Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 257



Urteilskopf

133 V 257

  34. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S.
IV-Stelle Bern gegen P. sowie Verwaltungsgericht des Kantons Bern
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  I 136/06 vom 21. März 2007

Regeste

  Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 2 HVI; Ziff. 9 HVI-Anhang: Rollstühle.

  Einer versicherten Person sind - je nach ihren persönlichen Bedürfnissen,
welche im Einzelfall abzuklären sind - ausnahmsweise mehr als zwei
Rollstühle zur Verfügung zu stellen (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 257

  A.- Der 1955 geborene P. leidet seit 1993 an Multipler Sklerose. Er
bezieht seit 1. September 1996 eine halbe und seit 1. Juni 1998 eine ganze
Rente der Invalidenversicherung. Da sich sein Gesundheitszustand im April
2002 stark verschlechtert hatte, musste er seine Erwerbstätigkeit ganz
aufgeben. Ab 1. Oktober 2002 wird ihm eine Hilflosenentschädigung für
Hilflosigkeit schweren Grades ausgerichtet. Seit 1996 stand dem Versicherten
ein Rollstuhl Küschall Ultra Light Neo zur Verfügung, welcher im Jahr 2005
durch den Rollstuhl Küschall Compact ersetzt wurde. Für die Fortbewegung im
Aussenbereich wurde ihm im Jahre 1996 ein Elektrorollstuhl Garant 3003
abgegeben. In der Wohnung benutzt er seit 2005 einen Elektrorollstuhl Netti
III mit E-Fix-Hilfsantrieb. Am 4. Mai 2005 ersuchte P. die IV-Stelle Bern um
Abgabe eines anderen Elektrorollstuhles

für den Aussenbereich, da er den Elektrorollstuhl Garant 3003
behinderungsbedingt nicht mehr gut bedienen könne. Mit Verfügung vom 25. Mai
2005 lehnte die IV-Stelle das Begehren ab. Daran hielt sie auf Einsprache
hin fest (Einspracheentscheid vom 15. August 2005).

  B.- In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern den Einspracheentscheid vom 15. August
2005 auf und wies die Angelegenheit zum weiteren Vorgehen im Sinne der
Erwägungen an die IV-Stelle zurück. In den Erwägungen wird ausgeführt, die
Notwendigkeit eines zweiten Elektrorollstuhls sei auf Grund der vorliegenden
medizinischen und fachtechnischen Beurteilungen ausgewiesen; die Sache werde
zur Prüfung der weiteren Leistungsvoraussetzungen (Einfachheit und
Zweckmässigkeit der Versorgung) an die Verwaltung zurückgewiesen (Entscheid
vom 16. Dezember 2005).

  C.- Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, der Entscheid des kantonalen Gerichts vom 16. Dezember 2005
sei aufzuheben.

  P. schliesst sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Die Vorinstanz lässt sich ebenfalls in abweisendem Sinn vernehmen. Das
Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.

  3.2  Die im Anhang zur Verordnung vom 29. November 1976 über die Abgabe
von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI-Anhang; SR 831.232.51)
enthaltene Liste von Hilfsmitteln umfasst unter Ziffer 9 in der Kategorie
"Rollstühle" einerseits solche ohne motorischen Antrieb (Ziffer 9.01) und
andererseits Elektrorollstühle für Versicherte, die einen gewöhnlichen
Rollstuhl nicht bedienen und sich nur dank elektromotorischem Antrieb
selbstständig fortbewegen können (Ziffer 9.02). Die Hilfsmittelversorgung
unterliegt den allgemeinen Anspruchsvoraussetzungen gemäss Art. 8 IVG
(Geeignetheit, Erforderlichkeit, Eingliederungswirksamkeit; BGE 122 V 212 E.
2c S. 214). Diese unbestimmten Rechtsbegriffe hat die Verwaltung durch
Weisungen konkretisiert. Verwaltungsweisungen richten sich an die
Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht
verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen,
sofern sie eine dem Einzelfall

angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen
Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund
von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung
der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der
Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu
gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 132 V 121 E. 4.4 S. 125, 200 E. 5.1.2
S. 203; 131 V 42 E. 2.3 S. 45; 130 V 229 E. 2.1 S. 232; 129 V 200 E. 3.2 S.
204; 127 V 57 E. 3a S. 61; 126 V 421 E. 5a S. 427).

Erwägung 4

  4.  Der Beschwerdegegner verfügt neben einem Rollstuhl ohne motorischen
Antrieb (Küschall Compact) über einen Elektrorollstuhl (Netti III mit
E-Fix-Hilfsantrieb) für die Fortbewegung in der Wohnung. Ausserdem steht ihm
seit 1996 ein Elektrorollstuhl (Garant 3003) für den Aussenbereich zur
Verfügung, den er aber behinderungsbedingt nicht mehr gut bedienen kann. Im
vorliegenden Verfahren geht es um die Frage, ob die IV-Stelle dem
Versicherten für den Aussenbereich einen seinem Gesundheitszustand
angepassten Elektrorollstuhl abzugeben hat.
  (...)

Erwägung 6

  6.

  6.1  In der Rechtsprechung wurde in der Vergangenheit im Zusammenhang mit
dem Hilfsmittel "Rollstuhl" unter anderem Folgendes entschieden: Nicht
eingliederungsfähige Versicherte, welchen ein nicht zum Strassenverkehr
zugelassener Elektrofahrstuhl nach Ziffer 9.02 der Hilfsmittelliste
zugesprochen wurde, haben nicht zusätzlich Anspruch auf Abgabe eines
Normalfahrstuhles (ZAK 1978 S. 518, I 351/77). Eingliederungsfähigen
Versicherten kann nötigenfalls für den Arbeitsplatz und für das Domizil je
ein Fahrstuhl ohne Motor abgegeben werden; zusätzlich zu einem gewöhnlichen
Fahrstuhl kann bei solchen Versicherten unter bestimmten Umständen auch die
Abgabe eines Fahrstuhles mit elektromotorischem Antrieb in Betracht kommen.
Dagegen kann nicht eingliederungsfähigen Versicherten nur ein Fahrstuhl
zugesprochen werden, wobei ein Modell zu wählen ist, das sich sowohl als
Zimmer- wie auch als Strassenfahrstuhl eignet (ZAK 1981 S. 390, I 827/80).
Nichterwerbstätigen kann zusätzlich zu einem Fahrstuhl mit
elektromotorischem Antrieb ein gewöhnlicher Fahrstuhl abgegeben werden, wenn
dies einer unbedingten Notwendigkeit entspricht (ZAK 1987 S. 100, I 513/85).

  6.2  Unter Hinweis auf diese Urteile des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts findet sich die IV-Stelle in ihrer Auffassung
bestätigt, wonach die Abgabe von mehr als zwei Rollstühlen an eine
versicherte Person nicht möglich sei. Dieser Schluss lässt sich allerdings
aus den in E. 6.1 hiervor zitierten Urteilen nicht ohne weiteres ziehen, wie
sich nachfolgend zeigt.

  6.3
  6.3.1  Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die zitierten Urteile
allesamt älteren Datums sind und mit dem aktuellen Kreisschreiben des BSV
über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (KHMI)
nicht mehr in vollständiger Übereinstimmung stehen. Es ist zu differenzieren
zwischen Rollstühlen ohne motorischen Antrieb im Sinne von Ziffer 9.01
HVI-Anhang und Elektrorollstühlen gemäss Ziffer 9.02 HVI-Anhang. Für
Rollstühle ohne motorischen Antrieb schreibt Rz. 9.01.3 KHMI (in der seit 1.
März 2004 unverändert gebliebenen Fassung) vor, dass sich der Anspruch in
der Regel auf einen einzigen Rollstuhl erstreckt; die Notwendigkeit eines
zweiten Rollstuhls ist eingehend zu begründen. Elektrorollstühle werden
Versicherten abgegeben, die einen gewöhnlichen Rollstuhl nicht bedienen und
sich nur dank elektromotorischem Antrieb selbstständig fortbewegen können
(Ziffer 9.02 HVI-Anhang). Gemäss Rz. 9.02.4 KHMI (in der seit 1. März 2004
unverändert gebliebenen Fassung) ist die Abgabe von zwei Elektrorollstühlen
möglich:

   "- an Versicherte, die erwerbstätig oder in der Ausbildung sind, falls
    sie den einen am Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz und den andern im
    Wohnbereich benötigen;

    - an Versicherte, die sich zum Zwecke der Ausbildung in einem Internat
    befinden und das Wochenende regelmässig zu Hause verbringen.
    Versicherte, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, haben die
    Notwendigkeit eines zweiten Elektrorollstuhls eingehend zu begründen.
    Insbesondere ist zu prüfen, ob die Abgabe eines zusätzlichen Rollstuhls
    ohne motorischen Antrieb genügt."
  6.3.2  Entgegen der Ansicht der IV-Stelle verbieten weder die im KHMI
enthaltenen, in E. 6.3.1 hiervor aufgeführten Verwaltungsweisungen des BSV
(zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen für das Gericht: E. 3.2 hiervor)
noch die Rechtsprechung die Abgabe von mehr als zwei Rollstühlen an eine
versicherte Person. Das KHMI sieht zwar vor, dass weder mehr als zwei
Rollstühle ohne motorischen Antrieb noch mehr als zwei Elektrorollstühle
zugesprochen

werden dürfen. Damit ist allerdings nicht ausgeschlossen, dass einer
versicherten Person ausnahmsweise - je nach ihren persönlichen Bedürfnissen,
welche im Einzelfall nach Massgabe von Art. 21 Abs. 2 IVG abzuklären sind -
namentlich zwei Elektrorollstühle und ein Rollstuhl ohne motorischen Antrieb
oder, umgekehrt, zwei Rollstühle ohne motorischen Antrieb und ein
Elektrorollstuhl zur Verfügung zu stellen sind. Der Anspruch auf einen
Rollstuhl ohne motorischen Antrieb sowie derjenige auf einen
Elektrorollstuhl ist je einzeln nach Ziffer 9.01 und Ziffer 9.02 HVI-Anhang
zu prüfen. Sind einer versicherten Person bereits Hilfsmittel der einen Art
abgegeben worden, kann dies unter bestimmten Umständen einen Einfluss auf
den Anspruch aus der anderen Unterkategorie haben. So wird etwa kein zweiter
Elektrorollstuhl zur Verfügung gestellt, wenn die Abgabe eines zusätzlichen
Rollstuhls ohne motorischen Antrieb genügt (Rz. 9.02.04 letzter Satz KHMI).
Denkbar ist auch, dass die versicherte Person, welcher ein Elektrorollstuhl
abgegeben wird, den vormals verwendeten Rollstuhl ohne motorischen Antrieb
nicht mehr braucht. Auf eine abschliessende Aufzählung der möglichen
Konstellationen kann an dieser Stelle verzichtet werden.

  6.4  Im vorliegenden Fall ist der Anspruch auf Abgabe eines zweiten
Elektrorollstuhls (als Ersatz für den bereits im Jahr 1996 abgegebenen,
nicht mehr behinderungsgerechten Elektrorollstuhl Garant 3003) zu prüfen.
Wie soeben dargelegt (E. 6.3 hiervor), lässt sich das Gesuch des
Beschwerdegegners auf dieses weitere Hilfsmittel nicht mit dem Hinweis auf
den Umstand, dass ihm bereits ein Elektrorollstuhl und ein Rollstuhl ohne
motorischen Antrieb zur Verfügung stehen, ablehnen. Der Versicherte ist aber
gemäss Rz. 9.02.04 KHMI gehalten, die Notwendigkeit des zweiten
Elektrorollstuhls eingehend zu begründen. Die Gesetzeskonformität dieser
Weisung, beziehungsweise der vormals in Rz. 9.02.02 der Wegleitung über die
Abgabe von Hilfsmitteln (WHMI) in der Fassung vom 1. Januar 1993 enthaltenen
Vorgabe mit gleichem Wortlaut, ist vom Eidgenössischen Versicherungsgericht
bejaht worden (SVR 1996 IV Nr. 81 S. 237 E. 3a, I 194/94).

  Dem ärztlichen Zeugnis des Dr. med. Z. vom 3. Juni 2005 ist zu entnehmen,
dass sich der Beschwerdegegner auf Grund einer rechtsbetonten spastischen
Parese in einem Rollstuhl ohne motorischen Antrieb nicht mehr selbstständig
fortbewegen kann. Er ist auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. Für den
Innenbereich wurde ihm der

leichte Elektrorollstuhl Netti III mit E-Fix-Hilfsantrieb zur Verfügung
gestellt. Damit kann er den Deckentreppenlift seiner zweigeschossigen
Wohnung benutzen. Die anderen verfügbaren Elektrorollstühle sind gemäss
Abklärungsbericht des Regionalen Hilfszentrums vom 28. September 2005
schwerer und überschreiten die Traglast des Treppenlifts. Ein tragfähigerer
Treppenlift konnte aus Platzgründen nicht installiert werden. Der
Elektrorollstuhl Netti III hat einen kleinen Aktionsradius, ist nicht
gefedert und lediglich mit kleinen Vorderrädern bestückt, mit welchen kaum
Absätze überwunden werden können. Für den Gebrauch ausser Haus ist er
demzufolge untauglich. Elektrorollstühle, welche für den Aussenbereich
geeignet wären, die aber auch in der Wohnung gebraucht werden könnten und
insbesondere die Traglast des Deckentreppenliftes nicht überschreiten
würden, existieren nicht (Abklärungsbericht des Regionalen Hilfszentrums vom
28. September 2005). Der abgegebene Elektrorollstuhl Netti III mit
Hilfsantrieb ist auf Grund seines geringen Gewichtes die einzig mögliche
Hilfsmittelversorgung für die Fortbewegung im Innenbereich. Im Aussenbereich
ist der Versicherte unter diesen Umständen auf ein anderes Hilfsmittel
angewiesen. Im Jahr 1996 wurde ihm der Elektrorollstuhl Garant 3003
abgegeben. Auf Grund der eingetretenen Verschlechterung des
Gesundheitszustandes kann er allerdings seine Arme für die Lenkung dieses
Hilfsmittels nicht mehr im geforderten Ausmass einsetzen. Für diesen
Elektrorollstuhl hat er somit keine Verwendung mehr. Der Bedarf an dem von
der IV-Stelle mit Verfügung vom 17. Januar 2005 leihweise abgegebenen
Rollstuhl Küschall Compact steht nicht zur Diskussion. Die Tatsache, dass
der Versicherte auch über einen Rollstuhl ohne motorischen Antrieb verfügt,
hat mit Blick auf die konkreten Verhältnisse keinen Einfluss auf die
vorliegend zu beurteilende Frage, ob ein zweiter Elektrorollstuhl notwendig
ist (vgl. E. 6.3.2). Denn der Versicherte kann sich im Rollstuhl ohne
motorischen Antrieb nicht mehr selbstständig fortbewegen, so dass dieses
Hilfsmittel für die Fortbewegung im Aussenbereich nicht genügt (Rz. 9.02.4
letzter Satz KHMI). Damit steht die Notwendigkeit eines zweiten
Elektrorollstuhls fest. Die IV-Stelle wird somit - im Sinne des kantonalen
Rückweisungsentscheides - die weiteren Leistungsvoraussetzungen prüfen und
neu verfügen müssen.