Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 IV 112



Urteilskopf

133 IV 112

  13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. AG gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden und Eidgenössische Zollverwaltung
sowie Kantonsgericht von Graubünden (Staatsrechtliche Beschwerde und
Nichtigkeitsbeschwerde)
  6P.236/2006 / 6S.555/2006 vom 23. März 2007

Regeste

  Verwaltungsstrafrecht; Verjährung; Einziehungsverfügung.

  Während der Erlass eines Strafbescheids (Art. 64 VStrR) Parallelen zu
einem Strafmandat (Strafbefehl) aufweist, gilt die Strafverfügung (Art. 70
VStrR), der ein Strafbescheid (Art. 64 VStrR) vorangeht,
verjährungsrechtlich als erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 70 Abs.
3 StGB. Somit ist auch eine im Einziehungsverfahren erlassene
Einziehungsverfügung der Verwaltung nach Art. 70 VStrR als erstinstanzliches
Urteil gemäss Art. 70 Abs. 3 StGB zu qualifizieren (E. 9.4.4).

Sachverhalt

  A.- Am 29. Januar 2003 wurde gegen die Firma X. AG mit Sitz in St. Moritz
eine zolldienstliche Untersuchung eröffnet. Diese ergab, dass die X. AG über
500 aus der Wolle der artgeschützten Tibet-Antilope hergestellte Schals
illegal eingeführt und gewerbsmässig verkauft hatte.

  Der Alleininhaber sowie der Geschäftsführer der X. AG wurden (auf
Einsprachen gegen Strafbescheide hin) mit Strafverfügungen der
Eidgenössischen Zollverwaltung, Oberzolldirektion, vom 27. Oktober 2005 zur
Zahlung von Bussen in der Höhe von Fr. 370'000.- bzw. von Fr. 75'000.-
verurteilt. Diese Entscheide erwuchsen in Rechtskraft.

  Mit Einziehungsbescheid vom 27. Oktober 2005 verfügte die
Oberzolldirektion gegenüber der X. AG die Einziehung der am 29. Januar 2003
beschlagnahmten 38 Schals und verpflichtete die X. AG gestützt auf Art. 59
Ziff. 2 Abs. 1 StGB für die nicht mehr in natura vorhandenen Schals zur
Bezahlung einer Ersatzforderung von Fr. 1'025'739.70.

  Die Oberzolldirektion wies die von der X. AG gegen den Einziehungsbescheid
betreffend die Ersatzforderung erhobene Einsprache mit Einziehungsverfügung
vom 4. Januar 2006 grösstenteils ab und legte die Ersatzforderung neu auf
Fr. 1'024'301.30 fest.

  B.- Am 16. Januar 2006 verlangte die X. AG die Beurteilung durch das
Strafgericht. Mit Urteil vom 12. Juli 2006 verpflichtete das Kantonsgericht
des Kantons Graubünden, die X. AG zur Bezahlung einer Ersatzforderung im
Betrag von Fr. 715'676.45. Das Kantonsgericht erwog, soweit weitergehend sei
die Ersatzforderung verjährt.

  C.- Gegen diesen Entscheid führt die X. AG sowohl staatsrechtliche
Beschwerde als auch eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit denen sie je
die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung der Sache zur
Neubeurteilung an die Vorinstanz beantragt.

  Das Kantonsgericht beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen
Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei; bezüglich der
Nichtigkeitsbeschwerde hat sich das Kantonsgericht eines Antrags enthalten.

  Die Oberzolldirektion beantragt die Abweisung beider Beschwerden.

  Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 9

  II. Nichtigkeitsbeschwerde

  9.

  9.1  Die Beschwerdeführerin bringt vor, falls von vorsätzlich begangenen
Anlasstaten auszugehen sei, so finde vorliegend das neue Verjährungsrecht
Anwendung, da dieses für sie vorteilhafter sei.

  9.2  Die Bestimmungen des Strafgesetzbuches betreffend die
Verfolgungsverjährung sind durch das Bundesgesetz vom 5. Oktober 2001, in
Kraft seit 1. Oktober 2002 (AS 2002 S. 2993 und 3146), geändert worden. Sind
die Taten vor diesem Zeitpunkt begangen worden, so bestimmt sich die
Verfolgungsverjährung nach dem bis dahin geltenden Recht, es sei denn, das
neue Recht sei für den Beschuldigten das mildere. Der Grundsatz der "lex
mitior" (Art. 2 Abs. 2 StGB) gilt auch in Bezug auf die Verjährung (BGE 129
IV 49 E. 5.1 mit Hinweis auf BGE 114 IV 1 E. 2a und 105 IV 7 E. 1a).

  Die Verjährung beginnt am Tag, an dem der Täter die Tat ausführt (Art. 71
StGB/aStGB in der Fassung vom 21. Dezember 1937). Art. 28 Ziff. 1 Abs. 1 des
Tierschutzgesetzes vom 9. März 1978 (TSchG; SR 455) stellt insbesondere die
Einfuhr und die Inbesitznahme von Erzeugnissen artgeschützter Tiere unter
Strafe; nicht strafbar sind dagegen der Besitz, das Lagern, das Aufbewahren
und der Verkauf. Für den Verjährungsbeginn ist demnach, wie die Vorinstanz
zutreffend ausgeführt hat, auf den Zeitpunkt der Ankaufsdaten abzustellen.
Diese liegen vor dem 1. Oktober 2002.

  Nach altem, bis zum 30. September 2002 geltenden Recht verjährt das Recht
zur Einziehung grundsätzlich bereits nach fünf Jahren (Art. 59 Ziff. 1 Abs.
3 aStGB in der Fassung vom 18. März 1994), nach dem ab dem 1. Oktober 2002
geltenden Recht dagegen grundsätzlich erst nach sieben Jahren (Art. 59 Ziff.
1 Abs. 3 StGB). Ist jedoch die Verfolgung der strafbaren Handlung einer
längeren Verjährungsfrist unterworfen, so findet diese Frist auch auf die
Einziehung Anwendung; dies gilt sowohl für das alte wie auch für das neue
Recht (Art. 59 Ziff. 1 Abs. 3 StGB/aStGB in der Fassung vom 18. März 1994).
Die allgemeinen Regeln über die Verfolgungsverjährung sind insoweit analog
anwendbar (STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar,
2. Aufl., Zürich 1997, Art. 59 aStGB N. 19).

  9.3
  9.3.1  Eine vorsätzlich begangene Verletzung von Art. 28 Ziff. 1 Abs. 1
TSchG ist ein Vergehen. Nach altem Verjährungsrecht verjähren Vergehen nach
fünf Jahren (Art. 70 Abs. 4 aStGB in der Fassung vom 21. Dezember 1937). Die
Verjährung kann ruhen und unterbrochen werden (Art. 72 Ziff. 1 und 2 aStGB
in der Fassung vom 5. Oktober 1950). Die Strafverfolgung ist in jedem Fall
absolut verjährt, wenn die ordentliche Verjährungsfrist um die Hälfte
überschritten ist. Nach altem Recht beträgt die absolute Verjährungsfrist
somit 71/2 Jahre. Massgeblicher Zeitpunkt ist die Ausfällung des
letztinstanzlichen kantonalen Entscheids (vgl. Art. 72 Ziff. 2 aStGB in der
Fassung vom 5. Oktober 1950). Der angefochtene Entscheid erging am 12. Juli
2006. Demzufolge sind die Taten, die in diesem Zeitpunkt mehr als 71/2 Jahre
zurücklagen, also vor dem 12. Januar 1999 verübt wurden, altrechtlich
absolut verjährt und ist deshalb auch das Recht zur Einziehung der durch
diese Taten erlangten Vermögenswerte verjährt.

  9.3.2  Die Beschwerdeführerin rügt allerdings, die Vorinstanz habe die
einzelnen verjährungsunterbrechenden Handlungen nicht näher belegt, weshalb
im Ergebnis nicht von einer 71/2-jährigen, sondern lediglich von einer
5-jährigen Verjährungsfrist ausgegangen werden könne.

  9.3.3  Die Verjährung wird durch jede Untersuchungshandlung wie namentlich
durch den Erlass eines Hausdurchsuchungsbefehls unterbrochen (Art. 72 Ziff.
2 aStGB in der Fassung vom 5. Oktober 1950). Die ausdrücklich gegen die
Beschwerdeführerin gerichtete Hausdurchsuchung bzw. Beschlagnahme der
gefundenen Schals vom 29. Januar 2003 hat, wie die Vorinstanz zu Recht
festgehalten hat, die Verjährung somit unterbrochen. Diese
Untersuchungshandlungen fanden weniger als fünf Jahre nach dem 12. Januar
1999 statt, so dass die Verjährung ab diesem Zeitpunkt neu zu laufen
begonnen hat (Art. 72 Abs. 3 aStGB in der Fassung vom 5. Oktober 1950).

  9.3.4  Gestützt auf das alte Verjährungsrecht sind folglich die vor dem
12. Januar 1999 begangenen Taten absolut verjährt.

  9.4
  9.4.1  Nach neuem Verjährungsrecht, das kein Ruhen und keine Unterbrechung
mehr kennt, verjähren Vergehen nach sieben Jahren (Art. 70 Abs. 1 lit. c
StGB). Die Verjährung tritt nicht mehr ein, wenn vor Ablauf der
Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil

ergangen ist (Art. 70 Abs. 3 StGB). Die Vorinstanz hat insoweit die
Einziehungsverfügung der Oberzolldirektion vom 4. Januar 2006 als
massgeblich erachtet. Demgemäss wären alle vor dem 4. Januar 1999 begangenen
Handlungen verjährt. Dies bedeutet, dass das alte Verjährungsrecht für die
Beschwerdeführerin das geringfügig mildere wäre (12. Januar 1999 verglichen
mit 4. Januar 1999).

  9.4.2  Die Beschwerdeführerin stellt sich jedoch auf den Standpunkt, die
Einziehungsverfügung der Oberzolldirektion als Verwaltungsbehörde könne
nicht als erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 70 Abs. 3 StGB gelten.
Für die Berechnung der Verjährungsfrist sei vielmehr auf das Urteil der
Vorinstanz vom 12. Juli 2006 abzustellen, weshalb sämtliche vor dem 12. Juli
1999 verübten Taten verjährt seien.

  9.4.3  Art. 70 Abs. 3 StGB will nach seinem Sinn und Zweck verhindern,
dass die Verjährung - je nach der konkreten Ausgestaltung des anwendbaren
Prozessrechts - noch während des Rechtsmittelverfahrens eintreten kann. Die
Botschaft zur Änderung des Strafgesetzbuches hält fest, Ziel der Regelung
sei zu vermeiden, dass Verurteilte, welche auf die Ergreifung eines
Rechtsmittels verzichteten, benachteiligt würden gegenüber solchen, die ihre
Rechte nur deshalb ausübten, um die Verjährung eintreten zu lassen (BBl 1999
S. 1979 ff., 2134 f.). Gestützt auf die Botschaft gelten als
erstinstanzliche Urteile auch Urteile im Abwesenheitsverfahren und
Strafmandate (Strafbefehle), welche weder Gegenstand eines
Rechtsmittelverfahrens noch einer Einsprache waren (BBl 1999 S. 1979 ff.,
2134).

  Die genaue Bedeutung von Art. 70 Abs. 3 StGB war jedoch nicht Gegenstand
der parlamentarischen Beratungen, so dass die Ratsprotokolle keinen
Aufschluss darüber geben, ob namentlich Strafverfügungen im Sinne von Art.
70 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht
(VStrR; SR 313.0) nach dem Willen des Gesetzgebers als erstinstanzliche
Urteile anzusehen sind.

  9.4.4  Der angeschuldigten Person werden im Verwaltungsstrafverfahren
weitgehende Mitwirkungsrechte eingeräumt. Ihr wird insbesondere das
rechtliche Gehör gewährt, sie kann an Beweisaufnahmen teilnehmen (Art. 35
VStrR) und hat ein Akteneinsichtsrecht (Art. 36 VStrR). Gegen einen
Strafbescheid der Verwaltung (Art. 64 VStrR) kann sie - wie vorliegend
geschehen - Einsprache erheben (Art. 67 VStrR). Die Verwaltung hat alsdann
den angefochtenen

Bescheid neu zu überprüfen (Art. 69 Abs. 1 VStrR) und eine Strafverfügung zu
treffen (Art. 70 Abs. 1 VStrR), welche zu begründen ist (Art. 70 Abs. 2
VStrR).

  Jeder Strafverfügung (Art. 70 VStrR) hat damit zwingend ein Strafbescheid
(Art. 64 VStrR) voranzugehen, welcher wie ein Strafmandat (Strafbefehl) auf
summarischer Grundlage getroffen werden kann. Die Strafverfügung dagegen
muss - einem erstinstanzlichen Urteil ähnlich - auf einer umfassenden
Grundlage beruhen und wird in einem kontradiktorischen Verfahren erlassen
(vgl. hierzu MARKUS PETER, Das neue Bundesgesetz über das
Verwaltungsstrafrecht, ZStrR 90/1974 S. 337 ff., 353; JEAN GAUTHIER, La loi
fédérale sur le droit pénal administratif, in: Quatorzième Journée
juridique, Genf 1975, S. 23 ff., 61).

  Während der Erlass eines Strafbescheids (Art. 64 VStrR) somit Parallelen
zu einem Strafmandat (Strafbefehl) aufweist, ist die Strafverfügung (Art. 70
VStrR) nach dem Gesagten im Ergebnis einem gerichtlichen Entscheid
gleichzustellen und demnach unter den Begriff des erstinstanzlichen Urteils
im Sinne von Art. 70 Abs. 3 StGB zu subsumieren. Folgerichtig ist auch eine
im Einziehungsverfahren erlassene Einziehungsverfügung der Verwaltung nach
Art. 70 VStrR als erstinstanzliches Urteil gemäss Art. 70 Abs. 3 StGB zu
qualifizieren.

  9.4.5  Nach dem neuen Verjährungsrecht ist somit das Recht zur Einziehung
verjährt, soweit die Vermögenswerte durch Straftaten erlangt wurden, die im
Zeitpunkt der Einziehungsverfügung der Oberzolldirektion vom 4. Januar 2006
mehr als sieben Jahre zurücklagen, folglich vor dem 4. Januar 1999 begangen
wurden.

  9.5  Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Vorinstanz zu Recht das
alte Verjährungsrecht als das für die Beschwerdeführerin mildere eingestuft
hat - mit der Wirkung, dass die vor dem 12. Januar 1999 verübten Delikte,
d.h. die Ankäufe der Schals, absolut verjährt sind und damit auch das Recht
zur Einziehung der durch diese Handlungen erlangten Vermögenswerte verjährt
ist.