts hat A. beim Bundesgericht Beschwerde in
Strafsachen erhoben und dessen Aufhebung beantragt. Er rügt namentlich eine
Verletzung von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Zur Begründung macht
er im Wesentlichen geltend, mit der Kontaktnahme und der entsprechenden
Mitteilung habe der Referent eine Haltung zum Ausdruck gebracht, die den
Beschuldigten verunsichert, ihm den Rückzug der Berufung nahelegt und damit den
Eindruck der Voreingenommenheit hinterlassen habe.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid
auf und heisst das Ausstandsgesuch gegen Oberrichter Naef gut.
BGE 134 I 238 S. 240

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch
darauf, dass ihre Strafsache von einem unbefangenen, unvoreingenommenen und
unparteiischen Richter beurteilt wird. Es soll garantiert werden, dass keine
sachfremden Umstände, welche ausserhalb des Prozesses liegen, in sachwidriger
Weise zugunsten oder zulasten einer Partei auf das gerichtliche Urteil
einwirken. Art. 30 Abs. 1 BV soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess
erforderlichen Offenheit des Verfahrens im Einzelfall beitragen und damit ein
gerechtes Urteil ermöglichen. Die Garantie des verfassungsmässigen Richters
wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung Gegebenheiten vorliegen, die den
Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit zu begründen
vermögen (BGE 114 Ia 50 E. 3b und 3c S. 53 ff.; BGE 134 I 20 E. 4.2 S. 21; BGE
131 I 24 E. 1.1 S. 25, BGE 131 I 113 E. 3.4 S. 116, mit Hinweisen).
Voreingenommenheit und Befangenheit in diesem Sinne werden nach der
Rechtsprechung angenommen, wenn sich im Einzelfall anhand aller tatsächlichen
und verfahrensrechtlichen Umstände Gegebenheiten ergeben, die geeignet sind,
Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu erwecken. Diese können
namentlich in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters begründet
sein. Bei dessen Beurteilung ist nicht auf das subjektive Empfinden einer
Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in
objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die
bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit und Voreingenommenheit
erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter tatsächlich
befangen ist (BGE 128 V 82 E. 2a S. 84; BGE 127 I 196 E. 2b S. 198; BGE 126 I
68 E. 3a S. 73; BGE 125 I 119 E. 3a S. 122; BGE 124 I 255 E. 4a S. 261, mit
Hinweisen).
Der Anschein der Befangenheit kann durch unterschiedlichste Umstände und
Gegebenheiten erweckt werden. Dazu können nach der Rechtsprechung insbesondere
vor oder während eines Prozesses abgegebene Äusserungen eines Richters zählen,
die den Schluss zulassen, dass sich dieser bereits eine feste Meinung über den
Ausgang des Verfahrens gebildet hat (BGE 125 I 119 E. 3a S. 122; Urteil 1P.687/
2005 vom 9. Januar 2006, E. 7).

2.2 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung der genannten
Verfahrensgrundrechte. Er macht geltend, Oberrichter Naef habe durch
BGE 134 I 238 S. 241
die Kontaktaufnahme mit dem Rechtsvertreter und die Mitteilung, er werde wegen
der Aussichtslosigkeit der Berufung wohl einen Abweisungsantrag stellen, eine
Haltung zum Ausdruck gebracht, die Befangenheit zeige oder zumindest den
Anschein der Voreingenommenheit erwecke. Im Einzelnen bringt der
Beschwerdeführer vor, bei der umstrittenen Mitteilung könne er nicht wissen, in
wessen Namen der Referent spreche, und er habe annehmen müssen, dass dieser die
Auffassung des Spruchkörpers wiedergebe. Damit werde der Eindruck erweckt, dass
ihn das Gericht nicht sehen und nicht hören wolle. Bei dieser Sachlage werde es
dem Gericht schwerfallen, von der geäusserten Auffassung abzurücken und, wie in
der Berufung beantragt, auf einen Freispruch zu erkennen. Es erscheine
unverantwortlich, eine derartige Äusserung vor Durchführung der
Berufungsverhandlung zu machen; die Vorbringen anlässlich der Verhandlung seien
noch nicht bekannt und die Verteidigungsstrategien im Übrigen unwägbar. Die
Mitteilung eines "Boten des Gerichts" könne gerade bei einer nicht
rechtsgewohnten Partei eine tiefgreifende Verunsicherung hervorrufen. Im
vorliegenden Fall komme hinzu, dass es der Referent unterlassen habe, dem
Dossier eine entsprechende Aktennotiz beizufügen. Zudem habe die Berufung
aufgrund einer Vielzahl von formellen und von Amtes wegen zu beachtenden
Formfehlern durchaus Erfolgschancen. Schliesslich könne ein strafrechtliches
Berufungsverfahren nicht mit einem Zivilprozess verglichen werden, in dem der
Referent Vergleichsverhandlungen führt.

2.3 Das Berufungsverfahren vor Obergericht beruht auf dem sog.
Referentensystem. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Richter der zum
Entscheid berufenen Kammer als Referent bezeichnet wird. In dieser Funktion
sichtet und studiert dieser die vollständigen Akten und macht sich gestützt
darauf eine vorläufige Meinung über alle sich stellenden Fragen formeller wie
auch materieller Natur. Diese vorläufige Meinungsbildung stellt eine Etappe im
Erkenntnisprozess dar, ist gekennzeichnet durch das Abwägen von Pro und Contra
der einander entgegenstehenden Positionen und bezieht gleichermassen
Sachverhalts- wie formelle und materielle Rechtsfragen mit ein. Die sich daraus
ergebende Auffassung beruht einzig auf den Akten und ist insoweit durch
keinerlei sachfremde Elemente bestimmt. Sie behält ebenso die
Berufungsverhandlung (mit der persönlichen Anhörung der Parteien und dem
Plädoyer des Rechtsvertreters) wie auch die Diskussion und die Meinungsbildung
im Richterkollegium vor. Diese vorläufige Auffassung mit einem
BGE 134 I 238 S. 242
entsprechenden Antrag an die Kammer bildet insoweit Ausgangspunkt für die
Fortführung des Erkenntnisprozesses. Der Ausgang des Verfahrens bleibt damit
offen und kann nicht als ausschlaggebend vorbestimmt betrachtet werden. Die
vorläufige Meinungsbildung und der darauf beruhende Antrag an die urteilende
Kammer bringen für sich genommen keinerlei Voreingenommenheit zum Ausdruck und
sind mit der Richtergarantie nach Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK
vereinbar. So wird das in der Schweiz weitverbreitete Referentensystem denn
auch als verfassungsrechtlich zulässig beurteilt (vgl. Urteil 1P.687/2005 vom
9. Januar 2006, E. 7.1, mit Hinweisen). Im Übrigen wird eine vorläufige
Einschätzung der Prozesslage auch die Instruktion beeinflussen und im Hinblick
auf die Frage der Durchführung eines Schriftenwechsels (vgl. Art. 102 Abs. 1
BGG), der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege (vgl. BGE 131 I 113) und
der aufschiebenden Wirkung (BGE 131 I 24, BGE 131 I 113 E. 3.5 S. 119) von
Bedeutung sein.

2.4 Über eine derartige vorläufige Meinungsbildung des Referenten hinaus stellt
sich die weitere Frage, ob und unter welchen Umständen eine solche Einschätzung
unter dem Gesichtswinkel von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK nach
aussen mitgeteilt werden darf. Die Äusserung als solche kann in
unterschiedlichem Licht erscheinen und je nach den konkreten Umständen mehr
oder weniger den Eindruck erwecken, der Referent habe sich abschliessend
festgelegt und sei für neue Gesichtspunkte nicht mehr offen. In dieser Hinsicht
sind unterschiedlichste Konstellationen denkbar.
Die Beurteilung einer entsprechenden Äusserung über die Erfolgschancen kann je
nach dem Stadium des Verfahrens variieren. Sie mag problematisch erscheinen,
wenn sie allein gestützt auf das angefochtene Urteil und ohne vertiefte
Auseinandersetzung mit den Akten und den darin befindlichen Einwendungen
erfolgt; dies umso mehr, wenn das Rechtsmittelverfahren ohne eigentliche
Beschwerdeschrift durch blosse Anmeldung der Berufung und eine lediglich kurze
Beanstandung eingeleitet wird. Nach gründlichem Studium aller Akten gibt eine
Äusserung lediglich eine Etappe im Erkenntnisprozess wieder, wie sie dem
Referentensystem eigen ist. Zudem wird sich der Referent von vornherein und zur
Wahrung seiner Glaubwürdigkeit im Richterkollegium nur äussern, wenn er nach
der Prüfung des Dossiers zu einem klaren Schluss gelangt. Dies bedeutet indes
nicht, dass im Ablehnungsverfahren über die Erfolgschancen oder die
Aussichtslosigkeit eines Verfahrens zu befinden wäre. - Von
BGE 134 I 238 S. 243
entscheidendem Gewicht ist der Umstand, wem gegenüber eine Äusserung über den
zu beantragenden Ausgang gemacht wird. Dem Referentensystem inhärent ist, dass
der Referent seine Auffassung mit seinem Antrag den mitwirkenden Richtern
bekannt gibt. Fragwürdig wäre, die Einschätzung der Partei selber mitzuteilen,
da es dieser im Normalfall und ohne nähere Kenntnis über den Ablauf des
gerichtlichen Verfahrens schwerfallen wird, die Bedeutung der Mitteilung
richtig einzuordnen. Mit einer Mitteilung an Drittpersonen oder gar an die
Presse würde sich der Referent aus objektiver Sicht vermehrt dem Anschein
aussetzen, bereits eine vorgefasste Meinung gebildet zu haben und für neue
Gesichtspunkte nicht mehr offen zu sein (vgl. Urteil 1P.687/2005 vom 9. Januar
2006, E. 7.1). Nicht gleich verhält es sich indes, wenn die vorläufige
Einschätzung dem Rechtsvertreter mitgeteilt wird. Dieser hat vor Einlegung des
Rechtsmittels seinerseits das Pro und Contra bereits abgeschätzt, kann eine
entsprechende Mitteilung vor dem Hintergrund seiner eigenen Dossierkenntnisse
nachvollziehen und einordnen und ist mit dem gerichtlichen Ablauf der
Meinungsbildung im Richterkollegium vertraut. Insoweit nimmt ein entsprechendes
Gespräch eher den Charakter einer fachlichen Diskussion an. - Weiter ist von
Bedeutung, dass klar zum Ausdruck kommt, es handle sich um eine vorläufige
Einschätzung der Prozesslage und sowohl die Hauptverhandlung mit der Anhörung
der Parteien und dem Plädoyer des Rechtsvertreters als auch die Meinungsbildung
im Spruchkörper seien vorbehalten. Der vorläufige Charakter der
Meinungsäusserung wird gerade von einem Rechtsvertreter besser verstanden
werden als von einer mit dem Gerichtsverfahren unvertrauten Partei, einer
Drittperson oder der Presse (vgl. Urteil 1P.687/2005 vom 9. Januar 2006, E. 7;
Regina Kiener, Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, S. 218 f.; Franz Zeller,
Medien und Hauptverhandlung, in: Justice-Justiz-Giustizia 2006/1, Ziff. 52 und
83). - Das Ziel einer Mitteilung der Erfolgschancen kann einzig darin bestehen,
auf die vorläufige Sicht des Referenten hinzuweisen und der Partei mit der
Eventualität eines allfälligen Rückzuges möglicherweise weitere Kosten und ein
aufwendiges Verfahren zu ersparen oder sie im Falle einer Anschlussberufung auf
die Gefahr einer Verschlechterung aufmerksam zu machen (vgl. zur richterlichen
Fürsorgepflicht BGE 131 I 350 E. 4.1 S. 360 mit Hinweisen). Denkbar ist, dass
unmittelbar nach Eingang einer Rechtsschrift auf offensichtliche formelle
Mängel hingewiesen und gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht wird, diese
könnten während der noch laufenden
BGE 134 I 238 S. 244
Beschwerdefrist behoben werden. Nicht zulässig wäre es, im eigentlichen Sinne
zum Rückzug des Rechtsmittels aufzufordern und dabei offen oder verdeckt Druck
auszuüben. Ebenso wenig darf der Eindruck entstehen, dass sich der Richter mit
der Sache nicht urteilsmässig befassen wolle. - Insoweit mag es auch darauf
ankommen, von wem die Initiative zu einer entsprechenden Mitteilung ausgeht,
d.h. ob sich der Rechtsvertreter beim Referenten über die Prozessaussichten
erkundigt oder aber der Referent von sich aus mit dem Rechtsvertreter Kontakt
aufnimmt und ihm seine vorläufige Einschätzung kundtut. - Schliesslich kann die
Natur des gerichtlichen Verfahrens von Bedeutung sein. In einer
zivilrechtlichen Angelegenheit kann der Referent im Einverständnis mit den
Parteien Vergleichsverhandlungen einleiten und er wird diese vor dem
Hintergrund seiner provisorischen Einschätzung führen und eine vorläufige
Auffassung mit Zurückhaltung und unter dem Vorbehalt der förmlichen
Streitentscheidung auch zum Ausdruck bringen (vgl. BGE 131 I 113 E. 3.6 S. 119;
Kiener, a.a.O., S. 169 f.; Jean-FrançoisEgli/Olivier KURZ, La garantie du juge
indépendant et impartial dans la jurisprudence récente, Recueil de
jurisprudence neuchâteloise [RJN] 1990 S. 9/22). Auch wenn damit ein
Strafverfahren nicht in allen Teilen vergleichbar ist, können Hinweise auf eine
nichtgerichtliche Streiterledigung nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden.
Daraus ergibt sich bei abstrakter Betrachtung, dass nicht jegliche Mitteilung
einer vorläufigen Einschätzung des Referenten mit den Garantien von Art. 30
Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK im Widerspruch steht, eine entsprechend
geartete Mitteilung aber umgekehrt tatsächlich den Anschein der
Voreingenommenheit erwecken und zur Ablehnung des Referenten führen kann. Der
Anspruch auf einen unbefangenen Richter gebietet daher für Vorgehensweisen der
hier interessierenden Art grosse Zurückhaltung. Es kann denn auch nicht gesagt
werden, dass die beim Obergericht offenbar geübte Praxis allgemein verbreitet
ist. Zudem trägt die im angefochtenen Entscheid festgehaltene Forderung, dass
im Falle einer Mitteilung dem Dossier eine entsprechende Aktennotiz beizufügen
ist, zur Transparenz bei und verhindert den Eindruck, dass das Vorgehen
vertuscht werden soll.

2.5 Im vorliegenden Fall ist der abgelehnte Oberrichter als Referent in der
Berufungssache des Beschwerdeführers bestimmt worden. Zur Vorbereitung seines
Referates und der Berufungsverhandlung hat er die vollständigen Akten gesichtet
und studiert. Zu diesen Akten
BGE 134 I 238 S. 245
zählen namentlich die Untersuchungsakten (u.a. mit den Befragungen des
Beschuldigten und einer Zeugin), die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die
Akten des gerichtlichen Verfahrens erster Instanz (u.a. mit dem Protokoll der
Verhandlung vom 25. Januar 2007 und den Plädoyer-Notizen des Rechtsvertreters
des Beschuldigten), das Urteil der ersten Instanz sowie die Berufungsanmeldung
und das kurze Schreiben des Rechtsvertreters (Beanstandung im Sinne von § 414
Abs. 4 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich [StPO/ ZH]), wonach die
gerichtliche Feststellung des Sachverhalts und die vorgenommene Aussageanalyse
willkürlich seien und der Grundsatz "in dubio pro reo" verletzt sei. Gestützt
auf diese Unterlagen kam der Referent zur vorläufigen Auffassung, dass die
Berufung wenig Erfolgschancen habe und er wohl einen Antrag auf Abweisung
stellen werde. Vorbehalten bleibt die Berufungsverhandlung. Wie dargetan, hält
diese Meinungsbildung für sich genommen vor der Verfassung stand.

2.6 Zu prüfen bleibt, ob es im vorliegenden Fall unter dem Gesichtswinkel von
Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK zulässig ist, dass der Referent mit
dem Rechtsvertreter Kontakt aufnahm und diesem seine vorläufige Einschätzung
kundtat.
Der Referent hält in seiner Vernehmlassung fest, deutlich zum Ausdruck gebracht
zu haben, dass es sich um eine vorläufige Einschätzung handle und dass die
Berufungsverhandlung mit der Anhörung des Beschuldigten und dem Plädoyer des
Rechtsvertreters vorbehalten sei. Auch wenn dieser aus dem Verfahrensablauf
fliessende Umstand in dieser ausdrücklichen Weise am Telefon nicht in allen
Teilen gesagt worden sein sollte, musste er dem Rechtsvertreter als erfahrenem
Rechtsanwalt und langjährigem Richter von vornherein bewusst gewesen sein.
Schon im Voraus war es Sache des Rechtsvertreters, die Erfolgschancen
abzuschätzen und diese mit seinem Mandanten zu besprechen; die Mitteilung des
Referenten hatte lediglich zur Folge, das Vorgehen allenfalls nochmals zu
überdenken. Wie oben dargetan, kann es in der vorliegenden Konstellation nicht
darauf ankommen, ob die Berufung letztlich erfolgversprechend sei, wie der
Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter annehmen, oder ob ihr wenig
Erfolgschancen zukomme, wie der Referent damals zum Ausdruck gebracht hatte.
Gemäss dem angefochtenen Entscheid und der Berufungsverhandlung hat der
Referent lediglich seine persönliche Auffassung
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geäussert und sich vorgängig in keiner Weise mit dem Präsidenten der Kammer
oder einem weitern Gerichtsmitglied abgesprochen. Der Beschwerdeführer legt
nicht dar, dass diese Sachverhaltsannahme offensichtlich falsch sei (Art. 105
BGG). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, der Referent habe
gewissermassen als Bote des Gerichts die Auffassung der ganzen Kammer
übermittelt. Der Rechtsvertreter als Kenner des gerichtlichen Verfahrens musste
wissen, dass der Referent ausschliesslich seine eigene Einschätzung wiedergab;
andernfalls hätte er im Namen des Beschwerdeführers nicht nur den Referenten,
sondern konsequenterweise die ganze Kammer ablehnen müssen.
Der Referent weist auch darauf hin, dass er lediglich seine vorläufige
Auffassung mitteilte, den Rechtsvertreter indes nicht zum Rückzug der Berufung
aufforderte. Wie es sich damit im Einzelnen verhält, kann offenbleiben. Denn
die Mitteilung der vorläufigen Auffassung, dass die Berufung wenig
Erfolgschancen habe, bringt die Frage eines allfälligen Rückzuges der Berufung
von selbst mit sich. Unbestrittenermassen wies der Referent darauf hin, dass
sich die Lage des Beschuldigten mangels Anschlussberufung von Seiten der
Staatsanwaltschaft auch im Falle der Abweisung der Berufung weder im Schuld-
noch im Strafpunkt verschlechtern könne.
Entscheidendes Gewicht kommt dem Umstand zu, dass die Initiative zur
entsprechenden Mitteilung vom Referenten ausgegangen ist; es war dieser, der
mit dem Rechtsvertreter telefonisch Kontakt aufnahm und ihm seine vorläufige
Einschätzung zum Ausdruck brachte. Die Kontaktaufnahme von Seiten des Gerichts
ist geeignet, Missverständnisse hervorzurufen. Wie dargetan, wird die
betroffene Partei selber die vorläufige Einschätzung kaum richtig einordnen
können. Auch wenn der Rechtsvertreter angesichts seiner Kenntnisse des
gerichtlichen Verfahrens die verfahrensrechtliche Bedeutung der Mitteilung des
Referenten an sich richtig einzuschätzen weiss, erweckt dessen Vorgehen für die
Partei den Eindruck, dass das Gericht sie nicht hören, ihre Berufungssache gar
nicht prüfen wolle, und hinterlässt ein Gefühl der Verunsicherung, ob die
Berufung nun zurückzuziehen sei oder an ihr festgehalten werden könne und die
Berufungsverhandlung durchgeführt werden solle. Das Vertrauen in das
Justizverfahren kann beeinträchtigt werden, wenn im Vorfeld der Verhandlung
seitens des Gerichts in provisorischer Weise die Aussichtslosigkeit
signalisiert wird. Mit dem Einlegen der Berufung erwartet die Partei, dass das
Gericht in seiner ordentlichen
BGE 134 I 238 S. 247
Besetzung und im ordentlichen Verfahren ihre Sache urteilsmässig neubeurteilt.
Das Zürcher Berufungsverfahren in Strafsachen zeichnet sich darüberhinaus
durcheinbesonderes Gewichtder Berufungsverhandlung aus; die Berufung wird im
Wesentlichen nur angemeldet und es wurde ihr im vorliegenden Fall eine sehr
kurz gehalteneBeanstandungbeigegeben (vgl. § 414 StPO/ZH). Mit der
aktivenMitteilungdervorläufigen Einschätzung von Seitendes Referenten schon im
Voraus wird der Eindruck erweckt, dass sich dieser - trotz dergenannten
Vorbehalte- bereits eine abschliessende Meinung gebildet habe und das Verfahren
- auch unter Beachtung dernoch bevorstehenden Berufungsverhandlung - nicht mehr
offen, derProzess somit bereits verloren sei. Der Betroffene wird nicht
ohneweiteres verstehen, dass die Mitteilung des Referenten - nach
durchgeführtem Verfahren vor erster Instanz - möglicherweise auf eine Ersparnis
an Aufwand und Kosten imRechtsmittelverfahrenabzielt.Vielmehr bekommt er den
Eindruck, dass die Berufungssache in rascher Weise erledigt werden soll,
"kurzer Prozess" gemacht wird. Bei dieser Sachlageerweckt der den Kontaktmit
dem Rechtsvertreteraufnehmende Referent den Anschein, in der Sache nicht mehr
offenund daher voreingenommen zu sein. Die Partei kann mit Grund befürchten,
der Referent unterziehe seine geäusserte Auffassung anlässlich der Verhandlung
und Beratung nicht mehr einer unvoreingenommenen Prüfung. Daran vermag der
Einwand, es solle tatsächlichvorkommen, dass der Referent - soweit trotz
entsprechender Mitteilung an der Berufung festgehalten wird - nach
durchgeführter Verhandlung auf seine vorläufige Einschätzung zurückkommt,
unterdem Gesichtswinkel des blossenAnscheins derVoreingenommenheit nichts zu
ändern. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass der Referent mit seiner
Kontaktaufnahme und der Mitteilung tatsächlich denAnschein der
Voreingenommenheit erweckt hat. Dieser Eindruck beruht nicht nur auf einem
individuellen Empfinden des Betroffenen. Vielmehr erscheint das Misstrauen in
die Unvoreingenommenheit des Richters aus objektiver Sicht als begründet.
Bei dieser Sachlage vermag Oberrichter Naef angesichts seiner Kontaktaufnahme
mit dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers im bevorstehenden
Berufungsverfahren den Anforderungen von Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1
EMRK nicht zu genügen. Die Beschwerde erweist sich daher als begründet.