Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 701



Urteilskopf

133 III 701

  97. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen
B. (Beschwerde in Zivilsachen)
  4A_328/2007 vom 23. Oktober 2007

Regeste

  Art. 78 Abs. 2 lit. a BGG; Abgrenzung der Beschwerde in Zivilsachen von
der Beschwerde in Strafsachen.

  Die Beschwerde in Strafsachen steht der Geschädigten zur Durchsetzung
ihrer Zivilansprüche zur Verfügung, wenn die letzte kantonale Instanz sowohl
den Straf- als auch den Zivilpunkt zu beurteilen hatte. War nur noch der
Zivilpunkt strittig, ist die Beschwerde in Zivilsachen zulässig (E. 2.1).

Sachverhalt ab Seite 701

  B. (Beschwerdegegnerin) führte am 18. Dezember 2004, zwischen 1.45 und
2.15 Uhr, in angetrunkenem Zustand ein Fahrzeug. Sie überfuhr damit den auf
der Strasse liegenden, ebenfalls stark alkoholisierten C., den Ehemann von
A. (Witwe, Zivilklägerin, Beschwerdeführerin).

  Das Bezirksgericht Aarau verurteilte die Beschwerdegegnerin am 26. August
2006 wegen fahrlässiger Tötung, Führens eines Motorfahrzeugs in
angetrunkenem Zustand und fahrlässiger Fahrerflucht zu

12 Monaten Gefängnis bedingt sowie zu einer Busse von Fr. 1'500.-. Ausserdem
stellte das Gericht fest, dass die Beschwerdegegnerin für den Schaden
vollumfänglich hafte. Die Beschwerdegegnerin erhob gegen dieses Urteil
kantonale Berufung mit den Anträgen, es sei festzustellen, dass sie der als
Zivilklägerin am Verfahren beteiligten Witwe für den verursachten Schaden
nur zu 75 % hafte, und die Verfahrenskosten seien anders zu verlegen. Das
Obergericht des Kantons Aargau stellte am 5. April 2007 fest, dass die
Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin für den Schaden aus dem
Unfallereignis vom 18. Dezember 2004 zu 80 % hafte. Im Übrigen wurde die
kantonale Berufung abgewiesen.

  Mit Beschwerde vom 24. Mai 2007 stellt die Zivilklägerin das
Rechtsbegehren, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 5. April
2007 sei dahingehend abzuändern, dass die Beschwerdegegnerin ihr mindestens
zu 95 % für den Schaden aus dem Unfallereignis vom 18. Dezember 2004 hafte.
Die Beschwerdegegnerin beantragt in der Antwort, die Beschwerde sei
abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.

  Das Bundesgericht weist die Beschwerde in Zivilsachen ab, soweit es darauf
eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  (...)

  2.1  Nach Art. 78 Abs. 2 lit. a des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über
das Bundesgericht (BGG; SR 173.110) unterliegen der Beschwerde in
Strafsachen auch Entscheide in Zivilsachen, wenn sie zusammen mit der
Strafsache zu behandeln sind. Entsprechend bestimmt der französische
Gesetzestext: "Sont également sujettes au recours en matière pénale les
décisions sur les prétentions civiles qui doivent être jugées en même temps
que la cause pénale". Diese beiden Fassungen sind in zeitlicher Hinsicht
offen formuliert. Sie würden zulassen, auf die Anfechtung des kantonalen
Entscheides beim Bundesgericht abzustellen (vgl. auch Botschaft zur
Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313). Der italienische
Text lautet dagegen: "Al ricorso in materia penale soggiacciono anche le
decisioni concernenti le pretese civili trattate unitamente alla causa
penale". Die italienische Fassung spricht dafür, dass die Beschwerde in
Strafsachen zulässig ist, wenn die letzte kantonale Instanz über den Straf-
wie den Zivilpunkt befunden hat oder hätte befinden müssen.

  Entsprechend dem italienischen Gesetzestext ist für die Zulässigkeit der
Beschwerde in Strafsachen massgebend, dass die letzte kantonale Instanz über
den Straf- und den Zivilpunkt befunden hat oder dies hätte tun müssen. Ist
dagegen im Strafverfahren vor der oberen kantonalen Instanz nur noch der
Zivilpunkt streitig, so ist nicht die Beschwerde in Strafsachen, sondern die
Beschwerde in Zivilsachen gegeben. Denn die Rechtsuchenden müssen wissen,
welches Rechtsmittel sie ergreifen können, und sie haben Anspruch darauf,
dass ihnen die Rechtsmittelfrist in vollem Umfang zur Verfügung steht. Wäre
entscheidend, ob erst im Rechtsmittelverfahren vor Bundesgericht Straf- und
Zivilpunkt zusammen zu behandeln seien, so hätte die Zivilpartei die
Beschwerde in Zivilsachen zu ergreifen, wenn der Strafpunkt nicht
angefochten wird. Sie hätte dagegen Beschwerde in Strafsachen einzureichen,
wenn von einer anderen Partei Beschwerde in Strafsachen erhoben wird, um den
Strafpunkt in Frage zu stellen. Es stünde damit unter Umständen erst nach
Ablauf der 30-tägigen Beschwerdefrist von Art. 100 Abs. 1 BGG fest, welche
Beschwerde der Zivilpartei zur Verfügung steht.

  Die Zulässigkeit eines Rechtsmittels muss im Zeitpunkt der Einreichung
feststehen, nicht erst mit Ablauf der Rechtsmittelfrist. Dies ist nur
gewährleistet, wenn entsprechend dem italienischen Text für die Zulässigkeit
der Beschwerde in Strafsachen darauf abgestellt wird, dass die letzte
kantonale Instanz sowohl über den Straf- wie den Zivilpunkt entschieden hat
oder hätte entscheiden müssen. Auch diese Lösung ist zwar nicht frei von
Inkohärenzen. Die Beschwerde in Zivilsachen ist grundsätzlich nur zulässig,
wenn der Streitwert von Fr. 30'000.- erreicht ist (Art. 74 BGG), während die
Beschwerde in Strafsachen keinen Streitwert voraussetzt. Einer Zivilpartei
steht damit die ordentliche Beschwerde (in Strafsachen) unabhängig von der
Höhe ihrer Forderung offen, wenn im Strafverfahren vor der oberen kantonalen
Instanz auch der Strafpunkt noch umstritten ist. Sie kann sämtliche
zulässigen Rügen im Sinne von Art. 95 und 96 BGG erheben. Wenn vor der
letzten kantonalen Instanz nur noch der Zivilpunkt streitig ist, kann sie
dagegen die Beschwerde in Zivilsachen in der Regel nur ergreifen, wenn ihre
Forderung mehr als Fr. 30'000.- beträgt; sonst steht ihr nur noch die
subsidiäre Verfassungsbeschwerde mit beschränkten Rügen offen (vgl. Art. 116
BGG). Diese Folge vermag zwar sachlich nicht zu überzeugen, ist aber auf die
unterschiedlichen Beschwerdevoraussetzungen zurückzuführen. Die
gesetzgeberische Ungereimtheit bliebe - wenn auch mit anderer Grenzziehung

- bestehen, wenn die Beschwerde in Zivilsachen gemäss dem deutschen und dem
französischen Text dann zu ergreifen wäre, wenn der Strafpunkt im
Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht nicht mehr umstritten ist.

  Die strafrechtliche Abteilung hat aus diesen Gründen erkannt, dass die
Beschwerde in Strafsachen der Zivilpartei nur zur Verfügung steht, wenn die
obere kantonale Instanz (Art. 80 Abs. 1 BGG) sowohl den Strafpunkt wie den
Zivilpunkt zu beurteilen hatte. Dagegen ist die Beschwerde in Zivilsachen
zulässig, wenn die obere kantonale Instanz (Art. 75 Abs. 2 BGG) im
Strafverfahren nur noch über den Zivilpunkt urteilen muss. Die erste
zivilrechtliche Abteilung hat sich dieser Auslegung angeschlossen und die
Beurteilung des vorliegenden Falles übernommen. Das Rechtsmittel ist als
Beschwerde in Zivilsachen entgegen zu nehmen.