Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 V 108



Urteilskopf

133 V 108

  16. Auszug aus dem Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts i.S.
M. gegen IV-Stelle Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  I 465/05 vom 6. November 2006

Regeste

  Art. 17 ATSG; Art. 41 IVG (in Kraft gewesen bis 31. Dezember 2002); Art.
87 Abs. 2 und 3 IVV: Massgebende zeitliche Vergleichsbasis.

  Wie bei der Neuanmeldung (BGE 130 V 71) ist auch bei der Rentenrevision
(auf Gesuch hin oder von Amtes wegen) zeitlicher Ausgangspunkt für die
Beurteilung einer anspruchserheblichen Änderung des Invaliditätsgrades die
letzte rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des
Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung
und Durchführung eines Einkommensvergleichs beruht (Änderung der
Rechtsprechung; E. 5).

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.

  4.1  Gemäss vorinstanzlich erwähntem BGE 109 V 265 E. 4a ist im Rahmen
einer Rentenrevision zeitliche Vergleichsbasis für die Glaubhaftmachung
einer anspruchserheblichen Änderung nach Art. 87 Abs. 3 IVV stets die letzte
anspruchsändernde Verfügung; Verfügungen, welche eine laufende Rente bloss
bestätigen, sind demgegenüber revisionsrechtlich unbeachtlich (vgl. auch BGE
125 V 369 E. 2, RKUV 1989 Nr. U 65 S. 71 E. 1c, mit Hinweisen; ebenso
bereits ZAK 1969 S. 130 E. 1). Soweit im späteren BGE 130 V 351 E. 3.5.2
ausgeführt wurde, im Revisionsverfahren sei der Sachverhalt im Zeitpunkt, in
welchem die Rente rechtskräftig gewährt "bzw. materiell bestätigt worden
ist", mit dem Sachverhalt im Zeitpunkt der Neubeurteilung zu vergleichen,
war damit - wie das kantonale Gericht mit zutreffender Begründung, worauf
verwiesen wird, erwogen hat - keine Abkehr von der Rechtsprechung gemäss BGE
109 V 265 E. 4a beabsichtigt.

  4.2  Im vom kantonalen Gericht ebenfalls zitierten BGE 130 V 71 war das
Nichteintreten der Verwaltung auf eine Neuanmeldung gemäss Art. 87 Abs. 4
IVV zu beurteilen. Dabei bestätigte das Eidgenössische Versicherungsgericht
- konstanter Rechtsprechung entsprechend - die grundsätzliche Analogie
zwischen Rentenrevision und Neuanmeldung. Es nahm jedoch hinsichtlich des
für die Glaubhaftmachung einer anspruchserheblichen Änderung massgebenden
Vergleichszeitraums insoweit eine Differenzierung vor, als es den gemäss BGE
109 V 265 E. 4a für die Rentenrevision geltenden Grundsatz, wonach materiell
bloss "bestätigende" im Unterschied zu anspruchsändernden Verfügungen
unbeachtlich sind, für das Neuanmeldungsverfahren nicht gelten liess.
Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass hier - anders bei der
Rentenrevision, welche einen Rentenanspruch voraussetzt - eine staatliche
Leistungspflicht erst behauptet wird; die in BGE 109 V 265 E. 4a getroffene
Unterscheidung von materiell den Rentenanspruch "bloss bestätigenden" und
"anspruchsändernden" Verfügungen fällt daher bei der Neuanmeldung
(vorbehältlich einer zuletzt verfügten Rentenaufhebung) sachlogisch ausser
Betracht. Würde im Neuanmeldungsverfahren nach BGE 109 V 265 E. 4a
verfahren, müssten mit andern Worten sämtliche vorangehenden, erneut
leistungsverweigernden Verfügungen als bloss "bestätigend" eingestuft werden
und wäre daher stets auf den Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenverweigerung

abzustellen. Dies liefe dem Grundgedanken von Art. 87 Abs. 4 IVV zuwider,
wonach sich die Verwaltung nicht immer wieder mit gleichlautenden und nicht
näher begründeten, d.h. keine Veränderung des Sachverhalts darlegenden
Rentengesuchen soll befassen müssen (BGE 130 V 75 ff. E. 3.2.3). Vor diesem
Hintergrund entschied das Gericht mit Bezug auf Neuanmeldungen:

   "Erfolgte (...) nach einer ersten Leistungsverweigerung eine erneute
    materielle Prüfung des geltend gemachten Rentenanspruchs und wurde
    dieser nach rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und
    Durchführung eines Einkommensvergleichs (bei Anhaltspunkten für eine
    Änderung in den erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitszustands)
    abermals rechtskräftig verneint, muss sich die leistungsansprechende
    Person dieses Ergebnis - vorbehältlich der Rechtsprechung zur
    Wiedererwägung oder prozessualen Revision (vgl. BGE 127 V 469 E. 2c mit
    Hinweisen) - bei einer weiteren Neuanmeldung entgegenhalten lassen."
    (BGE 130 V 77 E. 3.2.3)

  Bisheriger Rechtsprechung entsprechend sind gemäss 130 V 77 E. 3.2.3 einem
Leistungsgesuch vorangehende Nichteintretensverfügungen der Verwaltung
sowohl bei der Rentenrevision wie auch der Neuanmeldung für die Bestimmung
der zeitlichen Vergleichsbasis unbeachtlich.

  4.3  Das Urteil BGE 130 V 71 betrifft die Tragweite und Anwendbarkeit der
in BGE 109 V 265 E. 4a dargelegten Grundsätze zur revisionsrechtlich
massgebenden zeitlichen Vergleichsbasis im Neuanmeldungsverfahren; hingegen
bestand dort keine Notwendigkeit, die Praxis gemäss BGE 109 V 265 E. 4a mit
Bezug auf die Rentenrevision nach Art. 41 IVG grundsätzlich zu überdenken.
Die Erwägungen des kantonalen Gerichts geben nunmehr hierzu Anlass.

Erwägung 5

  5.

  5.1  Die Frage nach der für die Beurteilung einer anspruchserheblichen
Änderung des Invaliditätsgrades massgebenden zeitlichen Vergleichsbasis
stellt sich im Neuanmeldungs- ebenso wie im Rentenrevisionsverfahren, und
zwar sowohl unter eintretensrechtlichen Gesichtspunkten (Art. 87 Abs. 3 und
4 IVV), wie sie hier im Vordergrund stehen, als auch bei der - von der
Eintretensfrage zu unterscheidenden - materiellrechtlichen Prüfung einer von
der versicherten Person glaubhaft gemachten (Neuanmeldung und Revision auf
Gesuch hin) oder einer von der Verwaltung nach Massgabe von Art. 87 Abs. 2
IVV (in der bis Ende Februar 2004 gültig

gewesenen und in der seit 1. März 2004 geltenden Fassung) für möglich
gehaltenen anspruchsbeeinflussenden Änderung des Invaliditätsgrades
(Revision von Amtes wegen; Art. 41 IVG und Art. 87 Abs. 1 IVV [je in Kraft
gestanden bis 31. Dezember 2002] bzw. - seit 1. Januar 2003 - Art. 17 ATSG).
Aus nachfolgend dargelegten Gründen ist der Vorinstanz darin beizupflichten,
dass der relevante Vergleichszeitraum im Revisionsverfahren im Rahmen der
Eintretensfrage wie auch der materiellen Anspruchsprüfung, erfolge sie auf
Gesuch hin oder von Amtes wegen, analog zur Neuanmeldung zu bestimmen ist.

  5.2  Bei der Neuanmeldung und der Rentenrevision handelt es sich zwar
nicht um identische, wohl aber um ähnliche Rechtsinstitute, insoweit beide
auf eine erneute Prüfung eines Leistungsanspruchs aufgrund veränderter
Verhältnisse zielen. Dementsprechend knüpft das Gesetz das Eintreten auf
eine Neuanmeldung an dieselben Voraussetzungen, wie sie im Falle eines
Revisionsgesuchs gelten (Art. 87 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 87 Abs. 3
IVV; zur Prüfung der Eintretensfrage vgl. auch BGE 117 V 198 E. 3a; 109 V
114 E. 2b, 264 f. E. 3). Für die neuanmeldungs- wie revisionsrechtlich
erforderliche Glaubhaftmachung einer anspruchserheblichen Änderung des
Invaliditätsgrades gelten dabei dieselben Beweisanforderungen (vgl. BGE 130
V 64; siehe auch Urteile vom 10. Februar 2005 [I 619/04] E. 2, vom 9. Januar
2004 [I 571/03] E. 3.1; ferner SVR 2003 IV Nr. 25 S. 77 E. 2.2 und 2.3 (=
Urteil I 238/02 vom 20. März 2003). Auch im Rahmen der materiellrechtlichen
Anspruchsprüfung besteht eine grundsätzliche Analogie zwischen Neuanmeldung
und Revision; hier wie dort hat die Verwaltung im Wesentlichen gleich
vorzugehen und treffen sie im Wesentlichen dieselben materiellen Abklärungs-
und Prüfungspflichten (BGE 109 V 115 E. 2b; 117 V 198 E. 3a). Letzteres gilt
im Übrigen auch für ein gestützt auf Art. 87 Abs. 2 IVV von Amtes wegen
eingeleitetes Revisionsverfahren (vgl. E. 5.1 hievor), hat die Verwaltung
doch auch hier gleichermassen zu prüfen, ob die (von ihr für möglich und
daher für näher abklärungsbedürftig gehaltene) Änderung des
Invaliditätsgrades tatsächlich eingetreten ist und, bejahendenfalls, ob die
festgestellte Änderung den Rentenanspruch tatsächlich erheblich beeinflusst.
Diese in der Sache bestehenden Gemeinsamkeiten der Neuanmeldung und der
Rentenrevision legen es nahe, die entscheidende Frage nach der
anspruchserheblichen Änderung des Invaliditätsgrades in sämtlichen
Konstellationen

- sei es im Rahmen der Eintretensfrage nach Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV, sei es
im Rahmen der materiellen Anspruchsbeurteilung - (auch) in zeitlicher
Hinsicht nach denselben Grundsätzen zu prüfen.

  5.3  Was die zeitliche Vergleichsbasis bei der Prüfung der allein
eintretensrechtlich relevanten, hier umstrittenen Glaubhaftmachung einer
anspruchserheblichen Änderung (Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV) im Besonderen
betrifft, fallen folgende Gesichtspunkte ins Gewicht:
  5.3.1  Die in Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV genannte Eintretensvoraussetzung
soll verhindern, dass sich die Verwaltung immer wieder mit gleichlautenden
und nicht näher begründeten, d.h. keine Veränderung des Sachverhalts
darlegenden Rentengesuchen befassen muss (BGE 130 V 76 f. E. 3.2.3; 125 V
412 E. 2b; 117 V 200 E. 4b; 109 V 264 E. 3.2.3). Diesem Zweck kann im
Revisionsverfahren ebenso wie im Neuanmeldungsverfahren nur wirksam Rechnung
getragen werden, wenn sich die versicherte Person das Ergebnis der
letztmaligen materiellen Überprüfung des Rentenanspruchs - mit
rechtsgenüglicher Abklärung des Gesundheitszustands und gesetzeskonformer
Ermittlung des Invaliditätsgrades - im Rahmen eines erneuten
Leistungsgesuchs entgegenhalten lassen muss. Andernfalls nämlich entfällt
nach einem Eintreten mit anschliessender Bestätigung des Rentenanspruchs die
Möglichkeit eines Nichteintretensentscheids für alle weiteren
Revisionsgesuche, zumal der eintretensrechtlich massgebende
Referenzzeitpunkt die ursprüngliche Rentenverfügung bliebe und sich die
versicherte Person immer wieder auf die einmal bejahte Glaubhaftmachung
einer anspruchserheblichen Änderung berufen könnte (vgl. auch E. 5.3.4).

  5.3.2  Soweit die Rechtsprechung gemäss BGE 109 V 265 E. 4a bisher dahin
verstanden wurde, dass "bestätigende" Verfügungen auch dann für den
revisionsrechtlich erheblichen Vergleichszeitraum unbeachtlich bleiben, wenn
ihnen - im Unterschied zu Nichteintretensentscheiden oder Mitteilungen
laufender Rentenzahlungen in Verfügungsform - eine eigentliche, materielle
Anspruchsprüfung voranging, kann daran auch aus Gründen der Gleichbehandlung
nicht festgehalten werden: Der genannte Ansatz führt zum unbefriedigenden
Ergebnis, dass sich eine leistungsansprechende Person eine Verfügung, in
welcher nach materieller Prüfung eine nicht anspruchserhebliche Erhöhung des
Invaliditätsgrades von 40

auf 42 % festgestellt wird, nie entgegenhalten lassen muss, während im
Neuanmeldungsverfahren eine verfügungsweise festgestellte Änderung von 37 %
auf 39 % gestützt auf BGE 130 V 71 stets (neuer) zeitlicher Ausgangspunkt
für die Glaubhaftmachung einer Änderung im Sinne von Art. 87 Abs. 4 IVV in
Verbindung mit Abs. 3 der Bestimmung bildet. Des Weiteren werden
Versicherte, deren letzte materielle Beurteilung des Leistungsanspruchs
zufolge einer Erhöhung des Invaliditätsgrades von beispielsweise 41 % auf 49
% bei einem im Rahmen des Einkommensvergleichs errechneten, abzurundenden
Prozentsatz von 49.4 % zu keiner Rentenanpassung geführt hat, bei einem
erneuten Revisionsgesuch eintretensrechtlich anders behandelt als jene, bei
welchen aufgrund einer ermittelten Steigerung des Invaliditätsgrades von 41
% auf 50 % bei einem im Rahmen des Einkommensvergleichs errechneten und
praxisgemäss aufzurundenden Prozentsatz von 49.6 % (BGE 130 V 122 ff. E.
3.2) eine Anspruchsänderung verfügt worden ist. Es besteht mithin, wie
vorinstanzlich zutreffend erwogen, nicht nur eine Ungleichbehandlung von
Versicherten mit und solchen ohne laufende Rente; auch innerhalb der Gruppe
der Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger wird eine Unterscheidung getroffen,
für welche keine stichhaltigen Gründe ersichtlich sind.

  5.3.3  Werden ferner "materiell bestätigende" Verfügungen bei der
Bestimmung des massgebenden Beurteilungszeitraums generell als unbeachtlich
eingestuft, kommt ihnen in diesem Punkt durchwegs derselbe Stellenwert zu
wie vorangegangenen Nichteintretensverfügungen, was eintretensrechtlich -
wie auch unter dem Gesichtspunkt der materiellrechtlichen Prüfung eines
Revisionsgrundes (auf Gesuch hin oder von Amtes wegen) - nicht überzeugt.
Bei der Rentenrevision im Allgemeinen gilt ebenso wie bei der Neuanmeldung,
dass eine Verfügung, welcher nur geringer Abklärungsaufwand der Verwaltung
vorangeht und die bloss summarisch und in erster Linie formal begründet ist
(Nichteintretensverfügung), unter dem Blickwinkel der Rechtsbeständigkeit
anders zu gewichten ist als eine solche, die auf einer - nach Massgabe des
Untersuchungsgrundsatzes - umfassenden materiellen Anspruchsprüfung beruht.

  5.3.4  Schliesslich befriedigt es, wie das kantonale Gericht richtig
festgehalten hat, auch in prozessualer Hinsicht nicht, dass ein
Rentenbezüger die Rechtsmittelfrist nach einer materiell bloss bestätigenden
Rentenverfügung (im Unterschied zum Versicherten

mit negativem Leistungsentscheid nach Neuanmeldung) ohne grösseren Nachteil
verstreichen lassen kann, weil er das Versäumnis relativ kurze Zeit nach
Ablauf der Rechtsmittelfrist durch erneutes Revisionsgesuch kompensieren
kann (vgl. auch E. 5.3.1 in fine) und lediglich in Kauf zu nehmen hat, dass
eine allfällige Erhöhung der Rente gestützt auf Art. 88bis Abs. 1 lit. a IVV
frühestens ab dem Monat erfolgen würde, in welchem das erneute
Revisionsbegehren gestellt wurde.

  5.4  Nach dem Gesagten hat die Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 71 auch für
die Rentenrevision, sei es auf Gesuch hin oder von Amtes wegen, zu gelten.
Zeitlicher Referenzpunkt für die Prüfung einer anspruchserheblichen Änderung
bildet somit auch hier die letzte (der versicherten Person eröffnete)
rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des
Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung
und Durchführung eines Einkommensvergleichs (bei Anhaltspunkten für eine
Änderung in den erwerblichen Auswirkungen des Gesundheitszustands) beruht;
vorbehalten bleibt die Rechtsprechung zur Wiedererwägung und prozessualen
Revision (BGE 130 V 77 E. 3.2.3).