Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 IV 293



Urteilskopf

133 IV 293

  43. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen E.,
C. und Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerde in Strafsachen)
  6B_146/2007 vom 24. August 2007

Regeste

  Verfahren bei mangelhafter Sachverhaltsfeststellung.

  Ein Urteil ohne die zur Subsumtion notwendigen tatsächlichen Grundlagen
ist bundesrechtswidrig. Ist ein Sachverhalt in diesem Sinne lückenhaft und
kann deshalb die Gesetzesanwendung nicht nachgeprüft werden, so ist das
angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur ergänzenden
Tatsachenfeststellung und neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen
(E. 3.4).

  Die Einholung einer Stellungnahme der Gegenpartei ist entbehrlich, da bei
der Rückweisung zur Sachverhaltsergänzung der Entscheid in der Sache nicht
präjudiziert wird (E. 3.4.2).

Sachverhalt ab Seite 293

  A.- X. soll am 20. Januar 2003 den sprach- und gehbehinderten A. bei einer
brüsken Drehbewegung zu Fall gebracht haben, wobei dieser sich das
Handgelenk brach.

  In der Nacht vom 4. Mai 2003 arbeitete X. als Türsteher in einem Club in
Gossau. Dabei kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung, bei der B.
Gesichtsverletzungen erlitt.

  Am 9. Oktober 2004 gerieten X. und C. im Gefolge provokativer Fahrmänover
aneinander. Die von C. telefonisch herbeigerufenen D. und E. mischten sich
in den Streit ein. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen X. und E.
Beide wurden verletzt, wobei E. zwei durch ein Sackmesser zugefügte
Stichverletzungen erlitt. Bei dieser Auseinandersetzung soll X. ferner
Beschimpfungen und Todesdrohungen geäussert haben.

  B.- Am 5. September 2005 wurde X. durch das Kreisgericht St. Gallen der
qualifizierten einfachen Körperverletzung, der fahrlässigen Körperverletzung
und der Beschimpfung schuldig erklärt und zu einer Freiheitsstrafe von sechs
Monaten verurteilt. Der Vollzug der Strafe wurde aufgeschoben bei einer
Probezeit von drei Jahren. Vom Vorwurf der Verletzung von B. sowie der
mehrfachen Bedrohung von E. und C. wurde er freigesprochen.

  Als Berufungsgericht bestätigte das Kantonsgericht St. Gallen am 8. Januar
2007 die erstinstanzlichen Schuldsprüche. Zudem befand es X. der einfachen
Körperverletzung zulasten von B. und der Drohung gegenüber E. und C. für
schuldig. Es bestrafte ihn mit 8 Monaten Freiheitsstrafe bei einer Probezeit
von 4 Jahren.

  C.- Dagegen erhebt X. Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die
Aufhebung des angefochtenen Urteils, einen vollumfänglichen Freispruch, die
Herausgabe der beschlagnahmten Gegenstände, die Abweisung der
Zivilforderungen und die Kostenauflage an den Staat. Ferner seien die Kosten
des vorangegangenen Verfahrens anders zu verlegen (Art. 67 BGG) und ihm eine
Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).

  Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.

  3.4
  3.4.1  Unter der Herrschaft des bisherigen Verfahrensrechts wurden
Entscheidungen, die an derartigen Mängeln litten, dass die Gesetzesanwendung
nicht nachgeprüft werden konnte, aufgehoben und die Sache zur ergänzenden
Sachverhaltsfeststellung an die kantonale

Behörde zurückgewiesen (vgl. Art. 277 BStP). Es wurde verlangt, dass die
kantonale Behörde ihre Entscheidung so begründet, dass das Bundesgericht die
Gesetzesanwendung überprüfen kann (vgl. BGE 129 IV 71 E. 1.5). Das
Bundesgericht kann die Rechtsanwendung nur überprüfen, wenn die Vorinstanz
die für die Subsumtion notwendigen tatsächlichen Feststellungen getroffen
hat. Dazu muss das Bundesgericht wissen, welchen Sachverhalt die Vorinstanz
als erwiesen annahm und auf welche rechtlichen Erwägungen es seinen
Entscheid stützte (vgl. ERHARD SCHWERI, Eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde in Strafsachen, Bern 1993, N. 597; MARTIN SCHUBARTH,
Nichtigkeitsbeschwerde 2001, Bern 2001, N. 152).

  3.4.2  Art. 105 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das
Bundesgericht (BGG; SR 173.110) bestimmt unter dem Randtitel "massgebender
Sachverhalt", dass das Bundesgericht seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde
legt, den die Vorinstanz festgestellt hat (Abs. 1). Es kann die
Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder
ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer
Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Abs. 2). Das
Bundesgerichtsgesetz enthält keine explizite Regelung für den Fall
unvollständiger Sachverhaltsfeststellungen durch die Vorinstanz. Eine Art.
277 BStP entsprechende Bestimmung fehlt. Zwar eröffnet Art. 105 Abs. 2 BGG
die Möglichkeit, Sachverhaltsfeststellungen von Amtes wegen zu "ergänzen".
Aus dem Umstand, dass das Bundesgericht Sachverhaltsfeststellungen ergänzen
kann, folgt indes nicht, dass jede Lücke im Sachverhalt durch das
Bundesgericht zu schliessen ist. Aus dem Gesetzestext geht klar hervor, dass
die Sachverhaltsergänzung auf "offensichtlich unrichtige" Feststellungen
begrenzt ist. Es kann insoweit auf die bisherige Rechtsprechung zu den
offenkundig auf Versehen beruhenden Sachverhaltsfeststellungen
zurückgegriffen werden (Art. 277bis Abs. 1 Satz 3 BStP; BGE 121 IV 104 E.
2b). Wie Art. 105 Abs. 1 BGG klarstellt, ist das Bundesgericht grundsätzlich
an den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt gebunden. Als oberste
Recht sprechende Behörde (Art. 1 Abs. 1 BGG) hat das Bundesgericht die
angefochtenen Entscheidungen auf die richtige Rechtsanwendung hin zu
überprüfen. Für ergänzende Tatsachen- und Beweiserhebungen sind die
Sachgerichte zuständig. Art. 105 Abs. 2 BGG verpflichtet das Bundesgericht
somit nicht zur Sachverhaltsergänzung. Ist ein Sachverhalt lückenhaft,
leidet die Entscheidung mit anderen Worten an derartigen Mängeln, dass die
Gesetzesanwendung nicht nachgeprüft

werden kann (vgl. Art. 277 BStP), so ist das angefochtene Urteil auch unter
neuem Recht aufzuheben und die Sache zur ergänzenden Tatsachenfeststellung
und neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2
BGG). Gemäss der Botschaft verletzt die Vorinstanz materielles Bundesrecht,
wenn sie nicht alle relevanten Tatsachen ermittelt, die zu seiner Anwendung
nötig sind (Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege vom 28.
Februar 2001, BBl 2001 S. 4338). Eine Verurteilung ohne die
tatbestandsnotwendigen tatsächlichen Grundlagen ist somit
bundesrechtswidrig. Eine Aufhebung wegen mangelhafter
Tatsachenfeststellungen kann weiterhin ohne Einvernahme der Gegenpartei
erfolgen (vgl. Art. 277 BStP "ohne Mitteilung der Beschwerdeschrift"), da
bei der Rückweisung zur Sachverhaltsergänzung der Entscheid in der Sache
nicht präjudiziert wird.

  3.4.3  Im vorliegenden Fall steht das verletzungsverursachende
Kerngeschehen nicht fest. Mangels Kenntnis der genauen Tatumstände, können
die sich danach richtenden Sorgfaltspflichten und damit auch die richtige
Anwendung der bundesrechtlichen Bestimmung über die Fahrlässigkeit (Art. 12
Abs. 3 StGB) nicht überprüft werden. Dem angefochtenen Urteil fehlen die zur
Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung notwendigen tatsächlichen
Grundlagen, weshalb die Angelegenheit zur ergänzenden
Sachverhaltsfeststellung zurückzuweisen ist.