Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 IV 297



Urteilskopf

134 IV 297

30. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Erben des J. und
Mitb. sowie Verein für Asbestopfer und Mitb. gegen Staatsanwaltschaft des
Kantons Glarus und Mitb. (Beschwerde in Strafsachen )
6B_627/2007 / 6B_629/2007 vom 11. August 2008

Regeste

Verfolgungsverjährung; Beginn der Verjährung; Art. 71 aStGB, Art. 98 lit. a
StGB. Für den Verjährungsbeginn ist nach dem Wortlaut des Gesetzes auf den
Zeitpunkt der Tathandlung und nicht auf denjenigen des Erfolgseintritts der
Straftat abzustellen (E. 4.1 und 4.2) mit der Konsequenz, dass Straftaten
verjährt sein können, bevor der Erfolg eingetreten ist (E. 4.3). Dieses
Ergebnis hält auch vor den Grundrechtsgarantien stand (E. 4.3.5).

Sachverhalt ab Seite 297

BGE 134 IV 297 S. 297

A. Am 24. November 2005 erstatteten der Verein für Asbestopfer und E.M. beim
Verhöramt des Kantons Glarus Strafanzeige gegen S.A., T.A. und weitere,
unbekannte Täterschaft, insbesondere im Umfeld der Eternit (Schweiz) AG, in O.,
und der Schweizerischen Unfallversicherungsgesellschaft (SUVA), Luzern, wegen
fahrlässiger Tötung, begangen an R.M. und an einer unbekannten Anzahl weiterer
Personen.
Wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung zu eigenem Nachteil reichte am
28. August 2006 F. eine weitere Strafanzeige ebenfalls gegen S.A., T.A. und
weitere, unbekannte Täter ein.
BGE 134 IV 297 S. 298
Am 18. September 2006 erhoben J. und S. Strafanzeige gegen unbekannte
Täterschaft im Umfeld der Eternit (Schweiz) AG wegen strafbarer Handlungen
gegen Leib und Leben.

B. Nach Durchführung verschiedener Untersuchungshandlungen stellte das
Verhöramt des Kantons Glarus am 9. Oktober 2006 die gegen S.A., T.A. und
unbekannte Tatverdächtige bei der Eternit (Schweiz) AG, bei der SUVA, beim
ehemaligen Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft und beim
Arbeitsinspektorat des Kantons Glarus angehobene Strafuntersuchung wegen
vorsätzlicher und fahrlässiger Tötung und Körperverletzung im Zusammenhang mit
Asbestexpositionen ein.

C. Die gegen die Einstellung des Strafverfahrens von den Anzeigeerstattern in
zwei Eingaben erhobenen Beschwerden wies das Kantonsgericht des Kantons Glarus
mit Entscheid vom 12. September 2007 ab, soweit es auf sie eintrat.
Im Wesentlichen bestätigte das Kantonsgericht die Rechtsauffassung des
Verhöramtes, wonach die beanzeigten Straftaten verjährt seien.

D. Mit zwei Eingaben vom 12. bzw. 13. Oktober 2007 haben die Erben der im Laufe
des kantonalen Verfahrens verstorbenen J. und S. (6B_627/2007) sowie der Verein
für Asbestopfer, E.M. und F. (6B_629/2007) Beschwerde in Strafsachen an das
Bundesgericht erhoben. Sie beantragen, den angefochtenen Entscheid aufzuheben
und die Sache zwecks Weiterführung der Untersuchung an das Verhöramt des
Kantons Glarus zurückzuweisen. Diesen Antrag verbinden der Verein für
Asbestopfer, E.M. und F. mit 27 Detailanträgen für die weitere Untersuchung.
In den Vernehmlassungen stellt S.A. Antrag, die beiden Beschwerden abzuweisen,
soweit darauf einzutreten sei. T.A. beantragt, auf die Beschwerden nicht
einzutreten, eventuell sie abzuweisen. Die Eternit (Schweiz) AG beantragt, die
Beschwerde 6B_627/2007 abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei, und auf die
Beschwerde 6B_629/2007 nicht einzutreten, eventuell sie abzuweisen. Die SUVA
stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde 6B_627/2007 und Nichteintreten,
eventuell Abweisung der Beschwerde 6B_629/2007. Das Bundesamt für Umwelt, das
Kantonale Arbeitsinspektorat und auch das Kantonsgericht des Kantons Glarus
stellen Antrag auf Abweisung der Beschwerden. Schliesslich verzichtet das
Verhöramt des Kantons Glarus auf Stellungnahme.
BGE 134 IV 297 S. 299
Das Bundesgericht weist die Beschwerden ab, soweit darauf einzutreten ist.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

4. (...)

4.1 Die Bestimmungen des Strafgesetzbuches betreffend die Verfolgungsverjährung
sind durch das Bundesgesetz vom 5. Oktober 2001, in Kraft seit 1. Oktober 2002
(AS 2002 S. 2993 und 3146), geändert worden. Danach verjährt die
Strafverfolgung in 15 Jahren, wenn die Tat mit Gefängnis von mehr als drei
Jahren oder Zuchthaus bedroht ist (Art. 70 Abs. 1 lit. b StGB), und in sieben
Jahren, wenn die Tat mit einer anderen Strafe bedroht ist (lit. c). Ist vor
Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen, so tritt die
Verjährung nicht mehr ein (Art. 70 Abs. 3 StGB). Diese Regelung entspricht mit
einer terminologischen Anpassung (Freiheitsstrafe statt Zuchthaus und
Gefängnis) derjenigen, wie sie heute aufgrund des am 1. Januar 2007 in Kraft
gesetzten revidierten Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches Geltung hat (Art.
97 Abs. 1 und 3 StGB). Nach der ursprünglichen (bis 2002 massgebenden) Fassung
des Gesetzes waren die Verjährungsfristen kürzer (10 Jahre bei Gefängnis von
mehr als drei Jahren oder Zuchthaus; fünf Jahre für die anderen Straftaten),
jedoch endete die Verjährung nicht mit dem erstinstanzlichen Urteil, wurde
dafür aber mit jeder Untersuchungshandlung und jeder Verfügung des Gerichts
unterbrochen und begann neu zu laufen, wobei die ordentliche Verjährungsfrist
nicht um mehr als die Hälfte überschritten werden durfte (Art. 72 StGB in der
Fassung vom 21. Dezember 1937). Inhaltlich gleich blieb über alle Revisionen
des Gesetzes hinweg die Bestimmung über den Beginn der Verjährung. Sie lautet
(Art. 71 StGB in der Fassung vom 5. Oktober 2001):
Die Verjährung beginnt:
a) mit dem Tag, an dem der Täter die strafbare Handlung ausführt;
b) wenn der Täter die strafbare Tätigkeit zu verschiedenen Zeiten ausführt, mit
dem Tag, an dem er die letzte Tätigkeit ausführt;
c) wenn das strafbare Verhalten dauert, mit dem Tag, an dem dieses Verhalten
aufhört.
In der ursprünglichen Fassung des Gesetzes von 1937 (Art. 71 StGB) wie auch
nach der heutigen Fassung (Art. 98 lit. a StGB) steht an der Stelle des
Begriffs der strafbaren Handlung der Begriff der strafbaren Tätigkeit.
BGE 134 IV 297 S. 300
Da auch in Bezug auf die Verjährung der Grundsatz der "lex mitior" (Art. 2 Abs.
2 StGB) gilt (BGE 129 IV 49 E. 5.1 mit Hinweis auf BGE 114 IV 1 E. 2a und BGE
105 IV 7 E. 1a) und erste Untersuchungshandlungen am 24. November 2005 erfolgt
sind, hat das Kantonsgericht angenommen, in Bezug auf den Tatbestand der
fahrlässigen Tötung (Art. 117 StGB) oder Körperverletzung (Art. 125 StGB) seien
aufgrund der altrechtlichen relativen Verjährungsfrist von fünf Jahren
Tathandlungen, die vor dem 24. November 2000 erfolgt sind, verjährt, während
für den Tatbestand der (eventual-)vorsätzlichen Tötung (Art. 111 StGB) oder
schweren Körperverletzung (Art. 122 StGB) mit der relativen Verjährungsfrist
von zehn Jahren das Nämliche für Tathandlungen vor dem 24. November 1995 gelte.
Ausgehend davon, dass bei der Eternit (Schweiz) AG die Produktion von
asbesthaltigen Rohren im November 1994 eingestellt worden ist und nach ihrer
Darstellung J., S. und M. ohnehin deutlich früher mit Asbest in Kontakt
gekommen sind, hat das Kantonsgericht angenommen, durch aktives Tun könne ihnen
gegenüber in einem noch nicht verjährten Zeitpunkt weder ein fahrlässig noch
ein (eventual-)vorsätzlich begangenes Delikt verübt worden sein. Lediglich
bezüglich F. prüft das Kantonsgericht, ob zu einem späteren Zeitpunkt, bevor
die Asbestendreinigung abgeschlossen worden war, noch ein Kontakt mit
asbesthaltigem Material in Betracht falle, verwirft aber diese Möglichkeit. Da
es F. an der Legitimation zur Erhebung der Beschwerde in Strafsachen fehlt
(nicht publ. E. 2.2.4), braucht darauf nicht weiter eingegangen zu werden.

4.2 Da die Verjährung mit dem Tag beginnt, an dem der Täter die strafbare
Handlung beziehungsweise Tätigkeit ausführt (Art. 71 Abs. 1 aStGB [Fassung
2001], Art. 98 lit. a StGB), ist nach Lehre und Rechtsprechung der Zeitpunkt
des tatbestandsmässigen Verhaltens, nicht der Zeitpunkt des Eintritts des
allenfalls zur Vollendung des Delikts erforderlichen Erfolgs massgebend (BGE
101 IV 20 E. 3; HANS SCHULTZ, Einführung in den allgemeinen Teil des
Strafrechts, 1. Bd., 4. Aufl., Bern 1982, S. 248; PAUL LOGOZ, Commentaire du
Code pénal suisse, Partie générale, 2. Aufl., Neuenburg/Paris 1976, Art. 71
StGB N. 1; THORMANN/VON OVERBECK, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Allgemeiner
Teil I, Zürich 1940, Art. 71 StGB N. 1; VITAL SCHWANDER, Das Schweizerische
Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Zürich 1964, S. 219, Nr. 411; ERNST HAFTER, Lehrbuch
des schweizerischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Bern 1946, S. 435;
JOSÉ HURTADO POZO, Droit pénal, Partie générale, Basel 2008, S. 536,
BGE 134 IV 297 S. 301
Rz. 1710). Dies bedeutet, dass fahrlässige Erfolgsdelikte verjähren können,
bevor der tatbestandsmässige Erfolg eingetreten und somit der Tatbestand
erfüllt ist (BGE 102 IV 79 E. 6; BGE 122 IV 61 E. 2a/aa; SCHULTZ, a.a.O., S.
248; STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl.
1997, Art. 71 StGB N. 1; HURTADO POZO, a.a.O., S. 537, Rz. 1711; ANDREAS
DONATSCH/BRIGITTE TAG, Strafrecht I, 8. Aufl., Zürich 2006, S. 418; FRANZ
RIKLIN, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 3. Aufl., Zürich 2007,
S. 304; PETER MÜLLER, Basler Kommentar, StGB I, 2. Aufl. 2007, Art. 98 StGB N.
2).
Allerdings haben Fallkonstellationen, bei denen eine Straftat verjährt war,
bevor der Erfolg eingetreten und damit der Straftatbestand erfüllt war, in der
Literatur auch zu Irritationen Anlass gegeben. So hat zunächst HANS WALDER
(Probleme bei Fahrlässigkeitsdelikten, ZBJV 104/1968 S. 186 ff.) das Ergebnis,
dass eine Handlung verjähren kann, bevor sie strafbar sei, als paradox
bezeichnet und erwogen, danach zu differenzieren, ob der Täter bewusst oder
unbewusst fahrlässig gehandelt hat; bei bewusster Fahrlässigkeit wäre für den
Beginn der Verjährung der Erfolgseintritt massgebend, bei unbewusster
Fahrlässigkeit weiterhin das Ende des gefährlichen Tuns. WALDER räumt aber ein,
dass eine solche Interpretation gleichfalls Bedenken begegnet und der
Gesetzestext unbestreitbar an der Ausführung und nicht am Erfolg anknüpft
(a.a.O., S. 188). Neuerdings haben DANIEL JOSITSCH/SARAH SPIELMANN (Die
Verfolgungsverjährung bei fahrlässigen Erfolgsdelikten, AJP 2007 S. 189 ff.)
die Meinung vertreten, der Wortlaut verlange bei fahrlässigen Erfolgsdelikten
nicht zwingend, die Verjährung mit der Tathandlung laufen zu lassen. Das Gesetz
gehe nämlich auch davon aus, dass eine strafbare Handlung vorliegen müsse, so
dass es möglich erscheine, die Verjährung erst laufen zu lassen, wenn
Strafbarkeit gegeben sei (a.a.O., S. 194), zumal es auch mit Sinn und Zweck des
Rechtsinstituts der Verjährung unvereinbar wäre, von einer heilenden Wirkung
des Zeitablaufs auszugehen, wenn noch kein Delikt vorliege und der
Rechtsfrieden noch gar nicht gestört sei (a.a.O., S. 195). Freilich würde eine
Gesetzesauslegung, die für den Beginn der Verjährungsfrist an der Erreichung
der Strafbarkeitsgrenze anknüpft, dazu führen, dass zwar fahrlässige
Erfolgsdelikte nicht verjähren könnten, bevor der Erfolg eintritt, vielmehr die
Verjährungsfrist erst dann zu laufen beginnt, vorsätzlich begangene
Erfolgsdelikte hingegen schon. Zwar liessen sich diese, da Strafbarkeit schon
beim Überschreiten der Versuchsgrenze gegeben ist,
BGE 134 IV 297 S. 302
bereits ab dem Zeitpunkt der Handlung verfolgen; vielfach bleibt ein Delikt
indessen unerkannt, solange sein Erfolg nicht eingetreten ist. Schwer
verständlich wäre zudem, dass dieselbe Handlung, (eventual-)vorsätzlich
begangen, verjährt sein könnte, wenn bei blosser Fahrlässigkeit die Frist erst
zu laufen begänne.

4.3 Der zu beurteilende Fall rechtfertigt es, die bisherige Rechtsprechung
einer Überprüfung zu unterziehen.

4.3.1 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach
Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis
einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Auszurichten ist die
Auslegung auf die ratio legis, die zu ermitteln dem Gericht allerdings nicht
nach den subjektiven Wertvorstellungen der Richter aufgegeben ist, sondern nach
den Vorgaben des Gesetzgebers. Die Auslegung des Gesetzes ist zwar nicht
entscheidend historisch zu orientieren, im Grundsatz aber dennoch auf die
Regelungsabsicht des Gesetzgebers und die damit erkennbar getroffenen
Wertentscheidungen auszurichten, da sich die Zweckbezogenheit des
rechtsstaatlichen Normverständnisses nicht aus sich selbst begründen lässt,
sondern aus den Absichten des Gesetzgebers abzuleiten ist, die es mit Hilfe der
herkömmlichen Auslegungselemente zu ermitteln gilt. Die Gesetzesauslegung hat
sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die
Rechtsnorm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und
konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im
normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis aus der ratio
legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus
und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer
hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien
können beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort
geben (BGE 133 III 175 E. 3.3.1; BGE 133 V 314 E. 4.1; BGE 128 I 34 E. 3b).
Sinngemässe Auslegung kann auch zu Lasten des Beschuldigten vom Wortlaut
abweichen. Im Rahmen solcher Gesetzesauslegung ist auch der Analogieschluss
erlaubt. Dieser dient dann lediglich als Mittel sinngemässer Auslegung. Der
Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" (Art. 1 StGB) verbietet bloss, über den
dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommenden Sinn hinauszugehen, also neue
Straftatbestände zu schaffen oder bestehende derart zu erweitern, dass die
Auslegung durch den Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt wird (BGE 128 IV 272
E. 2 mit Hinweis).
BGE 134 IV 297 S. 303

4.3.2 Die Bestimmung über den Beginn der Verjährung (Art. 98 StGB; Art. 71
aStGB) stellt nach ihrem Wortlaut auf den Zeitpunkt ab, zu dem der Täter "die
strafbare Tätigkeit ausführt", "a exercé son activité coupable", "ha commesso
il reato". Jedenfalls der deutsche und der französische Gesetzestext, etwas
weniger eindeutig der italienische Text, beziehen sich auf die Tätigkeit, nicht
auf das Delikt insgesamt, also nicht auch auf den Erfolg (BGE 101 IV 20 E. 3b).
Das stimmt überein mit dem Wortgebrauch in den Art. 8 Abs. 1 und Art. 340 Abs.
1 des Gesetzes, wo für den Begehungsort bzw. die örtliche Zuständigkeit klar
zwischen Ausführen und Erfolg der Handlung unterschieden wird. Bestätigt wird
diese Gesetzesauslegung auch durch die Entstehungsgeschichte. Zunächst sah der
Vorentwurf von 1908 vor, dass bei Erfolgsdelikten für den Beginn der Verjährung
auf den Erfolgseintritt abgestellt werden solle; davon wich aber die 2.
Expertenkommission in der Folge ab, indem sie nicht auf den mehr oder weniger
zufälligen Zeitpunkt des Erfolgseintritts abstellen wollte, sondern als allein
massgeblich die Tathandlung bezeichnete (Protokoll der 2. Expertenkommission,
Bd. I, April 1912, S. 401 ff.; vgl. BGE 101 IV 20 E. 3c). Ob allerdings bei der
Schaffung des schweizerischen Strafgesetzbuchs bedacht worden ist, dass bei
Abstellen auf die Tathandlung die Straftat verjährt sein kann, bevor überhaupt
Strafbarkeit gegeben ist, lässt sich den Gesetzesmaterialien nicht schlüssig
entnehmen (vgl. HUBERT FISCHER, Die Strafverfolgungsverjährung im deutschen und
schweizerischen Strafgesetzbuch, Diss. Basel 1970, S. 102). Die Frage bildete
jedoch Gegenstand ausführlicher Erörterung im Vorentwurf Schultz für den neuen
Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs (HANS SCHULTZ, Bericht und Vorentwurf zur
Revision des Allgemeinen Teils [...] des Schweizerischen Strafgesetzbuchs, Bern
1987, S. 229 ff.), wobei der Vorentwurf sich für die Beibehaltung der
bisherigen Regelung aussprach. Mit der Verabschiedung des neuen Allgemeinen
Teils des Strafgesetzbuches am 13. Dezember 2002 kann kein Zweifel mehr daran
bestehen, dass der Gesetzgeber auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass
Straftaten verjährt sein können, bevor der Straftatbestand erfüllt ist, die
Tathandlung und nicht den Erfolg für den Verjährungsbeginn als massgebend
erachtet.

4.3.3 Rechtsvergleichend fällt allerdings auf, dass das deutsche Reichsgericht
bei vergleichbarem Gesetzeswortlaut (§ 67 Abs. 4 des Reichsstrafgesetzbuches
[RStGB]: "Die Verjährung beginnt mit dem Tage, an welchem die Handlung begangen
ist, ohne Rücksicht auf
BGE 134 IV 297 S. 304
den Zeitpunkt des eingetretenen Erfolgs.") zu einer anderen Auslegung gelangte.
Das Reichsgericht hielt dafür, dass der Begriff der "Handlung" alle diejenigen
Umstände mit umfasse, mit deren Eintreten erst die strafbare Handlung in ihren
konkreten Voraussetzungen vorliege, wo diese Voraussetzungen zeitlich getrennt
sind, erst mit dem Eintritt der letzten derselben, also erst wenn die
gesetzlichen Begriffsmerkmale der strafbaren Handlung verwirklicht sind
(Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen [RGSt] 5, 282; 21, 228; 26,
261; 33, 230; 42, 171). Den Begriff des Erfolgs, der nach dem Gesetz nicht
massgebend sein soll, verstand das Reichsgericht einschränkend als Erfolg
jenseits des Grundtatbestands, so dass nur dessen Qualifikationen darunter
fielen, wenn etwa eine zunächst einfache Körperverletzung später zur schweren
wird (RGSt 42, 171). Diese Rechtsprechung des Reichsgerichts war lange Zeit
heftig umstritten (vgl. HEINRICH JAGUSCH, Leipziger Kommentar, 7. Aufl., S.
529; H.-J. BRUNS, Wann beginnt die Verfolgungsverjährung beim unbewusst
fahrlässigen Erfolgsdelikt?, Neue juristische Wochenschrift [NJW] 11/1958 S.
1257 ff.; FISCHER, a.a.O., S. 92 ff.; SABINE GLESS, Zeitliche Differenz
zwischen Handlung und Erfolg - insbesondere als Herausforderung für das
Verjährungsrecht, Goltdammer's Archiv für Strafrecht [GA] 2006 S. 705).
Schliesslich wurde sie mit der Reform des Strafgesetzbuchs von 1969 ins
positive Recht überführt, indem nach § 78 deutsches StGB die Verjährung erst
mit Eintritt des zum Tatbestand gehörenden Erfolgs beginnen soll.

4.3.4 Die vom Wortlaut abweichende bzw. diesen "berichtigende" Auslegung des
Reichsgerichts (ALBERT MÖSL, Leipziger Kommentar, 9. Aufl., N. 2 zu § 67;
JAGUSCH, a.a.O., S. 529) mag Anlass geben zu überdenken, ob die wörtliche
Auslegung des Gesetzes durch das Bundesgericht und die herrschende
schweizerische Lehre der aus der ratio legis abzuleitenden Funktion der
Verjährung widerspricht. Das Institut der Verjährung versteht sich zwar nicht
von selbst, doch entspricht die Auffassung, dass Straftaten, abgestuft nach der
Schwere der Tat, nach gewisser Zeit nicht mehr verfolgt werden sollen, in
unserem Rechtskreis allgemeiner Überzeugung. Nach Ablauf einer gewissen Zeit
erscheint eine Bestrafung weder als kriminalpolitisch notwendig noch als
gerecht. Das Bedürfnis nach Ausgleich begangenen Unrechts durch Verhängung
einer Strafe schwindet mit der Zeit und damit auch die dadurch angestrebte
Bewährung der Rechtsordnung wie auch die Notwendigkeit spezialpräventiver
Einwirkung auf den Täter durch Abschreckung und Besserung (DONATSCH/TAG,
a.a.O.,
BGE 134 IV 297 S. 305
S. 416). Mit dem Zeitablauf nehmen aber auch Beweisschwierigkeiten zu, dies
zunächst aus der Sicht der Strafverfolgung, aber auch unter dem Blickwinkel der
Verteidigung des Angeklagten, der, wenngleich ihm das Prinzip in dubio pro reo
zur Seite steht, nach Jahr und Tag nicht mehr auf Beweismittel greifen kann,
die ihn zu entlasten vermögen (GLESS, a.a.O., S. 692). Schliesslich ist die
Verjährung von Straftaten auch ein Gebot der Verfahrensökonomie (NADJA CAPUS,
Ewig still steht die Vergangenheit?, Bern 2006, S. 30 f.; MÜLLER, a.a.O., vor
Art. 97 StGB N. 39): Angesichts beschränkter Ressourcen können sich die
Strafverfolgungsbehörden auf die strafrechtliche Verarbeitung von Fällen
konzentrieren, bei denen eine realistische Aussicht auf Aufklärung besteht und
bei denen nicht wegen Zeitablaufs ein hinreichendes Beweisfundament sich nur
noch ausnahmsweise erstellen lässt.
Die Gründe für eine Verjährung von Straftaten, auf die hier interessierende
Problematik grosser zeitlicher Differenz zwischen Tathandlung und Erfolg
angewendet, führen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Zwar lässt sich 1) sagen,
dass mit dem Eintritt des Erfolgs der Rechtsfriede nachhaltig gestört ist und
das Bedürfnis nach Ausgleich auch keineswegs verblasst, wenn die Tathandlung
lange Zeit zurückliegt. Anders aber verhält es sich 2) mit der vom Strafrecht
bezweckten Einwirkung auf den Täter, wofür der Zeitablauf seit der Tathandlung
bedeutsam ist. Beweisschwierigkeiten bestehen 3) zwar mit Bezug auf den Erfolg
keine, für die hierfür ursächliche Tathandlung aber sehr wohl. Jahr und Tag
nach der Handlung erhöhen sich nicht nur die Beweisschwierigkeiten für die
Strafverfolgungsbehörde, auch für den mutmasslichen Täter sind
Entlastungsbeweise regelmässig nicht mehr greifbar. Dieser Problematik muss das
Strafrecht Rechnung tragen. Angesichts all dessen lässt sich jedenfalls nicht
sagen, dass es der Funktion der Ratio der Verjährung geradezu widerspricht,
diese nicht erst ab Erfolg, sondern schon mit der Tathandlung laufen zu lassen.

4.3.5 Im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung sind auch
die Anforderungen zu berücksichtigen, welche sich an die gesetzliche Regelung
aus Grundrechtsgarantien ergeben. Hierbei fällt zunächst der Anspruch aus Art.
6 EMRK auf Zugang zu einem Gericht in Betracht. Diesen Zugang gewährt die
Konvention allerdings nicht voraussetzungslos. Vielmehr kann er an sachliche
Bedingungen geknüpft werden. Als solche können die Regeln über die Verjährung
ohne weiteres gelten. Immerhin dürfen
BGE 134 IV 297 S. 306
Beschränkungen nicht so weit gehen, dass sie das Recht auf Zugang zum Gericht
seiner Substanz entleeren (Urteil EGMR i.S. Stubbings et al. gegen Vereinigtes
Königreich, vom 22. Oktober 1996, Recueil CourEDH 1996-IV S. 1487 Ziff. 50).
Unter diesem Aspekt liesse sich erwägen, ob eine Verjährungsregelung, welche
einen Anspruch als verjährt erklärt, bevor er überhaupt nur entstanden ist, die
Substanz des Rechts auf Zugang zum Gericht noch beachtet. Indessen bezieht sich
Art. 6 EMRK auf zivilrechtliche Ansprüche und auf die Stichhaltigkeit der gegen
eine Person gerichteten strafrechtlichen Anklage. Um beides geht es hier nicht.
Die von einer Straftat geschädigte Person kann sich nicht auf die Garantien aus
Art. 6 EMRK berufen, um ein Strafverfahren gegen Dritte einzuleiten (MARK E.
VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, Zürich 1999, S.
247, Rz. 386, S. 250, Rz. 392). Ohnehin beruht die auf den ersten Blick
plausible Auffassung, ein Anspruch könne nicht verjähren, bevor er überhaupt
entstanden sei, auf zivilrechtlichem Denken eines zunächst entstandenen
Anspruchs, den die Partei, die ihn nicht geltend macht, wieder verlieren kann
(GLESS, a.a.O., S. 705). Im Strafrecht geht es demgegenüber um die Frage, an
welches Merkmal - Handlung oder Erfolg - einer voll verwirklichten Straftat für
die Verjährung anzuknüpfen ist, wofür strafrechtliche Kriterien massgebend sind
(vgl. BRUNS, a.a.O., S. 1260 f.) und wofür der Gesetzgeber berücksichtigen
kann, ob er es kriminalpolitisch und vom Zweck der Strafe her für sinnvoll
erachtet, Jahr und Tag nach Verwirklichung des Handlungsunrechts noch die
Strafverfolgung einzuleiten.
Zu keinem anderen Ergebnis führen auch die Anforderungen, welche sich aus den
grundrechtlichen Ansprüchen auf Achtung des Lebens (Art. 2 EMRK) und auf
Achtung der Privatsphäre (Art. 8 EMRK) ergeben. Die Grundrechte sind nicht nur
Abwehrrechte gegen den Staat, sondern es leiten sich aus ihnen auch
Schutzpflichten des Staates gegen Beeinträchtigungen durch Private ab. Art. 2
EMRK verlangt in Abs. 1, dass das Recht auf Leben gesetzlich geschützt wird.
Daraus folgt zwar nicht, dass der Staat jede Möglichkeit der Gewaltanwendung
durch Private zu verhindern verpflichtet wäre, wozu er auch gar nicht in der
Lage ist. Dem Gesetzgeber steht auch grosses Ermessen in der Beurteilung zu,
mit welchen gesetzgeberischen Mitteln er den Schutz seiner Bürger gewährleisten
will. Zum Schutz hochwertiger Rechtsgüter kann er aber verpflichtet sein, auch
strafrechtliche Sanktionen vorzusehen (Urteile EGMR i.S. X und Y gegen
Niederlande vom 26. März 1985, Serie A, Band 91, Ziff. 27; i.S. M.C. gegen
Bulgarien
BGE 134 IV 297 S. 307
vom 4. Dezember 2003, Recueil CourEDH 2003-XII S. 45 ff., Ziff. 150 ff.) und
gegebenenfalls eine effektive Strafuntersuchung zu führen. Dem Gesetzgeber ist
es allerdings unbenommen, im Rahmen seiner Kriminalpolitik gegenläufige
Interessen zu berücksichtigen. So verletzt es Art. 2 EMRK nicht, wenn ein Staat
aus besonderen Gründen ein Amnestiegesetz erlässt, das zur Folge hat, dass
selbst ein Mord ungesühnt bleibt (Entscheid der Europäischen Kommission für
Menschenrechte i.S. Dujardin gegen Frankreich vom 2. September 1991, Décisions
et rapports de la Commission européenne des droits de l'homme [DR] 72, 236).
Wenn der schweizerische Gesetzgeber für die Verjährung am Handlungsunrecht
anknüpft, so beruht dies auf sachlichen Gründen. Es führt zwar dazu, dass unter
besonderen Umständen, wenn die Handlung weit zurückliegt, eine Straftat nicht
verfolgt werden kann. Das kann aber mit den erheblich erschwerten
Verteidigungsmöglichkeiten des mutmasslichen Täters Jahr und Tag nach einem
behaupteten Fehlverhalten und der eingeschränkten Bedeutung spezialpräventiver
Einwirkung auf den Täter lange Zeit nach der vorgeworfenen Handlung
gerechtfertigt werden. Jedenfalls bedeutet eine am Handlungsunrecht anknüpfende
Verjährungsregelung nicht, dass der Schutz des Lebens mittels strafrechtlicher
Mittel den generalpräventiven Erfordernissen nicht genügen würde und dadurch
Art. 2 EMRK verletzt wäre.