Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 IV 241



Urteilskopf

134 IV 241

25. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen (Beschwerde in Strafsachen)
6B_538/2007 vom 2. Juni 2008

Regeste

Bildung einer Gesamtstrafe bei Widerruf des bedingten Strafvollzugs (Art. 46
Abs. 1 Satz 2 StGB). Die Bildung einer Gesamtstrafe in sinngemässer Anwendung
von Art. 49 StGB kommt nicht in Betracht, wenn die widerrufene Strafe und die
neue Strafe gleichartig sind (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 241

BGE 134 IV 241 S. 241
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen sprach X. am 13. Juli 2007 in
Bestätigung des Entscheids des Kantonsgerichts Schaffhausen vom 30. März 2005
der mehrfachen qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz
(Art. 19 Ziff. 1 und Ziff. 2 lit. b und c BetmG), der mehrfachen, zum Teil
qualifizierten Geldwäscherei, der mehrfachen Urkundenfälschung, der falschen
Anschuldigung sowie des Fahrens in angetrunkenem Zustand schuldig. Es
verurteilte ihn in teilweiser Gutheissung der Berufung der Staatsanwaltschaft
in Anwendung des bis 31. Dezember 2006 in Kraft stehenden alten Rechts unter
Anrechnung der Untersuchungshaft von 91 Tagen zu einer Freiheitsstrafe von 3
Jahren, teilweise
BGE 134 IV 241 S. 242
als Zusatzstrafe zum Strafbefehl des Untersuchungsrichteramts des Kantons
Schaffhausen vom 14. August 2001, sowie zu einer Busse von 20'000 Franken. Es
widerrief den mit Strafbefehl des Untersuchungsrichteramts des Kantons
Schaffhausen vom 14. August 2001 dem Verurteilten gewährten bedingten Vollzug
für eine Gefängnisstrafe von 45 Tagen bei einer Probezeit von 3 Jahren und
erklärte diese Strafe für vollziehbar. Es stellte fest, dass der Vollzug der
mit Strafbefehl des Verkehrsstrafamts des Kantons Schaffhausen vom 23. Februar
1996 ausgefällten bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 21 Tagen infolge
der seit Ablauf der dreijährigen Probezeit verstrichenen Zeit (Art. 41 Ziff. 3
Abs. 5 aStGB) nicht mehr angeordnet werden kann. Das Obergericht ordnete sodann
unter anderem die Einziehung von sichergestellten Vermögenswerten im
Gesamtbetrag von rund Fr. 900'000.- an. Es verpflichtete den Verurteilten
darüber hinaus gestützt auf Art. 59 Ziff. 2 aStGB zur Bezahlung einer
Ersatzforderung von Fr. 750'000.- und ordnete zur Sicherung dieser staatlichen
Ersatzforderung in Bezug auf drei Grundstücke eine Grundbuchsperre an. Mit
Verfügung des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 17. August 2007 wurde
das Obergerichtsurteil im Kostenpunkt berichtigt.
X. führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts
des Kantons Schaffhausen vom 13. Juli 2007 sei aufzuheben und die Sache im
Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Er ficht insbesondere
das Strafmass, die Verweigerung des (teil-)bedingten Strafvollzugs sowie die
Höhe der staatlichen Ersatzforderung an.
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen weist in seiner Stellungnahme darauf
hin, dass der Verkehrswert von zwei mit einer Grundbuchsperre belegten
Grundstücken gemäss einer aktuellen Schätzung des Schweizerischen
Bauernverbands vom Februar 2008 Fr. 1'175'000.- beträgt. Im Übrigen hat das
Obergericht unter Hinweis auf die Erwägungen im angefochtenen Urteil auf
Gegenbemerkungen verzichtet.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen stellt in ihrer Vernehmlassung
den Antrag, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

4. Der Beschwerdeführer ficht den Widerruf des bedingten Vollzugs der Vorstrafe
von 45 Tagen gemäss Strafbefehl vom
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14. August 2001 nicht an. Er macht aber geltend, dass aus dieser für
vollziehbar erklärten Vorstrafe und der neuen Strafe in Anwendung des neuen,
milderen Rechts gemäss Art. 46 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 49 StGB
eine Gesamtstrafe nach dem Asperationsprinzip zu bilden sei.

4.1 Art. 46 Abs. 1 StGB bestimmt Folgendes:
"Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und
ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft
das Gericht die bedingte Strafe oder den bedingten Teil der Strafe. Es kann die
Art der widerrufenen Strafe ändern, um mit der neuen Strafe in sinngemässer
Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe zu bilden. Dabei kann es auf eine
unbedingte Freiheitsstrafe nur erkennen, wenn die Gesamtstrafe mindestens sechs
Monate erreicht oder die Voraussetzungen nach Artikel 41 erfüllt sind."
Art. 46 Abs. 1 des bundesrätlichen Entwurfs sah Folgendes vor:
"Begeht der Verurteilte während der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen und
ist deshalb zu erwarten, dass er weitere Straftaten verüben wird, so widerruft
das Gericht die ausgesetzte Strafe oder die bedingte Freiheitsstrafe. Verhängt
es für beide Taten eine Strafe gleicher Art, so bildet es in sinngemässer
Anwendung von Art. 49 eine Gesamtstrafe. Dabei kann es auf eine Freiheitsstrafe
nur erkennen, wenn die Gesamtstrafe mindestens 6 Monate erreicht oder die
Voraussetzungen nach Artikel 41 erfüllt sind."
Dazu wird in der Botschaft des Bundesrates Folgendes ausgeführt (BBl 1999 S.
1979 ff., 2057):
"Sind die Voraussetzungen erfüllt, so widerruft das Gericht die ausgesetzte
Strafe oder die bedingte Freiheitsstrafe. Im Falle des Aussetzens der Strafe
bestimmt es sodann die Art der Strafe nach den allgemeinen Grundsätzen, es
beachtet insbesondere Artikel 41 E. Verhängt es für Rückfalltat und Anlasstat
zweimal eine Strafe gleicher Art, so bildet es in sinngemässer Anwendung von
Artikel 49 E eine Gesamtstrafe, wiederum mit der Einschränkung nach Artikel 41
E bezüglich der Freiheitsstrafe."
Daraus ergibt sich, dass eine Gesamtstrafe in sinngemässer Anwendung von Art.
49 einzig im Falle des Widerrufs einer ausgesetzten Strafe, nicht aber im Falle
des Widerrufs einer bedingten Strafe gebildet werden sollte. Entsprechend sah
Art. 46 Abs. 1 Satz 2 des bundesrätlichen Entwurfs die Bildung einer
Gesamtstrafe in sinngemässer Anwendung von Art. 49 für den Fall vor, dass das
Gericht "für beide Taten eine Strafe gleicher Art" "verhängt". "Für beide
Taten", d.h. für die neue Tat und für die Gegenstand des früheren Urteils
bildende frühere Tat, konnte das Gericht eine Strafe aber überhaupt
BGE 134 IV 241 S. 244
nur "verhängen", wenn im früheren Urteil die Strafe für die Gegenstand jenes
Entscheids bildende Tat im Sinne von Art. 42 des bundesrätlichen Entwurfs
ausgesetzt worden war.
Art. 42 des bundesrätlichen Entwurfs ("Aussetzen der Strafe") sah in den
Absätzen 1 und 4 Folgendes vor:
"Hat der Täter die Voraussetzungen für eine Geldstrafe oder eine
Freiheitsstrafe von weniger als 1 Jahr erfüllt, erscheint jedoch deren Vollzug
nicht notwendig, um den Täter von weiteren Straftaten abzuhalten, so spricht
ihn das Gericht schuldig, legt die Strafe in Strafeinheiten fest und setzt den
Vollzug der Strafe aus.
Das Gericht bestimmt die Art der Strafe bei Widerruf infolge Nichtbewährung
(Art. 46). 1 Strafeinheit entspricht 1 Tagessatz Geldstrafe, 4 Stunden
gemeinnütziger Arbeit oder 1 Tag Freiheitsstrafe."
Nur im Falle des Widerrufs einer ausgesetzten Strafe, offensichtlich nicht auch
im Falle des Widerrufs einer bedingten Strafe konnte das Gericht in die Lage
kommen, "die Art der Strafe" zu "bestimmen". Denn bei der ausgesetzten Strafe
waren lediglich die "Strafeinheiten" festgelegt, die Art der Strafe aber gerade
noch nicht bestimmt. Demgegenüber ist bei der auch schon im Entwurf
vorgesehenen bedingten Strafe die Art der Strafe im Entscheid, in welchem die
bedingte Strafe ausgefällt wurde, bereits bestimmt. In den Verhandlungen der
eidgenössischen Räte wurde das Institut des "Aussetzens der Strafe" im Sinne
des bundesrätlichen Entwurfs fallengelassen. Folgerichtig hätte Art. 46 Abs. 1
Satz 2 des bundesrätlichen Entwurfs ersatzlos gestrichen werden müssen.
Stattdessen haben die eidgenössischen Räte aus schwer nachvollziehbaren Gründen
eine nunmehr auf den Fall des Widerrufs des bedingten Strafvollzugs quasi
angepasste, im bundesrätlichen Entwurf noch nicht vorgesehene Bestimmung
kreiert, wonach das Gericht die Art der widerrufenen Strafe "ändern" kann, "um"
in sinngemässer Anwendung von Art. 49 StGB eine Gesamtstrafe zu bilden (siehe
AB 1999 S S. 1118; AB 2001 N S. 563).

4.2 Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die
Bestimmung stösst auch in der Lehre auf Kritik. Es sei sehr eigenartig, dass
die Art der Vorstrafe und damit auch ein rechtskräftiges Urteil überhaupt
geändert werden kann, und es sei rechtsstaatlich höchst bedenklich,
beispielsweise eine (mildere) Geldstrafe in eine (schwerere) Freiheitsstrafe
abzuändern (GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil
II, 2. Aufl. 2006, § 5 N. 96; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER/MARKUS HUG/DANIEL
JOSITSCH,
BGE 134 IV 241 S. 245
Strafrecht II, 8. Aufl. 2007, S. 145/146; ROLAND M. SCHNEIDER/ROY GARRÉ, Basler
Kommentar, StGB I, 2. Aufl. 2007, Art. 46 StGB N. 30). Sonderbar sei zudem,
dass ausgerechnet bei Gleichartigkeit der Vorstrafe und der neuen Strafe nach
dem Wortlaut der Bestimmung die Bildung einer Gesamtstrafe nicht möglich ist,
was offensichtlich auf einem Versehen des Gesetzgebers beruhe (SCHNEIDER/GARRÉ,
a.a.O., Art. 46 StGB N. 31; auch STRATENWERTH, a.a.O., § 5 N. 96). Zur Frage,
wie im Falle des Widerrufs des bedingten Vollzugs der Vorstrafe die Bildung
einer Gesamtstrafe in sinngemässer Anwendung von Art. 49 StGB vorzunehmen und
ob dies überhaupt sachgerecht ist, äussert sich die Lehre so weit ersichtlich
nicht.

4.3. Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB scheint zum Ausdruck zu bringen, dass der
Richter für die Gegenstand der früheren Verurteilung bildenden Taten und für
die während der Probezeit verübten neuen Taten eine Gesamtstrafe bilden kann,
wie wenn er alle Straftaten gleichzeitig zu beurteilen hätte. Eine ähnliche
Regelung enthält Art. 89 StGB für den Fall des Widerrufs der bedingten
Entlassung bei Verübung von Straftaten während der Probezeit. Nach Art. 89 Abs.
6 StGB bildet das Gericht "in Anwendung von Artikel 49 eine Gesamtstrafe", wenn
auf Grund der neuen Straftat die Voraussetzungen für eine unbedingte
Freiheitsstrafe erfüllt sind und diese mit der durch den Widerruf vollziehbar
gewordenen Reststrafe zusammentrifft. Diese Vorschrift entspricht Art. 89 Abs.
3 des bundesrätlichen Entwurfs. Dazu wird in der Botschaft des Bundesrates
lediglich ausgeführt, die vorgeschlagene Bestimmung regle das Zusammentreffen
eines durch Widerruf vollziehbaren Strafrests mit einer neuen Freiheitsstrafe
"sachgerechter" als das bisherige Recht: Der Richter kumuliere nicht einfach
wie bisher beide Strafen, sondern bilde aus ihnen eine Gesamtstrafe, auf welche
die Regeln der bedingten Entlassung erneut anwendbar seien (Botschaft, a.a.O.,
S. 2123).
Soweit Art. 46 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 49 StGB zum Ausdruck
bringen sollte, dass der Richter für die Gegenstand der früheren Verurteilung
bildenden Straftaten einerseits und die während der Probezeit begangenen neuen
Straftaten andererseits eine Gesamtstrafe nach dem Asperationsprinzip bilden
kann, wie wenn er alle Straftaten gleichzeitig zu beurteilen hätte, erscheint
dies als wenig sachgerecht. Der Fall, dass ein Täter nach einer rechtskräftigen
Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe während der Probezeit weitere
Delikte verübt, unterscheidet sich wesentlich vom
BGE 134 IV 241 S. 246
Fall eines Täters, der sämtliche Taten begangen hatte, bevor er wegen dieser
Taten (siehe Art. 49 Abs. 1 StGB) beziehungsweise zumindest wegen eines Teils
dieser Taten (vgl. Art. 49 Abs. 2 StGB betreffend die retrospektive Konkurrenz)
verurteilt worden ist. Eine Gleichstellung dieser Fälle bei der Strafzumessung
erscheint als sachfremd, weil damit der straferhöhend zu wertende Umstand, dass
der Täter einen Teil der Taten während der Probezeit nach einer rechtskräftigen
Verurteilung zu einer bedingten Strafe begangen hat, bei der Strafzumessung zu
Unrecht unberücksichtigt bliebe. Wie es sich damit im Einzelnen verhält, muss
indessen im vorliegenden Fall aus nachstehenden Gründen nicht abschliessend
beurteilt werden.

4.4 Das Verfahren nach Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB ist nach dem klaren Wortlaut
der Bestimmung ("[...] kann [...]") fakultativ. Es findet nach dem klaren
Wortlaut der Vorschrift nur Anwendung, wenn die bedingte Vorstrafe und die neue
Strafe nicht gleichartig sind und daher das Gericht die Art der Vorstrafe
ändert. Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt, da beide Strafen
gleichartig sind.
Die Vorinstanz hat somit Bundesrecht nicht verletzt, indem sie nicht gestützt
auf Art. 46 Abs. 1 Satz 2 StGB in sinngemässer Anwendung von Art. 49 StGB eine
Gesamtstrafe gebildet hat. Die Beschwerde ist daher in diesem Punkt abzuweisen.