Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 I 16



Urteilskopf

134 I 16

  3. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. und Y.
gegen Obergericht des Kantons Thurgau (Beschwerde in Zivilsachen)
  5A_369/2007 vom 15. November 2007

Regeste

  Art. 30 Abs. 1 BV; Laienrichter.

  Es besteht kein verfassungsmässiger Anspruch auf einen juristisch
gebildeten Richter (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 16

  A.- X. und Y. haben beim Bezirksgericht Münchwilen diverse
Wegrechtsstreitigkeiten hängig. Infolge Ausstandes des Präsidenten und
Vizepräsidenten werden die Prozesse von Bezirksrichter Urs Obrecht geleitet.

  B.- X. und Y. verlangten, die Verfahren seien an ein anderes
Bezirksgericht zu überweisen, bei welchem mindestens ein ausgebildeter
Jurist dem Spruchkörper angehöre. Das Obergericht wies dieses Gesuch ab.

  C.- Dagegen haben X. und Y. eine Beschwerde in Zivilsachen und eine
subsidiäre Verfassungsbeschwerde erhoben mit den Begehren um Aufhebung des
Entscheides des Obergerichts und dessen Anweisung, für die hängigen
Verfahren ein anderes Bezirksgericht als zuständig zu erklären.

  Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde in Zivilsachen nicht ein und
weist die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ab, soweit darauf einzutreten
ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Zu beurteilen bleibt das Vorbringen, Urs Obrecht - der zwar vom Volk
gewählter Bezirksrichter ist, aber über keine juristische Ausbildung verfügt
- dürfe die komplexen Zivilverfahren nicht leiten, weshalb mit der
verweigerten Übertragung der Verfahren auf ein anderes Bezirksgericht der
Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und
unparteiisches Gericht (Art. 30 Abs. 1 BV) verletzt sei.

  4.1  Das Obergericht hat erwogen, ein Ersatzgericht dürfe nur in
Ausnahmefällen bezeichnet werden, weil den Parteien dadurch der
verfassungsmässige Richter entzogen werde. Dies soll nur dann stattfinden,
wenn es dem innerkantonal zuständigen Richter an der Unabhängigkeit,
Unparteilichkeit oder Unbefangenheit im Sinn von Art. 30 Abs. 1 BV gebreche.
Nebst dem formellen Erfordernis des verfassungsmässigen Richters bestehe
allerdings auch ein materieller Anspruch auf sachgerechte Beurteilung. Die
Gerichtsbesetzung müsse in diesem Sinn garantieren, dass das Gericht in der
Lage sei, die sich ihm stellenden Fragen zu beurteilen und die
entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen anzuwenden. In der Praxis habe sich
deshalb eingebürgert, dass der Gerichtspräsident - und je länger desto mehr
auch ein weiteres Mitglied als Vizepräsident - über juristisches Fachwissen
verfüge. Das Prinzip des Laienrichtertums sei aber anlässlich der
Justizreform nie in Zweifel gezogen worden und § 6 Abs. 2 der
Gerichtsorganisation des Kantons Thurgau schreibe weder für den Präsidenten
noch für die übrigen Richter der Bezirksgerichte eine juristische Ausbildung
vor. Vorliegend gehe es um Wegrechte bzw. um die Auslegung von
Wegrechtsdienstbarkeiten. Hierfür sei Urs Obrecht, von Beruf Architekt und
seit 1996 gewählter Bezirksrichter, prädestiniert, habe er sich doch
beruflich immer wieder mit solchen Problemen zu befassen und brauche es im
Zusammenhang mit Wegrechtsservituten insbesondere die Fähigkeit, Pläne zu
lesen und entsprechende Vertragsklauseln zu interpretieren.

  4.2  Die als verletzt gerügte Verfassungsnorm von Art. 30 Abs. 1 BV
gewährt den Prozessbeteiligten verschiedene institutionelle
Verfahrensgarantien. So muss das urteilende Gericht nicht nur durch Gesetz
geschaffen und zuständig, sondern auch unabhängig und unparteiisch sein.
Unabhängig ist ein Gericht, wenn an seiner Rechtsprechung eigentliche
Richter mitwirken, die auf feste Amtsdauer bestellt sind und während dieser
Zeit weder von anderen Staatsgewalten noch von

den Parteien Anweisungen empfangen (BGE 123 II 511 E. 5c S. 517; HOTZ, in:
Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Zürich 2002, N. 12 zu Art.
30 BV). Die Unabhängigkeit des Richters ist gleichzeitig eine der
Voraussetzungen für seine Unparteilichkeit, an der es gebricht, sobald bei
objektiver Betrachtungsweise Umstände vorliegen, die ihn nicht mehr als
rechten Mittler, sondern als voreingenommen oder befangen erscheinen lassen
(BGE 126 I 68 E. 3a S. 73; 127 I 196 E. 2b S. 198).

  Die Beschwerdeführer rufen nicht eine der genannten Garantien an, sondern
leiten aus Art. 30 Abs. 1 BV einen Anspruch auf juristisch gebildete Richter
oder jedenfalls auf einen über entsprechende Kenntnisse verfügenden
Gerichtsvorsitzenden ab. Eine dahingehende institutionelle Garantie kennt
die schweizerische Bundesverfassung jedoch nicht: Selbst für die Wahl als
Bundesrichter setzt die Verfassung formell lediglich die Vollendung des 18.
Lebensjahres und das Schweizer Bürgerrecht voraus (vgl. Art. 143 BV bzw.
Art. 5 Abs. 2 BGG). Macht aber die Bundesverfassung eine juristische
Ausbildung explizit nicht zur Voraussetzung für die Wahl als Richter am
höchsten Gericht, lassen sich aus Art. 30 Abs. 1 BV von vornherein keine
entsprechenden institutionellen Garantien für kantonale Gerichte ableiten.

  Historisch gesehen war das neuzeitliche Laienrichtertum ein Postulat der
Aufklärung und als gewaltenteiliger Ansatz gegen die vom Monarchen
eingesetzten Juristenrichter gedacht (BÖTTGES, Die Laienbeteiligung an der
Strafrechtspflege, Diss. Bonn 1979, S. 3 ff.); demgegenüber beruhte es für
die Schweiz primär auf dem Umstand, dass sich ein akademisch geschulter
Juristenstand im gesamten Gebiet erst relativ spät herausgebildet hat
(JESCHECK, Laienrichtertum in der Strafrechtspflege der BRD und der Schweiz,
in: Lebendiges Strafrecht, Bern 1977, S. 243). Auf der Ebene der
erstinstanzlichen Gerichte ist das Laienelement heute noch verbreitet,
während die oberinstanzlichen Gerichte vorwiegend mit juristisch gebildeten
Richtern besetzt sind. Entsprechende formelle Wahlvoraussetzungen kennen
jedoch auch viele grössere Kantone nicht. Dies hält, wie erwähnt, vor der
Bundesverfassung stand.

  4.3  Wie bereits ausgeführt, sprechen die Beschwerdeführer mit ihrem
Begehren nicht die Maxime der richterlichen Unabhängigkeit und
Unparteilichkeit im engeren Sinn, sondern die Frage der
Bildungsvoraussetzung für die Ausübung des Richteramtes an, indem

sie juristischen richterlichen Sachverstand fordern, der sich primär, aber
nicht zwingend im Rahmen eines universitären Studiums der Rechte aneignen
lässt.

  Zwischen der richterlichen Unabhängigkeit und den für die Ausübung
richterlicher Tätigkeit erforderlichen Bildungsvoraussetzungen besteht
jedoch insofern ein Konnex, als nur ausreichende fachlich-sachliche
Kenntnisse den Richter zu unabhängiger Willensbildung und richtiger
Rechtsanwendung befähigen. Der Richter muss in der Lage sein, den Fall in
seinen Einzelheiten zu erfassen, sich darüber eine Meinung zu bilden und das
Recht darauf anzuwenden (in diesem Sinn äussert sich auch die Literatur:
EICHENBERGER, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem,
Bern 1960, S. 234 ff.; KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, S.
263 ff.). Fehlt es daran, kann nicht von einem fairen Verfahren gesprochen
werden, zumal auch ein Zusammenhang mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör
besteht: Der Richter muss fähig sein, sich mit den Anliegen und Argumenten
der Verfahrensparteien angemessen auseinanderzusetzen. Der Anspruch auf
einen unabhängigen Richter bzw. auf ein faires Verfahren kann deshalb
berührt sein, wenn unerfahrene Laienrichter ohne Möglichkeit der Mithilfe
einer unabhängigen Fachperson ihres Amtes walten müssten; diesfalls würde
sich jedenfalls die Frage stellen, ob nicht von einem iudex inhabilis
gesprochen werden müsste, dem es an den für eine sachgerechte
Entscheidfindung erforderlichen Eigenschaften fehlt (vgl. GULDENER,
Schweizerisches Zivilprozessrecht, Zürich 1979, S. 14).

  Als vorsitzender Richter ist Urs Obrecht eingesetzt, der seit dem Jahr
1996 als vom Volk gewählter Bezirksrichter amtet. Er verfügt zwar über keine
juristische Ausbildung, was allein ihn aber nach dem Gesagten nicht unfähig
macht, das Richteramt auszuüben, umso weniger als die Verfahrensleitung und
Entscheidfindung unter Mitwirkung eines juristisch ausgebildeten
Gerichtsschreibers erfolgt, dem nach § 104 Abs. 1 ZPO/TG ausdrücklich
beratende Stimme zukommt und der Urs Obrecht sowohl für materiellrechtliche
Fragen als auch bei möglichen verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten zur
Seite stehen kann. Vor diesem Hintergrund bringen die Beschwerdeführer
nichts vor, was Urs Obrecht als zur Ausübung des Richteramtes unfähig
erscheinen liesse.