Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 134 III 348



Urteilskopf

134 III 348

59. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen A.
und Mitb. (Beschwerde in Zivilsachen)
4A_511/2007 vom 8. April 2008

Regeste

Hinterlegung bei unverschuldeter Ungewissheit über die Person des Gläubigers
(Art. 96 und 168 Abs. 1 OR). Sind nach Wahl des Gläubigers alternativ
verschiedene Leistungen geschuldet, kann der Schuldner bei unverschuldeter
Ungewissheit über die Person des Gläubigers sämtliche wahlweise geschuldeten
Leistungen hinterlegen. Dass die Ansprecher nicht dieselbe Leistung verlangen,
steht in diesem Fall einer Hinterlegung nicht entgegen (E. 5).

Sachverhalt ab Seite 348

BGE 134 III 348 S. 348
A. Die X. (Beschwerdeführerin) schloss im Jahre 1999 mit einer Stiftung mit
Sitz in Vaduz einen Leibrentenvertrag ab, bei welchem C. (Beschwerdegegnerin 3)
und ihr Ehemann B. (Beschwerdegegner 2) als versicherte Personen bezeichnet
wurden. Die Beschwerdeführerin verpflichtete sich, zu deren Lebzeiten eine
monatliche Rente von Fr. 20'000.- zu bezahlen. Ferner war eine
BGE 134 III 348 S. 349
Prämienrückgewähr nach dem Tode beider versicherter Personen vereinbart,
abzüglich bereits bezogener Rentenraten. Als Begünstigte im Erlebensfall wurde
die versicherte Person selbst und im Todesfall die Versicherungsnehmerin
aufgeführt. Die Begünstigung wurde nicht unwiderruflich erklärt.

B. Im Jahre 2000 wurde die Stellung der Versicherungsnehmerin an Frau D.
(Erblasserin) übertragen. Diese verstarb am 30. Januar 2006 in Monaco und hatte
als Universalerbin A. (Beschwerdegegnerin 1) eingesetzt, welche in der neu
ausgestellten Police vom 6. November 2006 als Versicherungsnehmerin aufgeführt
ist. Die Beschwerdegegnerin 1 verlangt den Rückkaufswert der Versicherung,
während die Beschwerdegegner 2 und 3 mit dem Rückkauf der Versicherung, der
Einstellung der monatlichen Rentenzahlungen und einer Auszahlung des
Rückkaufswerts an die Beschwerdegegnerin 1 nicht einverstanden sind.

C. Mit Eingabe vom 22. Dezember 2006 beantragte die Beschwerdeführerin, es sei
ihr die Hinterlegung des Rückkaufswerts der Police sowie gewisser
Rentenzahlungen zu bewilligen. Nachdem der Einzelrichter im summarischen
Verfahren des Bezirkes Winterthur die Hinterlegung provisorisch bewilligt
hatte, wies er das Gesuch der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 13. August
2007 ab. Den gegen diese Verfügung ergriffenen Rekurs wies das Obergericht des
Kantons Zürich mit Beschluss vom 23. Oktober 2007 ab.

D. Die Beschwerdeführerin erhebt Beschwerde in Zivilsachen und beantragt dem
Bundesgericht im Wesentlichen, die Hinterlegung des Rückkaufswerts (Fr.
1'952'496.-) und der Renten von Fr. 147'742.- (01.05.2006 - 30.11.2006) zu
bewilligen. Das Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung wies das
Bundesgericht am 9. Januar 2008 ab. Die Beschwerdegegner 2 und 3 schliessen auf
Abweisung der Beschwerde. Die Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin 1, welche
vor Bundesgericht nicht mehr anwaltlich vertreten ist, enthält keinen
eigentlichen Antrag. Soweit ersichtlich, schildert die Beschwerdegegnerin 1 den
Ablauf der Geschehnisse aus ihrer Sicht und bedauert die vom Bundesgericht zur
Zulässigkeit des Widerrufs einer Begünstigungsklausel ergangene Rechtsprechung
(BGE 133 III 669 ff.), welche von der kantonalen Praxis abweiche.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und bewilligt der
Beschwerdeführerin im Verfahren gegen die Beschwerdegegner 1 und 2 die
Hinterlegung des Rückkaufswerts.
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Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

5. Die Vorinstanz verneinte die Zulässigkeit der Hinterlegung des
Rückkaufswerts, weil die behaupteten Ansprüche gegenüber der Beschwerdeführerin
nicht identisch seien. Die Ansprüche unterscheiden sich nach Auffassung der
Vorinstanz nicht nur in den Auszahlungsmodalitäten, sondern können auch in der
Höhe divergieren. Der Rückkaufswert lasse sich erst im Zeitpunkt der Auflösung
berechnen. Zudem bestehe keine Ungewissheit über die Person des Gläubigers,
sondern über die Existenz der Forderung. Entweder bestünden die
Rentenforderungen des Beschwerdegegners 2 oder aber die Rückkaufsforderung der
Beschwerdegegnerin 1.

5.1 Sowohl Art. 96 OR als auch Art. 168 OR setzten im hier interessierenden
Zusammenhang voraus, dass eine unverschuldete Ungewissheit über die Person des
Gläubigers besteht. Die Vorinstanz verweist auf die Lehrmeinung, wonach, wenn
zwei oder mehrere angebliche Gläubiger aus verschiedenen Rechtsgründen vom
Schuldner eine Leistung verlangten (z.B. der Verkäufer die Rückgabe, der
angeblich bestohlene Eigentümer die Herausgabe einer Sache), keine Ungewissheit
über die Person des Gläubigers bestehe, da es sich nicht um dieselbe Forderung
handle. Vielmehr sei diesfalls strittig, ob eine Forderung besteht (SCHRANER,
Zürcher Kommentar, N. 17 und 19 zu Art. 96 OR mit Hinweisen). Die
Beschwerdeführerin beruft sich dagegen auf jene Lehrmeinung, nach der nicht
massgeblich ist, ob die verschiedenen Ansprecher gleichartige Rechte geltend
machen oder nicht, so wenn der eine Schadenersatz und der andere Realerfüllung
verlangt. Erforderlich sei aber, dass der Schuldner hinterlege, was er wirklich
schulde (BECKER, Berner Kommentar, N. 8 zu Art. 168 OR).

5.2 Um zu beurteilen, ob eine unverschuldete Ungewissheit über die Person des
Gläubigers besteht, welche zur Hinterlegung berechtigt (SCHRANER, a.a.O., N. 6,
17 ff. und 25 zu Art. 96 OR; WEBER, Berner Kommentar, N. 9 und 17 ff. zu Art.
96 OR), ist auf die Ansprüche, welche die Parteien geltend machen, näher
einzugehen.

5.2.1 Gemäss Vertrag hat die Versicherung an die Versicherten Rentenzahlungen
auszurichten. Mit Ableben der als Versicherte begünstigten Personen wird als
Rückgewähr eine Zahlung entsprechend der Einmalprämie unter Abzug der bereits
bezogenen Renten ohne Zinsen an den im Todesfall als Begünstigter eingesetzten
Versicherungsnehmer fällig. Da die Begünstigung nicht unwiderruflich ist, kann
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der Versicherungsnehmer die Begünstigten durch andere ersetzen. Ebenso kann er
die Versicherung jederzeit ganz oder teilweise zurückkaufen lassen, mit der
Folge, dass die bisherige Deckung erlischt und der Anspruch des
Versicherungsnehmers nach versicherungsmathematischen Prinzipien auf die
Herausgabe des Rückkaufswertes reduziert wird (AEBI, Basler Kommentar, N. 12 zu
Art. 90 VVG). Der Rückkaufswert entspricht der aktuellen Rückgewährsumme,
höchstens aber dem Inventardeckungskapital. Übersteigt Letzteres die
Rückgewährsumme, so wird der Differenzbetrag als Inventareinmalprämie für eine
Rente ohne Rückgewähr verwendet.

5.2.2 Die Leistungen, welche die Beschwerdeführerin in Erfüllung des Vertrages
tatsächlich zu erbringen hat, standen bei Vertragsschluss noch nicht definitiv
fest. Die vertraglich geschuldete Leistung hängt nicht nur von objektiven
Umständen, wie der Lebensdauer der Begünstigten ab, sondern auch vom Willen des
Versicherungsnehmers, indem dieser durch empfangsbedürftige einseitige
Willenserklärung (vgl. AEBI, a.a.O., N. 4 zu Art. 90 VVG) bestimmen kann, wer
die Versicherungsleistungen erhalten soll und ob weiter die primär geschuldete
Leistung zu erbringen ist, nämlich Renten an die Begünstigten zu deren
Lebzeiten und nach deren Ableben die Rückgewähr an den Versicherungsnehmer,
oder ob der Rückkaufsfall eintreten soll. Im zu beurteilenden Fall ist
streitig, ob die Befugnis zur Abgabe einer entsprechenden Willenserklärung von
der Erblasserin auf die Beschwerdegegnerin 1 übergegangen ist und deren
Willenserklärung Wirkung entfalten kann. Davon hängt ab, welche Leistung zu
erbringen ist und wer diese beanspruchen kann.

5.2.3 Mit dem vollständigen Rückkauf wird der Vertrag aufgelöst und der
Rückkaufswert ausgezahlt. Damit erlischt die Pflicht zur Ausrichtung der
Renten. Die unterschiedlichen Leistungen sind nicht kumulativ zu erbringen.
Insofern weist das Vertragsverhältnis Analogien zu einer Wahlobligation auf,
bei welcher mehrere Leistungen nach Wahl einer Vertragspartei alternativ
geschuldet sind (vgl. schon BECKER, a.a.O., N. 1 zu Art. 72 OR; OSER/
SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar, N. 1 zu Art. 72 OR). Richtig besehen liegt
das Verhältnis näher bei einer alternativen Ermächtigung zu Gunsten des
Gläubigers, da dieser anstelle der von Anfang an bestimmten Hauptleistung, der
Rentenzahlung an die Begünstigten mit Rückgewähr bei Ableben, eine andere
Leistung, nämlich den sofortigen Rückkauf, fordern kann. Auch die alternative
Ermächtigung zu Gunsten des Gläubigers folgt indessen im Wesentlichen den
Regeln einer
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Gläubigerwahlschuld (SCHRANER, a.a.O., N. 72 ff. zu Art. 72 OR). Die
Besonderheit, dass der Rentenanspruch im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses
erfüllt wird, welches durch die Wahl der anderen Leistung, des vollständigen
Rückkaufs, beendet werden kann, spielt für die Frage, ob eine zur Hinterlegung
berechtigende Ungewissheit über die Person des Gläubigers besteht, keine Rolle.
Massgebend ist vielmehr, dass nach dem Vertrag in Abhängigkeit des dem
Versicherungsnehmer eingeräumten Gestaltungsrechts verschiedene Leistungen
alternativ geschuldet sind. Aus der Tatsache, dass verschiedene Ansprecher
nicht dieselbe Leistung verlangen, kann daher nicht geschlossen werden, es
handle sich nicht um dieselbe Forderung. Vielmehr hat diese alternativ
unterschiedliche Leistungen zum Gegenstand.

5.2.4 Allerdings ist die Hinterlegung erschwert, da nicht von vornherein klar
ist, welche der alternativ geschuldeten Leistungen der Schuldner zu hinterlegen
hat. Damit der Hinterlegung befreiende Wirkung zukommt, müsste der Schuldner in
dieser Situation beide alternativ geschuldeten Leistungen hinterlegen. Die
Lehre ist sich darin einig, dass ihm dies grundsätzlich nicht zuzumuten ist
(SCHRANER, a.a.O., N. 49 zu Art. 72 OR; WEBER, a.a.O., N. 50 zu Art. 72 OR, je
mit Hinweisen). Im Zusammenhang mit der Wahlobligation wird in der Lehre
indessen anerkannt, dass der Schuldner, wenn der wahlberechtigte Gläubiger das
ihm zustehende Wahlrecht nicht ausübt, freiwillig sämtliche alternativ
geschuldeten Leistungen hinterlegen darf (vgl. schon OSER/SCHÖNENBERGER,
a.a.O., N. 11 zu Art. 72 OR; BUCHER, Schweizerisches Obligationenrecht,
Allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 298; WEBER, a.a.O., N. 50 zu Art. 72 OR mit
Hinweisen). Mit Blick auf den Schutzgedanken von Art. 96 OR, der den
zahlungswilligen Schuldner vor der Gefahr der Doppelzahlung schützen soll
(SCHRANER, a.a.O., N. 3, 17 und 18 zu Art. 96 OR), besteht kein Grund, dem
Schuldner zu verwehren, bei Ungewissheit über die Person des Gläubigers
sämtliche alternativ geschuldeten Leistungen zu hinterlegen.

5.3 Die Beschwerdeführerin anerkennt, dass die vertraglich vereinbarte Leistung
geschuldet ist, und will ihren entsprechenden Pflichten nachkommen. Insoweit
ist nicht die Existenz der Forderung streitig. Umstritten ist, ob die
vertraglich noch geschuldete Leistung aufgrund der ursprünglichen Begünstigung
dem Beschwerdegegner 2 beziehungsweise der Beschwerdegegnerin 3 oder kraft
Rückkaufserklärung der Beschwerdegegnerin 1 als Rechtsnachfolgerin der
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Erblasserin zusteht. Zwar ist klar, dass die Begünstigten keinen Anspruch auf
Rückgewähr erheben können, denn dieser wird erst bei ihrem Ableben fällig,
während sie selbst nur im Erlebensfall begünstigt sind. Da aber die zu
leistenden Renten von einem allfälligen Rückgewährsanspruch abzuziehen sind und
dieser erst bei Ableben der Begünstigten fällig würde, bleibt es dabei, dass
sich die ursprünglich vereinbarten und die nach Ausübung des Rückkaufsrechts
geschuldeten Leistungen gegenseitig ausschliessen und bezüglich des gesamten
hinterlegten Betrags eine Ungewissheit über die Person des Gläubigers und die
Gefahr der Doppelzahlung besteht. Damit sind die Voraussetzungen für eine
Anwendung von Art. 96 OR beziehungsweise Art. 168 Abs. 1 OR grundsätzlich
gegeben (vgl. ADRIAN STAEHELIN, Die Hinterlegung zu Handen wes Rechtes und der
Prätendentenstreit, in: BJM 1972 S. 225 ff., 226). Daran ändert nichts, dass
die Ansprecher unterschiedliche Leistungen fordern. Dies folgt vielmehr aus der
Natur des auf alternative Leistungen gerichteten Vertragsverhältnisses. Dieser
Gesichtspunkt steht, wie dargelegt, mit Blick auf den Schutzgedanken von Art.
96 OR (SCHRANER, a.a.O., N. 3, 17 und 18 zu Art. 96 OR) der freiwilligen
Hinterlegung aller alternativ geschuldeten Leistungen nicht entgegen.

5.4 Im zu beurteilenden Fall sind beide Leistungen in Geld zu erbringen. Sie
unterscheiden sich nur in ihrer Höhe und in den Zahlungsmodalitäten. Bei den
Rentenzahlungen handelt es sich um wiederkehrende Leistungen. Um sich gültig zu
befreien, müsste die Beschwerdeführerin gemäss Vertrag an sich die einzelnen
Renten jeweils bei Fälligkeit hinterlegen. Solange der in der Höhe des
Rückkaufswerts hinterlegte Betrag die aufgelaufenen Renten deckt, erübrigt sich
eine zusätzliche Leistung. Sollte sich nämlich herausstellen, dass die
Rentenansprüche tatsächlich bestehen, wären aus dem hinterlegten Geld die
verfallenen Renten zu bezahlen und ein allfälliger Überschuss der
Beschwerdeführerin zurückzuerstatten. Für die nach Beseitigung der Ungewissheit
über die Person des Gläubigers entstehenden Ansprüche könnten sich die
Gläubiger in jedem Fall wieder direkt an die Beschwerdeführerin halten.