Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 524



Urteilskopf

133 V 524

  65. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Solothurn gegen A. sowie
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  C 79/06 vom 18. Juli 2007

Regeste

  Art. 15 und 23 AVIG; Art. 40b AVIV; versicherter Verdienst von
Behinderten.
  Art. 40b AVIV betrifft - entgegen der eng umschriebenen ratio legis in BGE
132 V 357 - nicht allein die Leistungskoordination zwischen Arbeitslosen-
und Invalidenversicherung, sondern - in allgemeinerer Weise - die Abgrenzung
der Zuständigkeit der Arbeitslosenversicherung gegenüber anderen
Versicherungsträgern nach Massgabe der Erwerbsfähigkeit, weshalb eine
Korrektur des versicherten Verdienstes im Sinne der Verordnungsbestimmung
grundsätzlich auch bei nicht rentenbegründender Invalidität zu erfolgen hat
(E. 5).

Auszug aus den Erwägungen: ab Seite 524

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Streitig und zu prüfen ist, ob die Arbeitslosenkasse den versicherten
Verdienst von ursprünglich Fr. 8'607.- rückwirkend ab 13. Januar 2004 um
"33,24 %" (entsprechend der Höhe des von der IV-Stelle mit Verfügung vom 9.
Januar 2004 festgestellten Invaliditätsgrades) auf Fr. 5'746.- reduzieren
durfte.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Die Beschwerdeführerin ist - unter Berufung auf Ziffer 4 der Weisung
des Staatssekretariates für Wirtschaft (seco) "Koordination ALV-IV" vom 4.
Juli 2005, AVIG-Praxis 2005/29 - der Auffassung, bei Versicherten, welche
unmittelbar vor oder während der Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte
Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit erleiden, sei der versicherte
Verdienst nachträglich auf das Mass der Resterwerbsfähigkeit gemäss den
Vorgaben der Invalidenversicherung zu korrigieren und die zuviel
ausgerichtete Arbeitslosenentschädigung müsse zurückgefordert oder mit
Leistungen der Invalidenversicherung zur Verrechnung gebracht werden. Die
Einkünfte, welche Basis für die Berechnung des versicherten Verdienstes
bildeten, würden die unbeeinträchtigte Erwerbsfähigkeit der versicherten
Person widerspiegeln. Eine Anpassung an veränderte Verhältnisse müsse in
jenen Fällen vorgenommen werden, in welchen die gesundheitlich
beeinträchtigte Person auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt diese Einkünfte
gar nicht mehr zu erzielen in der Lage wäre.

  3.2  Das kantonale Gericht gelangt zum Ergebnis, dem Versicherten stehe
eine ungekürzte Arbeitslosenentschädigung zu. Im vorliegenden Fall seien
keine verschiedenen Versicherungsleistungen zu koordinieren, weil kein
rentenbegründender Invaliditätsgrad vorliege. Art. 40b AVIV und damit auch
die Weisung des seco vom 4. Juli 2005 fänden daher keine Anwendung. Zudem
könne die Weisung des seco in verschiedener Hinsicht zu ungerechten und
willkürlichen Ergebnissen führen.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1
AVIG hat der Versicherte Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wenn er
(unter anderem) vermittlungsfähig ist, d.h. wenn er bereit, in der Lage und
berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen und an
Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen. Nach Art. 15 Abs. 2 Satz 1 AVIG gilt
der körperlich oder geistig Behinderte als vermittlungsfähig, wenn ihm bei
ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner Behinderung,
auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden könnte. Die
Kompetenz zur Regelung der Koordination mit der Invalidenversicherung ist in
Art. 15 Abs. 2 Satz 2 AVIG dem Bundesrat übertragen worden. Dieser hat in
Art. 15 Abs. 3 AVIV festgelegt, dass ein Behinderter, der unter der Annahme
einer ausgeglichenen

Arbeitsmarktlage nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist, und der sich
bei der Invalidenversicherung (oder einer anderen Versicherung nach Art. 15
Abs. 2 AVIV) angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen Versicherung als
vermittlungsfähig gilt.

  4.2  Als versicherter Verdienst gilt der im Sinne der AHV-Gesetzgebung
massgebende Lohn, der während eines Bemessungszeitraumes aus einem oder
mehreren Arbeitsverhältnissen normalerweise erzielt wurde; eingeschlossen
sind die vertraglich vereinbarten regelmässigen Zulagen, soweit sie nicht
Entschädigung für arbeitsbedingte Inkonvenienzen darstellen (Art. 23 Abs. 1
Satz 1 AVIG). Bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der
Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer
Erwerbsfähigkeit erleiden, ist gemäss Art. 40b AVIV der Verdienst
massgebend, welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht.

Erwägung 5

  5.  Nach der Rechtsprechung stellt die rückwirkende Zusprechung einer
Invalidenrente hinsichtlich formlos erbrachter Taggeldleistungen der
Arbeitslosenversicherung eine neue erhebliche Tatsache dar, deren Unkenntnis
die Arbeitslosenkasse nicht zu vertreten hat, weshalb ein Zurückkommen auf
die ausgerichteten Leistungen auf dem Wege der prozessualen Revision im
Allgemeinen als zulässig erachtet wird (BGE 132 V 357 E. 3.1 mit Hinweisen).
Im vorliegenden Fall wurde mit Verfügung der IV-Stelle vom 9. Januar 2004
ein Rentenanspruch des Versicherten verneint. Es fragt sich, ob dieser
Verwaltungsakt dennoch eine erhebliche Tatsache bildet, welche es der
Arbeitslosenkasse erlaubt, den versicherten Verdienst an veränderte
Verhältnisse anzupassen.

  5.1  Aus der Weisung des seco vom 4. Juli 2005 ist - entgegen der Ansicht
der Verwaltung - für die Beantwortung dieser Frage nichts zu gewinnen. Darin
wird als Beispiel für eine Koordination zwischen Invaliden- und
Arbeitslosenversicherung die Situation einer versicherten Person gewählt,
welche auf Grund eines Invaliditätsgrades von 60 % eine Dreiviertelsrente
der Invalidenversicherung bezieht. Ob und allenfalls in welcher Weise eine
Koordination stattzufinden hat, wenn der arbeitslosen Person keine
Geldleistungen der Invalidenversicherung zustehen, kann der Weisung nicht
entnommen werden. Erörterungen darüber, ob die Berücksichtigung der Weisung
im Sinne der Ausführungen des kantonalen Gerichts zu ungerechten und
willkürlichen Ergebnissen führt, erübrigen sich daher schon aus diesem
Grund.

  5.2  Gemäss Art. 40b AVIV richtet sich der versicherte Verdienst nach der
verbleibenden Erwerbsfähigkeit. Diese ist bei einem Invaliditätsgrad von 33
% (zu den Rundungsregeln: BGE 130 V 121) nicht mehr voll, sondern reduziert.
Durch das Abstellen auf die verbleibende Erwerbsfähigkeit soll verhindert
werden, dass die Arbeitslosenentschädigung auf einem Verdienst ermittelt
wird, den die versicherte Person nicht mehr erzielen könnte. Ist die
Erwerbsfähigkeit um einen Drittel reduziert, kann nicht davon ausgegangen
werden, es könnte der ohne Gesundheitsschaden vor der Arbeitslosigkeit
bezogene Lohn verdient werden (vgl. Urteil des Bundesgerichts C 256/06 vom
29. Mai 2007).

  Nach dem Grundsatzurteil BGE 132 V 357 besteht die ratio legis des Art.
40b AVIV darin, über die Korrektur des versicherten Verdienstes die
Koordination zur Eidg. Invalidenversicherung zu bewerkstelligen, um eine
Überentschädigung durch das Zusammenfallen einer Invalidenrente mit
Arbeitslosentaggeldern zu verhindern (BGE 132 V 357 E. 3.2.3 S. 359). Diese
Interpretation des Normzwecks greift allerdings zu kurz. Art. 40b AVIV
betrifft nicht allein die Leistungskoordination zwischen Arbeitslosen- und
Invalidenversicherung, sondern - in allgemeinerer Weise - die Abgrenzung der
Zuständigkeit der Arbeitslosenversicherung gegenüber anderen
Versicherungsträgern nach Massgabe der Erwerbsfähigkeit. Sinn und Zweck der
Verordnungsbestimmung ist mit anderen Worten, die Leistungspflicht der
Arbeitslosenversicherung auf einen Umfang zu beschränken, welcher sich nach
der verbleibenden Erwerbsfähigkeit der versicherten Person während der Dauer
der Arbeitslosigkeit auszurichten hat. Da die Arbeitslosenversicherung nur
für den Lohnausfall einzustehen hat, welcher sich aus der Arbeitslosigkeit
ergibt, kann für die Berechnung der Arbeitslosenentschädigung keine Rolle
spielen, ob ein anderer Versicherungsträger Invalidenleistungen erbringt. Es
kann der Vorinstanz daher nicht beigepflichtet werden, wenn sie annimmt,
Art. 40b AVIV finde auf die vorliegende Fallkonstellation schon deshalb
keine Anwendung, weil keine Leistungen der Invalidenversicherung mit solchen
der Arbeitslosenversicherung zu koordinieren seien.

  5.3  BGE 132 V 357 kommt zum Schluss, dass sich der versicherte Verdienst
im Sinne von Art. 40b AVIV nicht nach dem hypothetischen Invalideneinkommen
berechne, sondern nach dem vor der gesundheitsbedingten Beeinträchtigung der
Erwerbsfähigkeit tatsächlich erzielten Einkommen, multipliziert mit dem
Faktor, der

sich aus der Differenz zwischen 100 % und dem Invaliditätsgrad ergibt. Diese
Anpassung des versicherten Verdienstes an die verbleibende Erwerbsfähigkeit
hat unabhängig davon zu erfolgen, ob ein anderer Versicherungsträger
Leistungen für die Teilinvalidität erbringt (E. 5.2 hiervor). Teilinvaliden,
nicht rentenberechtigten Versicherten entsteht bei dieser Bemessung des
versicherten Verdienstes zwar ein ungedeckter Ausfall. Indessen ist zu
berücksichtigen, dass einen solchen Ausfall auch erleidet, wer - bei nicht
rentenbegründender Invalidität - einem Erwerb nachgeht und einen
Invalidenlohn erzielt (Urteil C 256/06 vom 29. Mai 2007, E. 5).

  5.4  Demzufolge stellt die Verfügung der IV-Stelle vom 9. Januar 2004, mit
welcher ein Rentenanspruch unter Hinweis auf einen Invaliditätsgrad von 33 %
verneint wurde, eine neue Tatsache dar, welche unter den vorliegenden
Umständen allenfalls (vgl. E. 6 hiernach) zu einer anderen rechtlichen
Beurteilung im Sinne der prozessualen Revision führt.

Erwägung 6

  6.

  6.1  Der Versicherte hat sich am 21. Juli 2003 zum Bezug von Leistungen
der Invalidenversicherung angemeldet. Die IV-Stelle hat einen Rentenanspruch
mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 9. Januar 2004
gestützt auf einen Invaliditätsgrad von "33,24 %" abgewiesen. Die
Arbeitslosenkasse hat diesen Invaliditätsgrad zur Bemessung des versicherten
Verdienstes für die Zeit ab 13. Januar 2004 (Beginn der Taggeldleistungen)
herangezogen (Verfügung vom 26. November 2004, bestätigt mit
Einspracheentscheid vom 26. April 2005). Es ist dem kantonalen Gericht
beizupflichten, dass es Konstellationen gibt, in welchen das Abstellen auf
den im IV-Verfahren ermittelten Invaliditätsgrad problematisch ist und zu
ungerechten Ergebnissen führen kann. Zu beachten ist unter den vorliegenden
Umständen insbesondere, dass der Versicherte im IV-Verfahren grundsätzlich
kein schutzwürdiges Interesse daran hatte, einen geringeren Invaliditätsgrad
oder überhaupt eine fehlende Invalidität geltend zu machen. Zudem wurde der
Invaliditätsgrad in der Verfügung der IV-Stelle vom 9. Januar 2004 auf Grund
des Sachverhalts festgestellt, wie er sich bis zum Zeitpunkt des
Verfügungserlasses entwickelt hat. Die berichtigende Verfügung der
Arbeitslosenkasse vom 26. November 2004 und der Einspracheentscheid vom 26.
April 2005 betreffen demgegenüber die Zeit nach der IV-Verfügung. Daher ist
im arbeitslosenversicherungsrechtlichen Verfahren vorfrageweise zu prüfen,
ob sich die

Erwerbsfähigkeit des Versicherten seit der rentenablehnenden Verfügung der
IV-Stelle verbessert hat.

  6.2  Der Versicherte stand bis 9. Dezember 2003 in einem Arbeitsverhältnis
mit dem Kanton Solothurn. Letzter geleisteter Arbeitstag war der 9. Dezember
2002. Ärztlicherseits wurde dem Beschwerdegegner ab 10. Dezember 2002 eine
100%ige Arbeitsunfähigkeit attestiert. Im Einspracheentscheid vom 26. April
2005 geht die Arbeitslosenkasse davon aus, dass die vollständige
Arbeitsunfähigkeit bis 31. Dezember 2003 angedauert und ab 1. Januar 2004
wiederum eine 100%ige Arbeitsfähigkeit bestanden habe. Wie es sich damit
verhält, kann auf Grund der vorliegenden Akten, welche keine ärztlichen
Aussagen zur Arbeitsfähigkeit in der Zeit ab Januar 2004 enthalten, nicht
beurteilt werden. Immerhin gibt der Versicherte sowohl in seiner Einsprache
vom 21. Dezember 2004 als auch in der Beschwerde ans kantonale Gericht vom
25. Mai 2005 an, er habe sich seit der Verfügung der IV-Stelle vom 9. Januar
2004 gesundheitlich erholt, fühle sich voll arbeitsfähig, sei motiviert und
überzeugt davon, bald eine Arbeitsstelle mit ähnlicher Entlöhnung wie in
seiner letzten Tätigkeit als Verwaltungsbeamter zu finden. Es kann bei
dieser Sachlage keineswegs ausgeschlossen werden, dass der Versicherte in
der vorliegend massgebenden Zeit ab 13. Januar 2004 wieder eine volle
Erwerbsfähigkeit erlangt hat.

  6.3  Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, die Angelegenheit an die
Verwaltung zurückzuweisen, damit sie vorfrageweise prüfe, ob sich seit der
Verfügung der IV-Stelle vom 9. Januar 2004 die Erwerbsfähigkeit tatsächlich
verbessert hat. Bejahendenfalls rechtfertigt sich eine Kürzung des
versicherten Verdienstes nicht mehr oder nur in dem Umfang, in welchem der
Beschwerdegegner in der vorliegend relevanten Zeit erwerbsunfähig war.