Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 I 100



Urteilskopf

133 I 100

  11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A.
und Mitb. gegen TDC Switzerland AG, Baukommission der Gemeinde Lindau,
Baurekurskommission III und Verwaltungsgericht des Kantons Zürich
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
  1A.56/2006 / 1P.160/2006 vom 11. Januar 2007

Regeste

  Art. 29 Abs. 2 BV; Anspruch auf rechtliches Gehör, Replikrecht.

  Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist ein Teilaspekt des allgemeinen
Grundsatzes des fairen Verfahrens von Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1
EMRK. Er umfasst das Recht, von jeder dem Gericht eingereichten
Stellungnahme Kenntnis zu nehmen und sich dazu äussern zu können, unabhängig
davon, ob diese neue Tatsachen oder Argumente enthält und ob sie das Gericht
tatsächlich zu beeinflussen vermag. Das auf Art. 29 Abs. 2 BV gestützte
Replikrecht gilt für alle gerichtlichen Verfahren, auch solche, die nicht in
den Schutzbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK fallen (E. 4.3-4.6).

Sachverhalt

  Am 11. Dezember 2003 bewilligte die Baukommission Lindau der TDC
Switzerland AG die Erstellung einer Mobilfunk-Antennenanlage auf dem
Flachdach des Gebäudes Rietstrasse 4 in Tagelswangen (Kat.-Nr. 967),
Gemeinde Lindau.

  Dagegen führte die A. zusammen mit 151 Rekurrenten am 19. Januar 2004
Rekurs an die Baurekurskommission III. Diese wies den Rekurs am 23. März
2005 ab, soweit sie darauf eintrat.

  Gegen den Rekursentscheid erhob die A. zusammen mit 141 weiteren
Beschwerdeführern Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich.
Am 8. Februar 2006 wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde ab, soweit es
darauf eintrat.

  Gegen den verwaltungsgerichtlichen Entscheid haben die A. und die übrigen
Beschwerdeführer am 16. März 2006 Verwaltungsgerichtsbeschwerde und
staatsrechtliche Beschwerde ans Bundesgericht erhoben. Das Bundesgericht
heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut. Auf die staatsrechtliche
Beschwerde tritt es nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

  4.  Zu prüfen ist jedoch, ob der Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss
Art. 29 Abs. 2 BV verletzt wurde, weil den Beschwerdeführern keine
Möglichkeit eingeräumt wurde, sich zur Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin
zu äussern.

  4.1  Im verwaltungsgerichtlichen Verfahren reichte die private
Beschwerdegegnerin am 8. Juni 2005 eine umfangreiche Vernehmlassung

sowie einen Bericht der Forschungsstiftung Mobilkommunikation vom 3. Februar
2004 zur TNO-Studie ein. Die Vernehmlassung wurde den Beschwerdeführern am
21. Juni 2005 zur Kenntnisnahme zugestellt; ein zweiter Schriftenwechsel
wurde nicht angeordnet. Am 16. Dezember 2005 beantragte der Rechtsvertreter
der Beschwerdeführer, sich zu den Stellungnahmen und Akten der Gegenpartei
äussern zu können. Ausserdem ersuchte er um Einsichtnahme in sämtliche Akten
bzw. in all jene Akten, die ihm nicht bereits in einem früheren
Verfahrensstadium zugestellt worden waren. Mit Präsidialverfügung vom 3.
Januar 2006 wurde das Akteneinsichtsbegehren gutgeheissen; dagegen wurde
kein zweiter Schriftenwechsel angeordnet, weil die Beschwerdeantwort der
privaten Beschwerdegegnerin weder neue rechtliche Gesichtspunkte noch neue
tatsächliche Behauptungen enthalte.

  4.2  Unter der Geltung von Art. 4 aBV ergab sich aus dem Anspruch auf
rechtliches Gehör nach ständiger Rechtsprechung keine generelle Pflicht zur
Einräumung eines Replikrechts. Eine Vernehmlassung musste den
Verfahrensbeteiligten nur dann zur Stellungnahme zugestellt werden, wenn
darin neue und erhebliche Gesichtspunkte geltend gemacht wurden, zu denen
die Beteiligten sich noch nicht hatten äussern können (BGE 111 Ia 2 E. 3 S.
3; 114 Ia 307 E. 4b S. 314; 119 V 317 E. 1 S. 323). Ungebetene
Stellungnahmen wurden grundsätzlich aus dem Recht gewiesen.

  4.3  Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (EGMR) umfasst das Recht auf ein faires Verfahren gemäss Art.
6 Ziff. 1 EMRK das Recht der Parteien, von jedem Aktenstück und jeder dem
Gericht eingereichten Stellungnahme Kenntnis zu nehmen und sich dazu äussern
zu können, sofern sie dies für erforderlich halten (Urteil i.S.
Nideröst-Huber gegen Schweiz vom 18. Februar 1997, Recueil CourEDH 1997-I S.
101 ff., Ziff. 24, mit Hinweis auf die Urteile i.S. Lobo Machado gegen
Portugal und Vermeulen gegen Belgique vom 20. Februar 1996, Recueil CourEDH
1996-I S. 206, Ziff. 31 und S. 234, Ziff. 33).

  Unerheblich ist nach der Rechtsprechung des EGMR, ob eine Eingabe neue
Tatsachen oder Argumente enthält und ob sie das Gericht tatsächlich zu
beeinflussen vermag: Es sei Sache der Parteien zu beurteilen, ob ein
Dokument einen Kommentar erfordere; das Vertrauen der Rechtsuchenden in die
Justiz gründe u.a. auf der Gewissheit, sich zu jedem Aktenstück äussern zu
können (Urteil Nideröst-

Huber, a.a.O., Ziff. 27 und 29; vgl. aus jüngster Zeit die Urteile i.S.
Ressegatti gegen Schweiz vom 13. Juli 2006, Ziff. 30-33 und Spang gegen
Schweiz vom 11. Oktober 2005, Ziff. 32 f., Letzteres publ. in: Plädoyer 2005
6 S. 82).

  Wird dem Beschwerdeführer keine Möglichkeit eingeräumt, zu den Bemerkungen
des Beschwerdegegners Stellung zu nehmen, ist nach der Rechtsprechung des
EGMR auch das Prinzip der Waffengleichheit verletzt, das Bestandteil des
Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren ist (Urteil Ressegatti, a.a.O.,
Ziff. 33).

  4.4  Bei der Totalrevision der Bundesverfassung wurden die von der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 4 aBV konkretisierten Teilaspekte
des Verbots der formellen Rechtsverweigerung in einem Verfassungsartikel,
dem heutigen Art. 29 BV, zusammengefasst. In diesen Artikel wurden auch die
allgemeinen Verfahrensgarantien integriert, die sich aus verschiedenen
internationalen Übereinkommen ergeben. Dazu gehört namentlich der in den
Art. 6 EMRK und 14 UNO Pakt II verankerte Grundsatz des fair trial bzw. des
procès équitable und die diesbezügliche Rechtsprechung (Botschaft des
Bundesrats vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I
181 zu Art. 25 E-BV).

  4.5  Nach Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung führte das
Bundesgericht seine Rechtsprechung zum rechtlichen Gehör grundsätzlich fort.
Betont wurde jedoch, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör ein wichtiger
und deshalb eigens aufgeführter Teilaspekt des allgemeinen Grundsatzes des
fairen Verfahrens von Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist (BGE
129 I 85 E. 4.1 S. 88).

  Aus dieser Erkenntnis wurde in verschiedenen nicht veröffentlichten
Entscheiden gefolgert, dass der Rechtsprechung des EGMR zum fair trial auch
bei der Auslegung von Art. 29 Abs. 2 BV Rechnung getragen werden muss.

  So wurde im Urteil 1P.730/2001 vom 31. Januar 2002 (E. 2.1) unter Berufung
auf die Strassburger Rechtsprechung angenommen, dass der Angeschuldigte, der
ein Ausstandsgesuch stellt, Anspruch auf Zustellung und auf Stellungnahme zu
den Vernehmlassungen der Staatsanwaltschaft und des abgelehnten Richters
habe, unabhängig davon, ob diese Eingaben neue und erhebliche Gesichtspunkte
enthalten. Es genüge, wenn der Antrag auf Abweisung des Ausstandsgesuchs in
den Vernehmlassungen gestellt und begründet werde (vgl. auch Urteile
1P.245/2006 vom 12. Juli 2006, E. 2.1, und 1P.337/2006 vom 4. September
2002, E. 2.2).

  Im nicht veröffentlichten Urteil 1P.798/2005 vom 8. Februar 2006 (E. 2),
das ein Baubeschwerdeverfahren betrifft, bejahte das Bundesgericht gestützt
auf Art. 29 Abs. 2 BV einen verfassungsmässigen Anspruch des
Beschwerdeführers auf Stellungnahme zu einer substanziellen
Beschwerdeantwort der Vorinstanz und der privaten Beschwerdegegner. Auch in
diesem Entscheid prüfte das Bundesgericht nicht, ob die Vernehmlassungen der
Vorinstanz und der Beschwerdegegner neue und erhebliche Gesichtspunkte
enthielten, sondern liess es genügen, dass darin Ausführungen zum
Sachverhalt und zur Rechtslage gemacht wurden, die nicht von vornherein
ungeeignet waren, den Verfahrensausgang zu beeinflussen.

  4.6  Dieser Rechtsprechung liegt die Überlegung zugrunde, dass die
Grundsätze des fair trial gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK in Art. 29 Abs. 1 BV
als allgemeine Verfahrensgrundsätze übernommen worden sind und deshalb für
alle gerichtlichen Verfahren gelten.

  Die meisten Gerichtsverfahren unterliegen heute bereits den Garantien von
Art. 6 Ziff. 1 EMRK, die nicht nur auf zivil- und strafrechtliche Verfahren
im engeren Sinne, sondern auch auf zahlreiche Streitigkeiten im Bereich des
Sozialversicherungs- und des Verwaltungsrechts anwendbar sind (vgl. z.B.
MARK E. VILLIGER, Probleme der Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf
verwaltungs- und sozialgerichtliche Verfahren, AJP 1995 S. 163-171; RUTH
HERZOG, Art. 6 EMRK und kantonale Verwaltungsrechtspflege, Bern 1995;
ANDREAS KLEY-STRULLER, Art. 6 EMRK als Rechtsschutzgarantie gegen die
öffentliche Gewalt: Die aktuelle Praxis der Konventionsorgane zur Anwendung
des Art. 6 EMRK in der Verwaltungsrechtspflege: Analysen und Perspektiven,
Zürich 1993). In allen diesen Verfahren sind die Gerichte nach der
Rechtsprechung des EGMR verpflichtet, jede ihnen eingereichte Stellungnahme
den Beteiligten zur Kenntnis zu bringen und diesen Gelegenheit zu geben,
dazu Stellung zu nehmen. Es ist kein Grund ersichtlich, für die
verbleibenden, nicht in den Schutzbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK fallenden
Gerichtsverfahren das rechtliche Gehör restriktiver zu fassen.

  4.7  Im vorliegenden Fall hatte die private Beschwerdegegnerin im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine umfangreiche Vernehmlassung mit
Ausführungen zur Sach- und Rechtslage eingereicht. Nachdem die
Beschwerdeführer eine Stellungnahme hiezu für notwendig erachtet und einen
entsprechenden Antrag bei Gericht gestellt hatten, hätte ihnen dieses Recht
gewährt werden müssen.

  Stattdessen entschied das Verwaltungsgericht mit Präsidialverfügung vom 3.
Januar 2006, dass kein zweiter Schriftenwechsel angeordnet werde. Damit
wurde nicht nur die Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels im engeren
Sinne (mit Replik und Duplik) abgelehnt, sondern auch der Antrag der
Beschwerdeführer vom 16. Dezember 2005 auf Stellungnahme zur Vernehmlassung
der Gegenpartei und damit um Gewährung des rechtlichen Gehörs abgewiesen.

  4.8  Dieser Antrag war allerdings sehr spät, fast sechs Monate nach
Zustellung der Vernehmlassung, gestellt worden. Nach der neueren
bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss der Beschwerdeführer, welcher eine
Stellungnahme zu einer ihm zur Kenntnisnahme zugestellten Vernehmlassung für
erforderlich hält, diese grundsätzlich unverzüglich einreichen oder
beantragen; andernfalls ist davon auszugehen, dass er auf eine Stellungnahme
verzichtet (BGE 132 I 42 E. 3.3.3 und 3.3.4 S. 47; 133 I 98 E. 2.2 S. 99).

  Im vorliegenden Fall war den Beschwerdeführern allerdings die
Beschwerdeantwort mit dem Vermerk zugestellt worden, es sei kein 2.
Schriftenwechsel angeordnet worden. Insofern mussten sie davon ausgehen,
dass eine ungebetene Stellungnahme ihrerseits unerwünscht sei (vgl. Urteil
1P.798/2005 vom 8. Februar 2006, E. 2.3).

  Im Übrigen ist das Verwaltungsgericht auf die Eingabe der Beschwerdeführer
vom 16. Dezember 2005 eingetreten und hat das darin mitenthaltene Gesuch um
Akteneinsicht gutgeheissen. Das Verwaltungsgericht wollte mit der
nachträglichen Aktenzustellung die von den Beschwerdeführern gerügte
Verletzung des Akteneinsichtsrechts im Rekursverfahren heilen. Damit war das
Verfahren im Dezember 2005 noch nicht entscheidungsreif: Das
Verwaltungsgericht musste abwarten, bis die Akteneinsicht erfolgt war und
musste auch mit einer Stellungnahme der Beschwerdeführer zu den neu
eingesehenen Unterlagen rechnen.

  Unter diesen Umständen kann weder ein Verzicht auf das Recht zur
Stellungnahme noch eine Verwirkung desselben angenommen werden.

  4.9  Die beschriebene Verletzung des rechtlichen Gehörs kann im
bundesgerichtlichen Verfahren nicht geheilt werden, wenn - wie im
vorliegenden Fall - nicht nur Rechtsfragen streitig sind, sondern auch
Sachverhaltsrügen erhoben werden, die das Bundesgericht nicht mit freier
Kognition beurteilen kann (vgl. Art. 105 Abs. 2 OG).