Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 III 88



Urteilskopf

134 III 88

  15. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Y. (Beschwerde in Zivilsachen)
  5A_582/2007 vom 4. Dezember 2007

Regeste

  Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ; Widersetzen des Kindes.

  Das Widersetzen muss mit nachvollziehbaren Gründen unterlegt und
nachdrücklich sein (E. 4).

Sachverhalt ab Seite 88

  Bei der Scheidung in Frankreich wurde das Sorgerecht über die Kinder A.,
geb. 1993, und B., geb. 1999, den Eltern gemeinsam, die Obhut der Mutter
allein zugesprochen. Am 19. Mai 2006 verliess die Mutter trotz Widerstand
des Vaters mit den beiden Kindern Frankreich und zog in die Schweiz.

  Während das Bezirksgerichtspräsidium Arlesheim das Gesuch des Vaters vom
9. Mai 2007 um sofortige Rückführung der Kinder nach Frankreich abwies,
verpflichtete das Kantonsgericht Basel-Landschaft die Mutter zur
unverzüglichen Rückführung.

  Gegen den Beschluss des Kantonsgerichts hat die Mutter Beschwerde in
Zivilsachen erhoben mit dem Begehren um dessen Aufhebung, eventualiter um
Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung. Das Bundesgericht weist die
Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Es bleibt die Prüfung von Ausschlussgründen, die im Übereinkommen
vorgesehen sind. Die Beschwerdeführerin beruft sich diesbezüglich auf Art.
13 Abs. 2 des Übereinkommens vom 25. Oktober 1980 über die zivilrechtlichen
Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ; SR 0.211.230.02), wonach
von einer Rückführung abgesehen werden kann, wenn sich die Kinder der
Rückgabe widersetzen und sie ein Alter und eine Reife erreicht haben,
angesichts deren es angebracht erscheint, ihre Meinung zu berücksichtigen.

  Das Kantonsgericht hat diesbezüglich erwogen, B. sei erst acht Jahre alt
und im Übrigen sei es ihm egal, ob er in der Schweiz oder in Frankreich
lebe, solange er mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammenbleiben
könne. A. sei bereits 14-jährig und verfüge entsprechend über die nötige
Reife für eine eigene Meinungsbildung. Gemäss dem von ihrer Anhörung
erstellten Protokoll fühle sie sich am neuen Ort wohl, gehe es ihr in der
Schweiz gut und wolle sie lieber bei der Mutter wohnen; demgegenüber seien
keine ernsthaften und nachvollziehbaren Gründe oder sonstigen
Willensäusserungen zum Ausdruck gebracht worden, woraus sich eine Aversion
gegen Frankreich und ein eigentliches Widersetzen gegen die Rückführung
ableiten liesse.

  Die Beschwerdeführerin macht geltend, diese Feststellungen seien falsch,
da sie diametral den Schlussfolgerungen der ersten Instanz entgegenstünden,
die auch die Anhörung durchgeführt habe. Aufgrund der Begebenheiten hätte
das Kantonsgericht zum Schluss kommen müssen, dass zumindest A. sich der
Rückkehr widersetze und damit der Verweigerungsgrund von Art. 13 Abs. 2
HEntfÜ gegeben sei.

  Die Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Entscheid sind für das
Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG). Das
Bundesgericht kann jedoch den Sachverhalt von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn er offensichtlich unrichtig ist (Art. 105 Abs. 2 BGG); die
Beschwerdeführerin erhebt auch eine

dahingehende Sachverhaltsrüge (Art. 97 Abs. 1 BGG). Eigentlich würde hierfür
das strikte Rügeprinzip im Sinn von Art. 106 Abs. 2 BGG gelten (BGE 133 II
249 E. 1.4.3 S. 254 f.). Nun ist im vorliegenden Fall zu beachten, dass das
Aussageprotokoll den Parteien auf ausdrücklichen Wunsch von A. nicht
zugestellt worden ist, weshalb es der Beschwerdeführerin gar nicht möglich
war, anhand der betreffenden Aktenstelle eine offensichtlich unrichtige
Sachverhaltsfeststellung durch das Kantonsgericht aufzuzeigen. Dazu kommt,
dass für den erstinstanzlichen Entscheid keine schriftliche Begründung
vorliegt, weshalb das Kantonsgericht den Sachverhalt aufgrund des
Aussageprotokolls selbst zu erstellen hatte. Aus diesem Grund drängt es sich
auf, gestützt auf Art. 105 Abs. 2 BGG ausnahmsweise von Amtes wegen zu
prüfen, ob eine offensichtlich unrichtige Sachverhaltsfeststellung gegeben
ist. Von vornherein gegenstandslos ist demgegenüber der Verweis auf
angebliche Schlussfolgerungen des erstinstanzlichen Gerichts, liegt doch für
dessen Entscheid keine Begründung vor und gibt es entsprechend keine Akten,
welche das Kantonsgericht unrichtig hätte würdigen können.

  Im Zusammenhang mit der Sachverhaltsbasis stellt sich vorweg die Frage, ob
die Sache nicht zur erneuten Anhörung von A. an das Kantonsgericht
zurückzuweisen wäre, nachdem dieses die Art der Durchführung und der
Protokollierung durch die erste Instanz kritisiert hatte. Indes ist das
Protokoll relativ ausführlich und gibt die Motive von A., weshalb sie lieber
in der Schweiz bleiben würde, gut und nachvollziehbar wieder. Es ist nicht
ersichtlich, was bei einer erneuten Anhörung im jetzigen Verfahrensstadium
an zusätzlichen Erkenntnissen zu gewinnen wäre, zumal eine inquisitorische
Befragung bei der Kindesanhörung nicht am Platz ist und diese im Grundsatz
nur dann wiederholt durchgeführt werden sollte, wenn es unumgänglich
erscheint (BGE 133 III 553 E. 4 S. 554 f.). Die dahingehende Gehörsrüge der
Beschwerdeführerin ist jedenfalls unbegründet, umso mehr als sie vor
Kantonsgericht keine erneute Anhörung verlangt, sondern vielmehr sinngemäss
ausgeführt hatte, die erstinstanzliche Anhörung sei korrekt erfolgt und
damit müsse es sein Bewenden haben.

  Aus dem Anhörungsprotokoll ergibt sich, dass es A. in T. gut gefällt und
sie ausser in Deutsch und Geschichte auch mit ihren schulischen Leistungen
zufrieden ist. Sie habe schnell Freunde in T. gefunden, habe aber auch noch
Kontakt zu ihren Freundinnen in

Frankreich. Im Übrigen äussert sie sich eingehend zum Verhältnis bzw. den
Kontakten mit dem Vater, der ihr zum Vorwurf macht, dass sie nicht bei ihm
wohnen will, und mit dessen neuer Frau sie auch nicht so gut zurecht kommt.
In Frankreich könnte sie nicht in ihre alte Schule zurück, sondern müsste
eine neue Schule besuchen, wo sie wiederum niemanden kennen würde.

  Was die Aussagen zur Beziehung mit dem Vater anbelangt, ist festzuhalten,
dass es im Rückführungsverfahren gerade nicht um Obhuts- und schon gar nicht
um Sorgerechtsfragen, sondern einzig darum geht, den aufenthaltsrechtlichen
status quo ante wiederherzustellen; mit anderen Worten steht nicht eine
Platzierung beim Vater, sondern die Rückkehr nach Frankreich als solche zur
Diskussion. Dass A. diese Rückkehr grundsätzlich verweigern würde, lässt
sich den protokollierten Aussagen nicht entnehmen und entsprechend liegt
entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin auch keine offensichtlich
unrichtige Sachverhaltsfeststellung durch das Kantonsgericht vor. Vielmehr
spricht A. von Problemen, die in der Natur einer jeden Rückführung liegen,
so etwa, dass es (jedenfalls bei Ausschöpfung der Rechtsmittelwege) infolge
Zeitablaufes regelmässig nicht mehr möglich ist, in der angestammten
Schulklasse weiterzufahren. Dass A. angesichts solcher Unannehmlichkeiten
lieber in der Schweiz bleiben würde, wo sie inzwischen auch viele neue
Freunde gefunden hat, ist nichts als normal und stellt für sich genommen
noch kein "Widersetzen" im Sinn von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ dar. Dieses muss
vielmehr qualifizierter Natur, d.h. mit nachvollziehbaren speziellen Gründen
unterlegt sein und überdies mit einem gewissen Nachdruck vertreten werden,
weil die betreffende Norm dem Kind kein freies Wahlrecht einräumt, mit
welchem es gewissermassen über den Aufenthaltsort der Familie entscheiden
könnte, sondern es sich dabei um einen Ausnahmetatbestand vom Grundsatz
handelt, wonach widerrechtlich verbrachte Kinder bei entsprechendem Gesuch
des anderen Elternteils in den Herkunftsstaat zurückzuführen sind.

  Dass sodann der achtjährige B. mit Bezug auf die relevante Fragestellung
von vornherein noch nicht zu autonomer Willensbildung fähig ist (BGE 133 III
146), stellt die Beschwerdeführerin nicht in Frage und sie behauptet auch
keine Verweigerung der Rückkehr. Gemäss den protokollierten Aussagen kennt
er denn auch den genauen Zusammenhang der Anhörung nicht und will er mit
Mutter und Schwester zusammenbleiben, wobei es für ihn keine Rolle spielt,
ob dies in Frankreich oder in der Schweiz ist.