Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 309



Urteilskopf

133 V 309

  41. Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Stadt X. gegen
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, betreffend S., sowie
Versicherungsgericht des Kantons Aargau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  P 19/06 vom 19. Juni 2007

Regeste

  Art. 1a Abs. 3 ELG; Art. 13 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1
ELG; Art. 23 Abs. 1 und Art. 26 ZGB: Wohnsitz bei Anstaltsaufenthalt eines
EL-Bezügers.

  Eine urteilsfähige mündige Person entschliesst sich aus freien Stücken,
d.h. freiwillig und selbstbestimmt zu einem Anstaltsaufenthalt
unbeschränkter Dauer und wählt überdies die Anstalt und den Aufenthaltsort
frei. Sofern beim unter solchen Begleitumständen erfolgenden
Anstaltseintritt der Lebensmittelpunkt in die Anstalt verlegt wird, wird am
Anstaltsort ein neuer Wohnsitz begründet (E. 3.1).

Sachverhalt ab Seite 309

  A.- Der 1955 geborene, an Multipler Sklerose leidende S. meldete sich im
September 2004 bei der Gemeindezweigstelle Y. der Sozialversicherungsanstalt

des Kantons Aargau, Ausgleichskasse, zum Bezug von Ergänzungsleistungen zur
Invalidenrente an. Verfügungsweise hielt die Sozialversicherungsanstalt am
15. Oktober 2004 fest, "die Anmeldung zum Bezug einer Ergänzungsleistung
(müsse) im Kanton Zürich vorgenommen werden". Mit seinem Heimeintritt in der
Stadt X. habe der Versicherte in dieser (zürcherischen) Gemeinde
zivilrechtlichen Wohnsitz genommen und den bisherigen, in Y. gelegenen
aufgegeben. Folglich sei nicht der Kanton Aargau für die Festsetzung und
Auszahlung der Ergänzungsleistungen zuständig. Die von der Stadt X. hiegegen
erhobene Einsprache wies die Sozialversicherungsanstalt mit Entscheid vom 4.
Mai 2005 ab.

  B.

  B.a Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau trat auf die von der Stadt
X. gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mangels
Aktivlegitimation dieser Gemeinde nicht ein (Entscheid vom 16. August 2005).

  B.b Das Eidgenössische Versicherungsgericht hiess die gegen den
Nichteintretensentscheid des kantonalen Gerichts eingereichte
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Stadt X. (soweit es darauf eintrat) mit
Urteil vom 24. Januar 2006 gut, hob den angefochtenen Entscheid auf und wies
die Sache an die Vorinstanz zurück, damit diese über die Beschwerde gegen
den Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt vom 4. Mai 2005
materiell entscheide.

  B.c Mit Entscheid vom 2. März 2006 wies das Versicherungsgericht des
Kantons Aargau die Beschwerde ab und beantwortete damit die Frage nach der
örtlichen Zuständigkeit dahin gehend, dass der Kanton Zürich bzw. (nach
dessen EL-Durchführungsregelung) die Stadt X. die Ergänzungsleistungen
festzusetzen und auszuzahlen habe.

  C.- Die Stadt X. führt erneut Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, es sei festzustellen, dass S. nach wie vor in Y. Wohnsitz habe und
demzufolge die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau für die
Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistungen zuständig sei.

  Während S. auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
lässt, verzichten die Sozialversicherungsanstalt und das Bundesamt für
Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.

  Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                   Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

  1.

  1.1  Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG; SR
173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 S. 1205, 1243). Da
der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren
noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).

  1.2  Im letztinstanzlichen Verfahren um die örtliche Zuständigkeit zur
Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistungen gilt die umfassende
Kognition gemäss Art. 132 OG (in der hier anwendbaren, bis Ende Juni 2006
gültig gewesenen Fassung; BGE 108 V 22 E. 1 S. 24).

Erwägung 2

  2.  Gemäss Art. 1a Abs. 1 ELG leistet der Bund Beiträge an die Kantone,
die aufgrund eigener, den Anforderungen dieses Gesetzes entsprechender
Bestimmungen den Bezügern von Renten der Alters- und
Hinterlassenenversicherung (AHV) sowie der Invalidenversicherung (IV)
Ergänzungsleistungen (EL) gewähren. Die Kantone bezeichnen die Organe, denen
die Entgegennahme der Gesuche, die Festsetzung und Auszahlung der
Ergänzungsleistungen obliegen; sie können mit diesen Aufgaben die kantonalen
Ausgleichskassen betrauen (Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Satz ELG).
Während der Kanton Aargau - wie die meisten Kantone - die kantonale
Ausgleichskasse (Sozialversicherungsanstalt) mit der EL-Durchführung betraut
hat (§ 16 des aargauischen Gesetzes über die Ergänzungsleistungen zur AHV
und IV [Ergänzungsleistungsgesetz; SAR 831.200]), hat der Kanton Zürich
diese Aufgabe den politischen Gemeinden übertragen (§ 2 des Zürcher Gesetzes
über die Zusatzleistungen zur eidgenössischen AHV/IV [Zusatzleistungsgesetz;
LS 831.3]). Diese haben grösstenteils für die Finanzierung der
auszurichtenden Ergänzungsleistungen aufzukommen und die mit der jeweiligen
Fallführung verbundenen Verwaltungskosten gänzlich zu übernehmen (§§ 33 ff.
des zürcherischen Zusatzleistungsgesetzes in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1
letzter Satz und Art. 9 ELG).

Erwägung 3

  3.  Zuständig für die Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistung
ist nach Art. 1a Abs. 3 ELG der Kanton, in dem der Bezüger seinen Wohnsitz
hat. Bei streitiger Zuständigkeit haben die kantonalen Versicherungsgerichte
und letztinstanzlich das Bundesgericht über die Wohnsitzfrage zu entscheiden
(BGE 132 V 74 E. 4.1.2 S. 79; 127 V 237 E. 1 S. 238; 108 V 22 E. 2a S. 24).

  3.1  Der im Rahmen des EL-Rechts massgebende Wohnsitz einer Person
bestimmt sich gemäss Art. 13 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 ELG
nach den Art. 23-26 ZGB. Der zivilrechtliche Wohnsitz einer Person befindet
sich an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält
(Art. 23 Abs. 1 ZGB) und den sie sich zum Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen
gemacht hat (BGE 127 V 237 E. 1 S. 238; 125 III 100 E. 3 S. 102). Für die
Begründung des Wohnsitzes müssen somit zwei Merkmale erfüllt sein: ein
objektives äusseres, der Aufenthalt, sowie ein subjektives inneres, die
Absicht dauernden Verbleibens. Nach der Rechtsprechung kommt es nicht auf
den inneren Willen, sondern darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren
Umstände objektiv schliessen lassen (BGE 127 V 237 E. 1 S. 238; 125 V 76 E.
2a S. 77). Der Wohnsitz bleibt an diesem Ort bestehen, solange nicht
anderswo ein neuer begründet wird (Art. 24 Abs. 1 ZGB). Der Aufenthalt an
einem Ort zum Zweck des Besuchs einer Lehranstalt und die Unterbringung
einer Person in einer Erziehungs-, Versorgungs-, Heil- oder Strafanstalt
begründen nach Art. 26 ZGB keinen Wohnsitz.

  Obwohl der Wortlaut nicht ohne weiteres darauf schliessen lässt, wird in
Art. 26 ZGB eine widerlegbare Vermutung angestellt, wonach der Aufenthalt am
Studienort oder in einer Anstalt nicht bedeute, dass auch der
Lebensmittelpunkt an den fraglichen Ort verlegt worden ist; Art. 26 ZGB
umschreibt somit im Ergebnis negativ, was Art. 23 Abs. 1 ZGB zum Wohnsitz in
grundsätzlicher Hinsicht positiv festhält. Bei der Unterbringung in einer
Anstalt, d.h. der Anstaltseinweisung durch Dritte, die nicht aus eigenem
Willen erfolgt, wird man regelmässig eine Wohnsitznahme von vornherein
ausschliessen müssen. Eine andere Sichtweise ist einzunehmen, wenn sich eine
urteilsfähige mündige Person aus freien Stücken, d.h. freiwillig und
selbstbestimmt zu einem Anstaltsaufenthalt unbeschränkter Dauer entschliesst
und überdies die Anstalt und den Aufenthaltsort frei wählt. Sofern bei einem
unter solchen Begleitumständen erfolgenden Anstaltseintritt der
Lebensmittelpunkt in die Anstalt verlegt wird, wird am Anstaltsort ein neuer
Wohnsitz begründet. Als freiwillig und selbstbestimmt hat der
Anstaltseintritt auch dann zu gelten, wenn er vom "Zwang der Umstände" (etwa
Angewiesensein auf Betreuung, finanzielle Gründe) diktiert wird (BGE 127 V
237 E. 2b und c S. 239 ff.; 108 V 22 E. 2b und 3b S. 25 f.; Pra 2001 Nr. 131
S. 787 ff., E. 4a und b; RALPH JÖHL, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR],

Soziale Sicherheit, 2. Aufl. 2006, Rz. 44 ff.; Wegleitung des BSV über die
Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL], Rz. 1018, 1020 f.).

  3.2  S. trat am 1. September 2002 ins Heim Z. in X. ein. Hiebei handelt es
sich um ein Wohnheim für körperlich Schwerstbehinderte, die an den Folgen
einer Multiplen Sklerose, einer Hirnverletzung oder einer anderen
chronischen neurologischen Krankheit leiden und dauernd auf Assistenz,
Pflege, Betreuung oder Begleitung angewiesen sind. Gemäss den Angaben seines
Beistandes in der vorinstanzlichen Stellungnahme vom 13. Juli 2005 wurde die
Institution seinerzeit vom Versicherten und seiner Ehefrau ausgewählt, weil
zu Hause die erforderliche Pflege und Betreuung nicht mehr habe erbracht
werden können und der Kanton Aargau über kein ähnliches (hoch
spezialisiertes) Invalidenwohnheim verfüge. S. fühle sich im Heim Z. sehr
wohl und sei dort auch gut aufgehoben. Gemäss Scheidungsurteil vom 23.
August 2004 ist er berechtigt, seine beiden 1989 und 1991 geborenen Söhne
jeweils am 1. und 3. Sonntag des Monats bei sich im Pflegeheim zu Besuch zu
empfangen.

  3.3  Im hier zu beurteilenden Fall mag offenbleiben, ob das Heim Z. eine
Anstalt im Sinne von Art. 26 ZGB ist oder nicht (vgl. dazu BGE 127 V 237 E.
2b am Anfang und am Ende sowie E. 2c am Ende S. 239 ff.). Wenn die Frage zu
bejahen wäre, müsste jedenfalls die gesetzliche Vermutung, wonach der
Lebensmittelpunkt von S. nicht an den Ort des Invalidenwohnheims
übergegangen sei, als widerlegt gelten: Die angeführte Aktenlage lässt
nämlich einzig den Schluss zu, dass sich der Versicherte freiwillig und
eigenverantwortlich für einen unbefristeten Aufenthalt im Heim Z.
entschieden hat. Entgegen der Auffassung der Beschwerde führenden Stadt X.
ändert daran der äussere Umstand nichts, dass "es mindestens in der
Deutschschweiz keine andere vergleichbare Einrichtung gibt" (E. 3.1 hievor
am Ende). Des Weitern muss aufgrund der erkennbaren Gegebenheiten gefolgert
werden, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen von S. spätestens mit der
im September 2004 rechtskräftig gewordenen Ehescheidung in das Heim Z.
verlegt worden ist und damit in X. ein neuer Wohnsitz begründet wurde. Dass
der Versicherte in dieser Stadt bloss "als Wochenaufenthalter gemeldet" ist,
führt - entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen
Auffassung - zu keiner anderen Betrachtungsweise, weil für den
zivilrechtlichen Wohnsitz nicht massgebend ist, wo eine Person angemeldet
ist und ihre Schriften hinterlegt hat (BGE 127 V 237 E. 2c S. 241).

Was den Einwand der Beschwerdeführerin anbelangt, die geltende gesetzliche
Regelung benachteilige die Standortgemeinden von Institutionen zur Betreuung
und Pflege Invalider, ist auf BGE 127 V 237 E. 2d am Ende S. 242 zu
verweisen, wo das frühere Eidgenössische Versicherungsgericht in
vergleichbarem Zusammenhang festhielt, es bleibe Sache des Gesetzgebers,
Abhilfe zu schaffen und gegebenenfalls ergänzungsleistungsrechtlich eine vom
zivilrechtlichen Wohnsitz abweichende Lösung vorzusehen.

  3.4  Nach dem Gesagten sind die Behörden der Stadt X. und nicht die
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau zuständig für die Festsetzung
und Auszahlung der Ergänzungsleistungen ab dem Zeitpunkt der im September
2004 erfolgten Anmeldung zum Leistungsbezug (Art. 21 Abs. 1 ELV).