Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 416



Urteilskopf

133 V 416

  52. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. S.
gegen Assura Kranken- und Unfallversicherung sowie Verwaltungsgericht des
Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
  9C_43/2007 vom 7. August 2007

Regeste

  Art. 25 Abs. 1, Art. 42 Abs. 1 KVG; Art. 394 OR: Ärztliche
Selbstbehandlung.

  Die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
erstreckt sich nicht auf ärztliche Selbstbehandlungen (E. 2-4).

Sachverhalt ab Seite 416

  A.- Der 1955 geborene Dr. med. S., Facharzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, war bis Ende 2003 bei der Assura
Kranken- und Unfallversicherung obligatorisch für Krankenpflege versichert.
Im Zusammenhang mit einem gemeldeten Zeckenbiss aus dem Jahre 1999 erbrachte
der Unfallversicherer (Zürich Versicherungs-Gesellschaft) zunächst die
gesetzlichen Ver-

sicherungsleistungen, lehnte aber mit Verfügung vom 8. Januar 2003 und
Einspracheentscheid vom 7. März 2006 den Anspruch auf Leistungen ab. Das zu
dieser Frage eingeleitete Rechtsmittelverfahren ist letztinstanzlich noch
beim Bundesgericht hängig (U 585/06).

  Die Assura anerkannte am 3. April 2003 im Grundsatz ihre
Vorleistungspflicht für die Behandlung der angeblich durch den Zeckenbiss
übertragenen Lyme-Borreliose, verweigerte aber gewisse Leistungen, worauf
das damalige Eidg. Versicherungsgericht (heute Bundesgericht) in teilweiser
Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit Urteil vom 27. Januar 2005
die sich nach Massgabe des KVG richtende Vorleistungspflicht der Assura
bestätigte.

  S. ersuchte die Assura am 15. Dezember 2005 um Rückerstattung der Kosten
für in der Zeit vom 6. Dezember 2001 bis 17. Januar 2002 und vom 5. November
bis 16. Dezember 2002 von ihm an sich selbst vorgenommene
Borreliose-Behandlungen im Gesamtbetrag von Fr. 22'532.60. Mit Verfügung vom
14. März 2006 lehnte die Assura die Vergütung der beiden Rechnungen ab.
Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 5. Mai 2006 fest.

  B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 18. Januar 2007 ab.

  C.- S. lässt Beschwerde führen und beantragen, in Aufhebung des
angefochtenen Entscheids sei im Rahmen der Vorleistungspflicht sein Anspruch
von Fr. 22'532.60 für die Selbstbehandlungen zulasten der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung anzuerkennen.

  Die Assura und das Bundesamt für Gesundheit schliessen auf Abweisung der
Beschwerde.

  Die Beschwerde wird abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

  1.  Streitig ist, ob sich die Leistungspflicht der obligatorischen
Krankenversicherung auch auf die Selbstbehandlung eines Arztes erstreckt.
Diese dem Bundesgericht erstmals vorgelegte Rechtsfrage ist von
grundsätzlicher Bedeutung, weshalb über sie nach Art. 20 Abs. 2 BGG in
Fünferbesetzung zu entscheiden ist.

Erwägung 2

  2.

  2.1  Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für
die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer

Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Haben Versicherer
und Leistungserbringer nichts anderes vereinbart, so schulden gemäss Art. 42
Abs. 1 KVG die Versicherten den Leistungserbringern die Vergütung der
Leistung, wobei sie gegenüber dem Versicherer einen Anspruch auf
Rückerstattung (im Sinne der Erstattung oder Vergütung) haben (System des
Tiers garant). Versicherer können nach Abs. 2 dieses Artikels vereinbaren,
dass der Versicherer die Vergütung schuldet (System des Tiers payant). Ein
Anspruch auf Erstattung des Honorars eines freipraktizierenden
Leistungserbringers durch den Versicherer besteht jedoch in der Regel nur,
wenn eine solche Honorarforderung nach den zivilrechtlichen Voraussetzungen
gegeben ist (BGE 125 V 430 E. 3a S. 432 und 435 E. 3a), wobei deren
Erfüllung im letztgenannten Fall des Eltern-Kind-Verhältnisses offenbleiben
kann.

  2.2  Gestützt auf die in E. 2.1 dargelegte Rechtsprechung hat das
kantonale Gericht zu Recht geprüft, ob dem Leistungserbringer, der identisch
mit dem Beschwerdeführer ist, ein Honoraranspruch gegenüber sich selbst
entstanden ist. Die Vorinstanz verneint dies im Wesentlichen auf den
Überlegungen basierend, dass das Vertragsverhältnis zwischen Arzt und
Patient unter die Bestimmungen über den Auftrag (Art. 394 ff. OR) fällt und
dass niemand mit sich selbst einen Vertrag schliessen kann. Diese Auffassung
wird von der Doktrin (siehe GEBHARD EUGSTER, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], 2. Aufl., Basel 2006, Rz. 951
und Fn. 1483) und dem Bundesamt für Gesundheit geteilt.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Den vorinstanzlichen Erwägungen ist beizupflichten: Das vom
Gesetzgeber gewählte System des Tiers garant (vgl. Art. 42 Abs. 1 KVG)
beruht auf einem personalen Dreiecksverhältnis zwischen Versicherer
(Krankenkasse), Versichertem (Patient) und Leistungserbringer (z.B. Arzt).
Gleiches gilt ohne Weiteres auch für das System des Tiers payant. Sind nun
aber - wie hier - Patient und Arzt identisch, schuldet Ersterer sich selbst
mangels eines zivilrechtlichen Vertragsverhältnisses offensichtlich keine
Vergütung für die an seiner eigenen Person vorgenommenen ärztlichen
Behandlungen.

  3.2  Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringen lässt, dringt nicht
durch:

  3.2.1  Er macht geltend, er könne wegen des Versicherungsobligatoriums
nicht wählen, ob er eine Krankenversicherung abschliessen oder sich selbst
behandeln wolle und habe daher Anspruch auf die volle Übernahme der Kosten
für Pflichtleistungen. Dass er - wie jede versicherte Person - grundsätzlich
Anspruch auf die Leistungen nach KVG hat, ändert nach dem Gesagten indessen
nichts daran, dass die entsprechenden Voraussetzungen jeweils erfüllt sein
müssen. Wenn behandelter Patient und behandelnder Arzt die gleichen Personen
sind, fehlt es an einer krankenversicherungsrechtlich vergütungsfähigen
Honorarforderung, weshalb eine Leistungspflicht des Versicherers entfällt.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bietet das KVG keinen Raum,
den Ausnahmefall der ärztlichen Selbstbehandlung, wie von ihm verlangt, zu
regeln, liegt doch diesfalls das nach dem vom Gesetzgeber gewählten System
verlangte rückforderbare Substrat nicht vor.

  3.2.2  Aus der nicht Gegenstand des Verfahrens bildenden Übernahme der
Medikamentenkosten durch die Beschwerdegegnerin kann der Beschwerdeführer
nichts zu seinen Gunsten ableiten. Ob, wie Eugster, a.a.O., in Rz. 951 an
sich folgerichtig postuliert, von einem Arzt sich selbst verordnete
Arzneimittel nicht Pflichtleistungen sein können, kann offenbleiben, ist
doch unbestritten, dass der Beschwerdeführer sich diese nicht selbst
verordnet hat. Vielmehr wurden sie ihm von einer anderen ihn behandelnden
Ärztin verschrieben.

  3.2.3  Aus der Rechtsprechung, wonach sich die Leistungspflicht der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung auch auf die ärztliche Behandlung
durch den Ehepartner der versicherten Person (BGE 125 V 430) und durch einen
Elternteil des versicherten Kindes (BGE 125 V 435) erstreckt, ergibt sich
ebenfalls nichts zu Gunsten des Beschwerdeführers, lag doch jenen
Konstellationen keine personelle Identität zu Grunde.

  3.2.4  Dass der Beschwerdeführer bei einer anderen Ärztin in Behandlung
steht, die ihm die Medikamente und die Behandlung verordnet hat, ändert
nichts daran, dass es im Wesentlichen um eine nicht kassenpflichtige
Selbstbehandlung geht.

  3.2.5  Inwiefern schliesslich die Selbstbehandlung wirtschaftlicher sein
soll, ist nicht nachvollziehbar, hat doch der Beschwerdeführer (als
Leistungserbringer) den üblichen Ansatz nach Tarif in Rechnung gestellt.

Erwägung 4

  4.  Die KV-rechtliche Vergütung ärztlicher Selbstbehandlung ist auch wegen
der Gefahr des Missbrauchs zu verneinen (vgl. zur Ungültigkeit des
Selbstkontrahierens bei Interessenkollisionen im Zivilrecht: GUHL/KOLLER,
Das Schweizerische Obligationenrecht, 9. Aufl., Zürich 2000, S. 157 N. 15 zu
§ 18 mit Hinweisen auf die Praxis). Eine solche hatte das damalige Eidg.
Versicherungsgericht zwar bereits in den in E. 3.2.3 erwähnten
Konstellationen geortet. Es hielt aber fest, dass es dem Krankenversicherer
unbenommen bleibt, die Kontrollmöglichkeiten in solchen Fällen zu
intensivieren. In jenen Fällen waren Arzt und Patient wohl familiär sehr eng
miteinander verbunden, jedoch verschiedene natürliche Personen. Den an
seiner eigenen Person tätig werdenden Arzt als Leistungserbringer der
gesetzlichen Krankenversicherung zuzulassen, würde indessen zu einer
Vermischung der Rollen der versicherten Person und des Leistungserbringers
führen, was auch unter dem Gesichtswinkel einer jederzeit möglichen und
unkontrollierbaren Missbrauchsgefahr abzulehnen ist.