Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 512



Urteilskopf

133 III 512

  65. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X.Y. AG
gegen A. (Berufung)
  4C.77/2007 vom 26. Juni 2007

Regeste

  Art. 336 Abs. 2 lit. b OR; Kündigung gegenüber einem gewählten
Arbeitnehmervertreter.

  Voraussetzungen, unter denen sich eine gegenüber einem gewählten
Arbeitnehmervertreter aus wirtschaftlichen Gründen ausgesprochene Kündigung
als zulässig erweist (E. 6).

Sachverhalt ab Seite 512

  A. (Kläger) war vom 1. April 1989 bis zum 30. September 2001 als
Projektleiter bei der B. tätig. Per 1. Oktober 2001 trat er in die im Rahmen
der Entstehung der X. (beziehungsweise des Zusammenschlusses der B. mit
anderen Unternehmen) gegründete X.Y. AG (Beklagte) über. Am 9. Juli 2004
kündigte diese das Anstellungsverhältnis mit dem Kläger auf den 31. Oktober
2004. Mit der Kündigung bot die Beklagte dem Kläger die vorzeitige
Pensionierung nach einem im Zusammenhang mit der Entstehung der X.
vereinbarten Sozialplan an, worauf der Kläger am 1. November 2004
pensioniert wurde. Der Kläger focht die Kündigung mit Blick auf Art. 336
Abs. 2 lit. b OR als missbräuchlich an, da er im Zeitpunkt der Kündigung
Mitglied der Mitarbeitervertretung war. Ausserdem waren sich die Parteien
uneinig über den Umfang der gemäss Sozialplan geschuldeten Leistungen.

  Der Kläger gelangte an das Arbeitsgericht Baden und verlangte von der
Beklagten zusätzliche Leistungen mit Blick auf die vorzeitige Pensionierung
und Fr. 54'366.- als Pönale wegen missbräuchlicher Kündigung. Das
Obergericht des Kantons Aargau, an welches das Verfahren überwiesen wurde,
hiess die Klage mit Bezug auf die gemäss Sozialplan geschuldeten Leistungen
gut und wies die Klage im Übrigen ab. Nachdem die Beklagte dieses Urteil
beim Bundesgericht mit Berufung angefochten hatte, erhob der Kläger
Anschlussberufung und hielt an seiner Entschädigungsforderung wegen
Missbräuchlichkeit der Kündigung fest.

  Das Bundesgericht weist die Anschlussberufung ab, soweit es darauf
eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 6

  6.  Mit der Anschlussberufung macht der Kläger geltend, eine Kündigung
ohne begründeten Anlass sei gegenüber einem Mitglied der Personalvertretung
missbräuchlich. Die Annahme der Vorinstanz, die Kündigung sei im Rahmen des
Restrukturierungsprojektes "MAXI" ausgesprochen worden, beruhe auf einem
offensichtlichen Versehen. Das Projekt "MAXI" sei nämlich erst eine Woche
nach der Erklärung der Kündigung vorgestellt worden. Zudem könne nicht jede
beliebige Veränderung der betrieblichen Struktur des Arbeitgeberbetriebs als
hinreichender Grund für die Kündigung angesehen werden.

  6.1  Nach Art. 336 Abs. 2 lit. b OR ist die Kündigung eines
Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber missbräuchlich, wenn sie
ausgesprochen wird, während der Arbeitnehmer gewählter Arbeitnehmervertreter
in einer betrieblichen oder einer dem Unternehmen angeschlossenen
Einrichtung ist, und der Arbeitgeber nicht beweisen kann, dass er einen
begründeten Anlass zur Kündigung hatte. Diese Bestimmung erlaubt dem
Arbeitgeber, einem gewählten Arbeitnehmervertreter nicht nur aus Gründen,
die dieser selbst gesetzt hat, sondern auch aus rein objektiven Gründen zu
kündigen. Der sachliche Kündigungsschutz gemäss Art. 336 ff. OR knüpft am
Kündigungsmotiv an; er ist vom zeitlichen Kündigungsschutz gemäss Art. 336c
f. OR zu unterscheiden. Art. 336 OR will im Gegensatz zu Art. 336c OR dem
Arbeitgeber keine Sperrfristen auferlegen, sondern verhindern, dass aus
Beweggründen gekündigt wird, welche nach Auffassung des Gesetzgebers
verwerflich sind und deshalb die

Kündigung als missbräuchlich erscheinen lassen. Art. 336 Abs. 2 lit. b OR
richtet sich gegen Kündigungen, die auf blossem Missfallen des Arbeitgebers
an der Tätigkeit beruhen, welche gewählte Arbeitnehmervertreter in
Betriebskommissionen oder ähnlichen Einrichtungen entfalten. Die Umkehr der
Beweislast verstärkt den Schutz, den das Gesetz dem gewählten
Arbeitnehmervertreter gewährt, um ihm eine wirkungsvolle Vertretung von
Arbeitnehmerinteressen zu ermöglichen. Die Vorschriften über den sachlichen
Kündigungsschutz bezwecken keinen Bestandesschutz des Arbeitsverhältnisses
während bestimmter Zeitspannen; sie belegen lediglich den
Kündigungsmissbrauch, d.h. die Kündigung aus verwerflichen Beweggründen mit
Sanktionen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 4C.183/1994 vom 17. November
1994, E. 1 mit zahlreichen Hinweisen auf die unterschiedlichen
Lehrmeinungen, publ. in: Jahrbuch des schweizerischen Arbeitsrechts [JAR]
1995 S. 154 ff.).

  6.2  Da Art. 336 Abs. 2 lit. b OR an das Motiv der Kündigung anknüpft,
muss auch eine Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen grundsätzlich
zulässig sein, soweit kein Zusammenhang mit der Tätigkeit als
Arbeitnehmervertreter besteht (STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 33 zu Art.
336 OR; VISCHER, Der Arbeitsvertrag, in: Schweizerisches Privatrecht [SPR],
Bd. VII/4, 3. Aufl., S. 244). Wenngleich in der Lehre häufig der schlechte
Geschäftsgang oder Arbeitsmangel als Beispiel für eine zulässige, durch
wirtschaftliche Gründe motivierte Entlassung genannt wird (vgl. REHBINDER,
Berner Kommentar, N. 9 zu Art. 336 OR; STAEHELIN, a.a.O., N. 33 zu Art. 336
OR; STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, 6. Aufl., N. 12 zu Art. 336 OR), ist
es entgegen der Auffassung des Klägers nicht notwendig, dass der
Restrukturierungsbedarf durch die schlechte Geschäftslage klar erwiesen ist,
da sonst dem Arbeitgeber verunmöglicht würde, durch frühzeitige
Restrukturierungsmassnahmen schlechte Geschäftslagen zu vermeiden. Soweit in
der Lehre wirtschaftliche Gründe zur Rechtfertigung der Kündigung eines
Arbeitnehmervertreters abgelehnt werden (BRUNNER/BÜHLER/WAEBER/BRUCHEZ,
Kommentar zum Arbeitsvertragsrecht, 3. Aufl., N. 10 zu Art. 336 OR), weil
die Arbeitnehmer gerade in diesen Zeiten auf eine Arbeitnehmervertretung
angewiesen seien, gilt es zu bedenken, dass sich ein überschiessender Schutz
des Arbeitnehmervertreters zu Ungunsten der übrigen Arbeitnehmer auswirken
kann, indem dem Arbeitgeber verunmöglicht würde, die effizientesten und
sozialverträglichsten Massnahmen zu ergreifen, sofern diese den
Arbeitnehmervertreter

beträfen. Praktische Folge davon wäre, dass die Einsparungen an anderer
Stelle durchgeführt würden und allenfalls weniger sozialverträglich wären
oder mehr Personen davon betroffen würden. Um die Missbrauchsvermutung
umzustossen, ist mithin nicht notwendig, dass der Arbeitgeber die
Umstrukturierung zunächst zu Lasten anderer Arbeitnehmer vornimmt (vgl. die
von STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 12 zu Art. 336 OR zitierte kantonale
Rechtsprechung).

  6.3  Der Arbeitgeber darf Optimierungsmassnahmen treffen, ohne dass er
einen schlechten Geschäftsgang abwarten müsste, und er darf die Lohnkosten
dort einsparen, wo es sich als betriebswirtschaftlich besonders sinnvoll
erweist oder am ehesten sozialverträglich abwickeln lässt, auch wenn
Arbeitnehmervertreter davon betroffen sein sollten. In dieser Hinsicht
besteht entgegen der Auffassung des Klägers kein Unterschied zu den übrigen
Arbeitnehmern, da die Regelung grundsätzlich keinen absoluten
Bestandesschutz bezweckt (VISCHER, a.a.O., S. 244). Freilich dürfen die
wirtschaftlichen Gründe nicht bloss vorgeschoben werden, um den
Arbeitnehmervertreter loszuwerden, beispielsweise indem die angeblich
einzusparende Stelle durch eine neueingestellte Person wieder besetzt wird
(vgl. AUBERT, Commentaire romand, N. 13 zu Art. 336 OR). In diesem
Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die durch die
Arbeitnehmervertretung entstehende Zusatzbelastung die Arbeitsleistung
beeinträchtigen kann. Ist die Kündigung auf durch die Arbeitnehmervertretung
bedingten Leistungseinbussen zurückzuführen, ist der gesetzliche
Missbrauchstatbestand erfüllt. Der Nachweis, dass die Stelle des
Arbeitnehmervertreters für Einsparungen im Rahmen einer Rationalisierung
objektiv besonders geeignet erscheint, vermag die Kündigung daher nur zu
rechtfertigen, sofern diese besondere Eignung nicht ihrerseits Folge der mit
der Arbeitnehmervertretung verbundenen Zusatzbelastung ist.

  6.4  Nach den Feststellungen der Vorinstanz war die Funktion des Klägers
dazu geeignet, auf bereits für die Beklagte tätige Angestellte aufgeteilt zu
werden, und die Stelle konnte tatsächlich eingespart werden. Die Vorinstanz
hält weiter fest, dass der Kläger Vorstandsmitglied der
Mitarbeitervertretung der Beklagten gewesen sei, habe für die Kündigung
keine Rolle gespielt. Entsprechendes werde vom Kläger auch nicht behauptet.
Die Vorinstanz hat damit aufgrund einer Beweiswürdigung verneint, dass die
behaupteten wirtschaftlichen Gründe nur vorgeschoben sind. Ebenso steht
fest, dass die Tätigkeit

des Klägers als Arbeitnehmervertreter nicht das Motiv der Kündigung war,
auch nicht indirekt über eine wegen der Arbeitnehmervertretung allenfalls
reduzierte Leistungsfähigkeit. Unter diesen Umständen ist bundesrechtlich
nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz die durch die Entlassung im Rahmen
des Restrukturierungsprogrammes "MAXI" erfolgte Einsparung als einen
begründeten Anlass zur Kündigung im Sinne des Gesetzes gelten liess.
  (...)

  6.6  Die Tatsache, dass der Kläger als Arbeitnehmervertreter tätig war,
lässt die Kündigung unter den gegebenen Umständen nicht als missbräuchlich
erscheinen. Der Missbrauch könnte sich aber auch unabhängig von der Stellung
des Klägers im Betrieb aus der Art der Kündigung ergeben, da den
Feststellungen der Vorinstanz nicht zu entnehmen ist, dass die Beklagte
vorgängig mit dem Kläger das Gespräch gesucht hätte, um allenfalls
alternative Lösungen zu finden. Ein bloss unanständiges, einem geordneten
Geschäftsverkehr unwürdiges Verhalten des Arbeitgebers genügt indessen
nicht, um die Kündigung als missbräuchlich erscheinen zu lassen (BGE 132 III
115 E. 2.3 S. 118 mit Hinweisen). Immerhin kann sich nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts aus der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers unter Umständen
die Pflicht ergeben, nach alternativen Lösungen zu suchen (BGE 132 III 115).
Im zu beurteilenden Fall ist indessen in Rechnung zu stellen, dass die
Beklagte dem Kläger mit der Kündigung einen Sozialplan unterbreitete, und
der Kläger diesen Vorschlag angenommen hat. Die Beklagte hat sich somit
bemüht, die Härte der Kündigung in Absprache mit dem Kläger zu mildern. Wenn
die Vorinstanz vor diesem Hintergrund eine Verletzung der Fürsorgepflicht
und damit die Missbräuchlichkeit der Kündigung verneinte, verletzte sie kein
Bundesrecht. Daher dringt der Kläger mit seiner Anschlussberufung nicht
durch. Ob sich der Kläger missbräuchlich verhält, wenn er einerseits den von
der Beklagten angebotenen Sozialplan annimmt und dennoch die Kündigung als
missbräuchlich anficht, kann dahingestellt bleiben.