Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 9



Urteilskopf

133 V 9

  2. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S.
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen T. und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  U 257/06 vom 5. September 2006

Regeste

  Art. 26 Abs. 2 ATSG: Verzugszinsanspruch bei Leistungsnachzahlungen.

  Die Verzugszinspflicht nach Art. 26 Abs. 2 ATSG beginnt 24 Monate nach
Beginn der Rentenberechtigung als solcher für die gesamten bis anhin
aufgelaufenen Leistungen, nicht erst jeweils zwei Jahre nach Fälligkeit
jeder einzelnen Monatsrente (E. 3.6).

Sachverhalt ab Seite 9

  A.- Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) sprach T. mit
Verfügung vom 14. Mai 2004 aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 40 % eine
Invalidenrente mit Wirkung ab 1. November 1996 sowie eine
Integritätsentschädigung zu und setzte dabei für die Zeit bis Ende Mai 2004
einen Verzugszins von Fr. 7'405.- fest, später korrigiert auf Fr. 7'708.-.
Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 30. November 2004 fest.

  B.- T. erhob dagegen Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich. Dieses hiess mit Urteil vom 5. April 2006 die Beschwerde
gut, hob den Einspracheentscheid auf und

wies die Sache an die SUVA zurück, damit sie die Verzugszinsberechnung im
Sinne der Erwägungen vornehme und neu verfüge.

  C.- Die SUVA erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Sozialversicherungsgerichts sei aufzuheben und der
Einspracheentscheid sei zu bestätigen. Der Beschwerdegegner schliesst auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für
Gesundheit auf eine Stellungnahme verzichtet.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.  Streitig ist einzig die Art der Verzugszinsberechnung gemäss Art. 26
Abs. 2 ATSG auf den Invalidenrenten. Unbestritten ist, dass die
Verzugszinspflicht erst mit dem Inkrafttreten des ATSG am 1. Januar 2003
(vgl. BGE 130 V 334 E. 6) und erst 24 Monate nach Entstehung des Anspruchs
beginnt. Umstritten ist aber, wann diese 24-Monatsfrist beginnt bzw. was
unter "Entstehung des Anspruchs" zu verstehen ist. Nach Ansicht der
Beschwerdeführerin beginnt der Verzugszins für jede einzelne monatliche
Rentenzahlung jeweils erst 24 Monate nach deren Fälligkeit zu laufen. Nach
dem angefochtenen Urteil sowie nach Ansicht des Beschwerdegegners beginnt
die Verzugszinspflicht 24 Monate nach dem Rentenbeginn für die gesamten bis
anhin aufgelaufenen Leistungen.

Erwägung 2

  2.  Die Auffassung der Vorinstanz entspricht derjenigen, die das Bundesamt
für Sozialversicherungen im Rahmen der AHV/IV entwickelt hat (AHI-Praxis
2003 S. 46 f.; ebenso KIESER, ATSG-Kommentar, N. 20 zu Art. 26; KIESER,
Auswirkungen des ATSG - erste Erfahrungen aus Verwaltungsverfahren und
Rechtsprechung, in: Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], Praktische Anwendungsfragen
des ATSG, St. Gallen 2004, S. 9 ff., 19; MARIO CHRISTOFFEL, Spezifische
Fragen, in: Schaffhauser/Kieser, a.a.O., S. 145 ff., 155). Die
Unfallversicherer wenden hingegen die von der Beschwerdeführerin vertretene
Berechnungsmethode an (vgl. auch PETER OMLIN, Erfahrungen in der UV, in:
Schaffhauser/Kieser, a.a.O., S. 57 ff., 69 f.).

Erwägung 3

  3.

  3.1  Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist
der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so
muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung
aller Auslegungselemente.

Abzustellen ist dabei namentlich auf die Entstehungsgeschichte der Norm und
ihren Zweck, auf die dem Text zu Grunde liegenden Wertungen sowie auf die
Bedeutung, die der Norm im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Die
Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, dienen aber
als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen (BGE 131 I 396 E. 3.2; 131
II 368 E. 4.2; 131 V 93 E. 4.1, 176 E. 3.1, 439 E. 6.1; 130 II 211 E. 5.1
mit Hinweisen). Namentlich bei neueren Texten kommt den Materialien eine
besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes
Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 131 V 292 E.
5.2; 128 I 292 E. 2.4; 124 II 377 E. 6a). Das Bundesgericht hat sich bei der
Auslegung von Erlassen stets von einem Methodenpluralismus leiten lassen und
nur dann allein auf das grammatische Element abgestellt, wenn sich daraus
zweifelsfrei die sachlich richtige Lösung ergab (BGE 131 II 703 E. 4.1; 124
II 376 E. 5 mit Hinweisen).

  3.2  Gemäss Art. 26 Abs. 2 ATSG beginnt die Verzugszinspflicht "nach
Ablauf von 24 Monaten nach der Entstehung des Anspruchs, frühestens aber 12
Monate nach dessen Geltendmachung" (frz. "à l'échéance d'un délai de 24 mois
à compter de la naissance du droit, mais au plus tôt douze mois à partir du
moment où l'assuré fait valoir ce droit"; ital. "dopo 24 mesi dalla nascita
del diritto, ma al più presto 12 mesi dopo che si è fatto valere il
diritto"). Ob sich der "Anspruch" ("droit", "diritto") auf die einzelnen
monatlichen Rentenzahlungen oder auf die Rentenberechtigung als solche
bezieht, ergibt sich aus dem Wortlaut nicht ausdrücklich. Auch der von
beiden Parteien zitierte BGE 131 V 361, E. 2.2, gibt dazu keine Antwort: Das
Eidgenössische Versicherungsgericht erwähnt dort einerseits, dass "die
jeweiligen Rentenbetreffnisse" ab dem Zeitpunkt zu verzinsen seien, in
welchem die "seit Anspruchsbeginn" verstrichene Zeitspanne 24 Monate
erreicht habe; daraus geht nicht hervor, ob auch der Anspruchsbeginn sich
auf die jeweiligen Rentenbetreffnisse bezieht. Vielmehr ergibt sich aus der
nicht amtlich publizierten Erwägung 3 dieses Entscheids, dass die hier
streitige Frage damals nicht entschieden wurde.

  3.3  Art. 7 Abs. 2 ATSV, wonach der Verzugszins monatlich auf dem bis Ende
des Vormonats aufgelaufenen Leistungsanspruch berechnet wird, spricht in
seinem deutschen Wortlaut eher für die Auffassung der Vorinstanz, während
namentlich der französische Wortlaut ("L'intérêt moratoire est calculé par
mois sur les prestations

dont le droit est échu jusqu'à la fin du mois précédent") auch die
umgekehrte Auffassung zuliesse. Indessen betrifft Art. 7 ATSV nur die
Berechnungsweise nach Entstehung des Anspruchs auf Verzugszins und sagt
nichts aus über diesen Beginn.

  3.4  In systematischer Auslegung spricht der in Art. 26 Abs. 2 ATSG
verwendete Ausdruck "Entstehung des Anspruchs" für die Auffassung der
Vorinstanz und des Beschwerdegegners: Wenn das Gesetz im Zusammenhang mit
Renten vom Beginn oder von der Entstehung des Anspruchs spricht (Art. 19
Abs. 1 UVG; Art. 29 Abs. 1 IVG; Art. 21 Abs. 2 AHVG), dann meint es damit in
der Regel den Rentenbeginn als solchen, nicht die einzelnen monatlichen
Rentenzahlungen. Dies gilt auch für Art. 26 ATSG, wie sich namentlich aus
dem letzten Halbsatz von Abs. 2 ergibt: Das Pronomen "dessen" bezieht sich
auf den Anspruch; der Halbsatz setzt damit voraus, dass der Anspruch geltend
gemacht wird. Geltend gemacht wird jedoch in der Regel nur die
Rentenberechtigung als solche, nicht aber die einzelne monatliche
Rentenzahlung, welche - sobald einmal der Rentenanspruch festgesetzt ist -
automatisch erfolgt (vgl. Art. 19 Abs. 1 ATSG).

  3.5  Die Beschwerdeführerin beruft sich demgegenüber auf Art. 24 und 25
ATSG. In der Tat bezieht sich der in Art. 24 Abs. 1 ATSG enthaltene Ausdruck
"Anspruch auf ausstehende Leistungen" bei Renten klar auf die einzelnen
Monatsbetreffnisse und nicht auf das Rentenstammrecht, ebenso der "Anspruch"
auf Rückerstattung gemäss Art. 25 Abs. 3 ATSG. Dies ergibt sich in diesen
Fällen freilich notwendigerweise aus dem Regelungsgegenstand, würde doch
sonst der Anspruch (auf ausstehende Leistungen oder auf Rückerstattung)
unter Umständen schon erloschen sein, bevor er überhaupt fällig geworden
bzw. bevor die entsprechende Leistung bezahlt worden ist. Diese Überlegung
gilt aber nicht gleichermassen für den Verzugszins: Typischerweise beginnt
dieser mit dem Verfall der Forderung zu laufen, bei Renten somit
grundsätzlich mit der Fälligkeit jeder einzelnen Rente, freilich mit der
Sonderregelung von Art. 105 OR (vgl. BGE 119 V 135 E. 4c; SZS 1997 S. 465 E.
4). Wenn Art. 26 ATSG den Beginn der Verzugszinspflicht um zwei Jahre
hinausschiebt, dann folgt aber daraus nicht zwingend, dass diese Frist
jeweils für jede einzelne Monatsrente gilt. Die entgegengesetzte Auffassung
führt nicht zu einem logisch widersprüchlichen oder unmöglichen Ergebnis.

  3.6  Abzustellen ist unter diesen Umständen auf den Sinn und Zweck von
Art. 26 Abs. 2 ATSG, wie er sich namentlich aus der Entstehungsgeschichte
ergibt: Die Kommission des Ständerates sah eine Verzugszinspflicht
entsprechend der bisherigen Praxis nur bei trölerischem oder
widerrechtlichem Verhalten des Schuldners oder bei einzelgesetzlicher
Regelung vor (Art. 33 des Entwurfs; BBl 1991 II 195). Die
Nationalratskommission schlug stattdessen die Gesetz gewordene Fassung vor
(BBl 1999 4578 f.). Zur Begründung der 24-Monatsfrist führte sie aus: "Die
Kommission trägt dem Umstand, dass in den IV-Verfahren zum Teil komplexe
Abklärungen nötig sind, die auch einige Zeit in Anspruch nehmen, Rechnung,
indem sie grundsätzlich erst nach 24 Monaten eine Verzugszinspflicht auf
Leistungen entstehen lässt." Sie war der Auffassung, dass es möglich sein
sollte, den grössten Teil der Verfahren innert zweier Jahre abzuschliessen,
so dass sich die Mehrkosten im Rahmen halten lassen sollten. Im Nationalrat
wurde die Bestimmung ohne Diskussion angenommen, nachdem der
Berichterstatter darauf hingewiesen hatte, das Prinzip des Verzugszinses
sollte in einer sehr zurückhaltenden Art und Weise verankert werden, die es
auch bei der Invalidenversicherung möglich machen sollte, in dieser Zeit zu
Entscheiden zu gelangen (Amtl. Bull. N 1999 1243; sinngemäss ebenso dann
auch der Ständerat, Amtl. Bull. S 2000 180). Der Sinn der 24-Monatsfrist
liegt nach diesen Äusserungen nicht darin, generell die Verzugszinspflicht
erst um zwei Jahre verzögert eintreten zu lassen, sondern darin, der
Versicherung einen gewissen Zeitraum für Abklärungen zu gewähren, innert
welchem sie noch keine Verzugszinsen bezahlen muss. Diese Abklärungen
beziehen sich in aller Regel nicht auf einzelne Monatsrenten, sondern auf
die Rentenberechtigung als solche. Nach dem Sinn und Zweck der Regelung
beginnt somit die Verzugszinspflicht zwei Jahre nach Beginn der
Rentenberechtigung als solcher, nicht erst jeweils zwei Jahre nach
Fälligkeit jeder einzelnen Monatsrente.

Erwägung 4

  4.  (Kosten und Parteientschädigung)