Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 530



Urteilskopf

133 V 530

  66. Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Unia Arbeitslosenkasse
gegen P. sowie Versicherungsgericht des Kantons Solothurn
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  C 110/06 vom 18. Juli 2007

Regeste

  Art. 23 AVIG; Art. 40b AVIV: Versicherter Verdienst von Behinderten.

  Unmittelbarkeit im Sinne von Art. 40b AVIV liegt vor, wenn sich die
gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit (noch) nicht im
Lohn niedergeschlagen hat, welcher gemäss Art. 23 Abs. 1 AVIG in Verbindung
mit Art. 37 AVIV Bemessungsgrundlage für den versicherten Verdienst bildet
(E. 4.1.2).

Sachverhalt ab Seite 530

  A.- Der 1947 geborene P. war vom 1. März 1976 bis 31. Dezember 2001 als
Kundenmaurer bei der Firma B. angestellt gewesen. Am 25. Juni 2002 stellte
er Antrag auf Arbeitslosenentschädigung und gab an, er sei bereit und in der
Lage, teilzeitlich, höchstens im Umfang von 50 % einer
Vollzeitbeschäftigung, erwerbstätig zu sein. Die Arbeitslosenkasse GBI (ab
1. Januar 2005: Unia Arbeitslosenkasse) richtete ihm für die Monate Juli bis
November 2002 Arbeitslosentaggelder, basierend auf einem versicherten
Verdienst von Fr. 2'641.- (50 % des im letzten Arbeitsverhältnis erzielten
Lohnes), aus.

  Nachdem sich P. bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug
angemeldet hatte, sprach ihm die zuständige IV-Stelle des Kantons Solothurn
mit Wirkung ab 1. April 2001 eine halbe Invalidenrente, basierend auf einem
Invaliditätsgrad von 61 %, zu (Verfügung vom 18. Dezember 2002).

  Die Arbeitslosenkasse kürzte den versicherten Verdienst entsprechend der
Höhe des Invaliditätsgrades auf Fr. 2'060.- (39 % des versicherten

Verdienstes für eine Vollzeitstelle), stellte fest, dass der Versicherte die
fünf allgemeinen Wartetage nicht zu bestehen hatte, was für den Monat Juli
2002 eine Nachzahlung von Fr. 208.70 ergab, und forderte für die Monate
August bis November 2002 zu viel ausbezahlte Taggelder im Umfang von Fr.
1'500.40 (Fr. 1'709.10 abzüglich der Nachzahlung für den Monat Juli 2002 im
Betrag von Fr. 208.70) zurück, was sie vollumfänglich mit Leistungen der
Invalidenversicherung verrechnete (Verfügung vom 13. Dezember 2002).

  B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn sistierte das von P.
gegen die Verfügung vom 13. Dezember 2002 angehobene Beschwerdeverfahren
"bis der Invaliditätsgrad des Beschwerdeführers gemäss IVG feststeht". Die
im IV-rechtlichen Verfahren von P. gegen die Verfügung der IV-Stelle vom 18.
Dezember 2002 erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn in dem Sinne gut, dass es die Sache an die IV-Stelle zurückwies,
damit sie ergänzende Abklärungen vornehme (Entscheid vom 7. Mai 2005). Nach
einer erneuten Verfügung vom 26. August 2005 und zwei Verfügungen vom 28.
Oktober 2005 hielt die IV-Stelle mit - in Rechtskraft erwachsenem -
Einspracheentscheid vom 7. Dezember 2005 fest, P. stehe bei einem
Invaliditätsgrad von 65 % ab 1. April 2001 bis 31. Dezember 2003 eine halbe
Rente und ab 1. Januar 2004 eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung
zu. Gestützt auf diesen Einspracheentscheid erhöhte die Arbeitslosenkasse
ihre Rückforderung mit Verfügung vom 26. September 2005 auf Fr. 6'241.50. In
der Folge hob das kantonale Gericht die Rückforderungsverfügung der
Arbeitslosenkasse vom 13. Dezember 2002 in Gutheissung der Beschwerde auf
(Entscheid vom 10. April 2006).

  C.- Die Arbeitslosenkasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, der kantonale Gerichtsentscheid vom 10. April 2006 sei aufzuheben.

  P. lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das
Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) verzichtet auf eine Stellungnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

                   Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.  Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006

S. 1205, 1243). Damit wurden das Eidg. Versicherungsgericht (EVG) und das
Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei
Standorten) zusammengefügt (SEILER/VON WERDT/GÜNGERICH,
Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz. 75) und es wurden die
Organisation und das Verfahren des obersten Gerichts umfassend neu geregelt.
Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren
des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann,
wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes
ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am
10. April 2006 - und somit vor dem 1. Januar 2007 - erlassen wurde, richtet
sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gestandenen
Bundesgesetz vom 16. Dezember 1943 über die Organisation der
Bundesrechtspflege (OG; vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

Erwägung 2

  2.  Streitig und zu prüfen ist, letzt- wie vorinstanzlich, ob und
allenfalls in welchem Umfang der Versicherte hinsichtlich der von Juli bis
November 2002 formlos erbrachten Taggeldleistungen rückerstattungspflichtig
ist, nachdem ihm eine Rente der Invalidenversicherung zugesprochen worden
ist. Nach dem Prinzip des Devolutiveffekts ist mit der Rechtshängigkeit der
erstinstanzlichen Beschwerde (vom 13. Januar 2003) die Befugnis und Pflicht
zum Entscheid betreffend Rückforderung in der Zeit von Juli bis November
2002 erbrachter Taggeldleistungen von der Verwaltung auf das kantonale
Gericht übergegangen. Der während der Litispendenz des vorinstanzlichen
Beschwerdeverfahrens erlassenen Verfügung vom 26. September 2005 kam somit
lediglich der Charakter eines Antrags an das erkennende Gericht zu (BGE 130
V 138 E. 4.2 S. 142 ff.; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 298/92 vom
9. Mai 1994, publ. in: AHI 1994 S. 270, E. 4a).

Erwägung 3

  3.

  3.1  Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zur
Vermittlungsfähigkeit behinderter Personen (Art. 8 Abs. 1 lit. f in
Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 AVIG) sowie zur Rückforderung unrechtmässig
bezogener Leistungen der Arbeitslosenversicherung (Art. 95 Abs. 1 AVIG [in
der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung: Urteil des Eidg.
Versicherungsgerichts C 88/04 vom 23. August 2006, publ. in: SVR 2007 ALV
Nr. 2 S. 3]; BGE 122 V 367 E. 3 S. 368) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen. Ergänzend ist anzuführen, dass die Kompetenz zur Regelung der
Koordination

mit der Invalidenversicherung in Art. 15 Abs. 2 Satz 2 AVIG dem Bundesrat
übertragen worden ist. Dieser hat in Art. 15 Abs. 3 AVIV festgelegt, dass
ein Behinderter, der unter der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage
nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist, und der sich bei der
Invalidenversicherung (oder einer anderen Versicherung nach Art. 15 Abs. 2
AVIV) angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen Versicherung als
vermittlungsfähig gilt.

  3.2  Als versicherter Verdienst gilt der im Sinne der AHV-Gesetzgebung
massgebende Lohn, der während eines Bemessungszeitraumes aus einem oder
mehreren Arbeitsverhältnissen normalerweise erzielt wurde; eingeschlossen
sind die vertraglich vereinbarten regelmässigen Zulagen, soweit sie nicht
Entschädigung für arbeitsbedingte Inkonvenienzen darstellen (Art. 23 Abs. 1
Satz 1 AVIG). Bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der
Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer
Erwerbsfähigkeit erleiden, ist gemäss Art. 40b AVIV der Verdienst
massgebend, welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht. Unter
"Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit" ist die Invalidität, somit die
voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise
Erwerbsunfähigkeit, zu verstehen (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts C
140/05 vom 1. Februar 2006).

Erwägung 4

  4.  Nach der Rechtsprechung stellt die rückwirkende Zusprechung einer
Invalidenrente hinsichtlich formlos erbrachter Taggeldleistungen der
Arbeitslosenversicherung eine neue erhebliche Tatsache dar, deren Unkenntnis
die Arbeitslosenkasse nicht zu vertreten hat, weshalb ein Zurückkommen auf
die ausgerichteten Leistungen auf dem Wege der prozessualen Revision im
Allgemeinen als zulässig erachtet wird (BGE 132 V 357 E. 3.1 mit Hinweisen).

  4.1  Im vorliegenden Fall steht auf Grund der Abklärungen der
Invalidenversicherung fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner
im zu beurteilenden Zeitraum von Juli bis November 2002 seinen Leiden
angepasste Tätigkeiten im Umfang eines 50%igen Pensums ausüben konnte (und
auch wollte). Es bestand demgemäss Vermittlungsfähigkeit. Dies bedeutet aber
entgegen der Auffassung der Vorinstanz noch nicht, dass die Ausrichtung von
Arbeitslosenentschädigung - namentlich in Bezug auf die Höhe der Taggelder -
rechtmässig gewesen ist.

  4.1.1  Das kantonale Gericht nimmt gestützt auf die Unterlagen der
Invalidenversicherung an, der Versicherte sei spätestens seit April 2001 in
der Erwerbsfähigkeit eingeschränkt. Mit Blick darauf sei davon auszugehen,
dass sich bis zum Zeitpunkt der Anmeldung zum Bezug von
Arbeitslosentaggeldern im Juni 2002 und auch bis zum Erlass der
Rückforderungsverfügung im Dezember 2002 keine gesundheitsbedingte Änderung
der Leistungsfähigkeit ergeben habe. Der Versicherte habe somit weder
unmittelbar vor noch während der am 1. Juli 2002 eingetretenen
Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung seiner
Erwerbsfähigkeit erlitten, weshalb Art. 40b AVIV nicht anwendbar sei. Die
neue Tatsache der nachträglich zugesprochenen Invalidenrente führe nicht zu
einer anderen rechtlichen Beurteilung im Sinne der prozessualen Revision und
es ändere sich nichts an der Bemessungsgrundlage des versicherten
Verdienstes. Demzufolge könne die Arbeitslosenkasse den versicherten
Verdienst nicht nachträglich um das Mass der von der Invalidenversicherung
zwischenzeitlich festgestellten Resterwerbsfähigkeit herabsetzen.

  4.1.2  Art. 40b AVIV sieht eine Anpassung des versicherten Verdienstes in
Ausnahmefällen vor. Im Regelfall wird der versicherte Verdienst auf der
Basis des im Sinne der AHV-Gesetzgebung massgebenden Lohnes bemessen, der
während eines Bemessungszeitraumes aus einem oder mehreren
Arbeitsverhältnissen normalerweise erzielt wurde (Art. 23 Abs. 1 AVIG). Der
Bundesrat hat in Art. 37 AVIV den Bemessungszeitraum für den versicherten
Verdienst festgelegt. In aller Regel entspricht der auf diese Weise
definierte Lohn der aktuellen Leistungsfähigkeit der arbeitslosen Person.
Allfällige gesundheitsbedingte Leistungseinbussen können sich naturgemäss
nur im Lohn niederschlagen, wenn sie nicht unmittelbar vor oder sogar erst
während der Arbeitslosigkeit entstanden sind. Tritt mit anderen Worten eine
gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unmittelbar vor
oder während der Arbeitslosigkeit ein, so entspricht die aktuelle
Leistungsfähigkeit nicht mehr derjenigen vor der Arbeitslosigkeit, welche
die Lohnbasis bildete. Weil der Lohn vor Eintritt der Arbeitslosigkeit aber
Bemessungsgrundlage für den versicherten Verdienst darstellt, muss in diesen
Fällen eine Anpassung nach Art. 40b AVIV erfolgen. Eine Korrektur gemäss
Art. 40b AVIV ist daher durchzuführen, wenn der versicherte Verdienst auf
einem Lohn basiert, den die versicherte Person im Zeitpunkt der
Arbeitslosigkeit auf Grund einer

zwischenzeitlich eingetretenen Invalidität nicht mehr erzielen könnte.
Unmittelbarkeit im Sinne von Art. 40b AVIV liegt also dann vor, wenn sich
die gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit (noch) nicht
im Lohn niedergeschlagen hat, welcher gemäss Art. 23 Abs. 1 AVIG in
Verbindung mit Art. 37 AVIV Bemessungsgrundlage für den versicherten
Verdienst bildet. Soweit sich aus dem vom kantonalen Gericht zitierten
Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts C 349/00 vom 12. Februar 2004 etwas
anderes ergibt, kann daran nicht festgehalten werden.

  4.2  Im zu beurteilenden Fall war der Versicherte bereits über 20 Jahre im
gleichen Betrieb als Kundenmaurer tätig gewesen, als sich - gemäss Bericht
des Hausarztes vom 4. Mai 2001 - ab 29. April 2000 gesundheitliche Probleme
einstellten, welche die Arbeitsfähigkeit zunehmend beeinträchtigten. Dennoch
sah die damalige Arbeitgeberin bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses
auf den 31. Dezember 2001 davon ab, den Grundlohn der verminderten
Leistungsfähigkeit des Beschwerdegegners anzupassen. Der versicherte
Verdienst, welcher den Taggeldabrechnungen für die Monate Juli bis November
2002 zu Grunde liegt, basiert demgemäss auf diesem Grundlohn, welcher die
Einbusse in der Erwerbsfähigkeit nicht berücksichtigt. Eine gewisse
Korrektur wurde nur deshalb erreicht, weil sich der Versicherte bereits vor
Erlass der Rentenverfügung der Invalidenversicherung der Arbeitsvermittlung
lediglich im Umfang von 50 % einer Vollzeitbeschäftigung zur Verfügung
gestellt und die Arbeitslosenkasse demgemäss den versicherten Verdienst auf
die Hälfte des im letzten Arbeitsverhältnis erzielten Lohnes festgesetzt
hat. Wie sich nun nachträglich ergeben hat, beträgt die Invalidität 65 %
(Einspracheentscheid der IV-Stelle vom 7. Dezember 2005). Demzufolge führt
die neue Tatsache der rückwirkend zugesprochenen Invalidenrente unter den
vorliegenden Umständen zu einer anderen rechtlichen Beurteilung im Sinne der
prozessualen Revision, und die Bemessungsgrundlage des versicherten
Verdienstes ändert sich.

Erwägung 5

  5.  Die pendente lite ergangene Rückforderungsverfügung vom 26. September
2005 ist rechtsprechungsgemäss auf Grund des Devolutiveffekts nichtig (sie
hatte lediglich die Bedeutung eines Antrags an das kantonale Gericht: E. 2
hiervor und dortige Hinweise auf die Praxis). Die Sache geht daher an die
Arbeitslosenkasse zurück, damit sie den versicherten Verdienst im Sinne von
Art. 40b AVIV korrigiere und über die Rückforderung erneut verfüge. Im

vorliegenden Fall ergibt sich der berichtigte versicherte Verdienst aus dem
in der letzten Anstellung als Kundenmaurer erzielten Einkommen,
multipliziert mit dem Faktor, der aus der Differenz zwischen 100 % und dem
Invaliditätsgrad in der Höhe von 65 % (gemäss Einspracheentscheid der
IV-Stelle vom 7. Dezember 2005) resultiert (BGE 132 V 357 E. 3.2.4.2 S.
360).