Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 133 III 353



Urteilskopf

133 III 353

  41. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen
Verwaltungsgericht des Kantons Aargau (Beschwerde in Zivilsachen)
  5A_173/2007 vom 16. Mai 2007

Regeste

  Art. 397d ZGB; Anrufung des Gerichts bei fürsorgerischer
Freiheitsentziehung.

  Die gerichtliche Beurteilung setzt einzig ein schriftliches Begehren
voraus; eine Begründung ist auch bei anwaltlicher Vertretung nicht
erforderlich (E. 2).

Sachverhalt ab Seite 353

  Die mit bezirksärztlicher Verfügung in die psychiatrische Klinik
eingewiesene X. stellte ein Entlassungsgesuch, welches die ärztliche Leitung
der Klinik abwies. Darauf wandte sie sich mit anwaltlicher Vertretung an das
Verwaltungsgericht des Kantons Aargau und verlangte im Wesentlichen die
sofortige Entlassung, ohne dies im Einzelnen materiell zu begründen.

  Am 23. April 2007 verfügte das Verwaltungsgericht, dass ein
Beschwerdeverfahren nur durchgeführt werde, wenn innert der Beschwerdefrist
eine gültige Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht

werde; bei anwaltlicher Vertretung müsse die Beschwerdeschrift eine
Begründung enthalten, wie dies § 39 Abs. 2 VRPG/AG fordere.

  Dagegen hat X. Beschwerde eingereicht, die vom Bundesgericht gutgeheissen
wird.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Vorliegend geht es einzig um die Frage, ob das Eintreten auf eine
Eingabe, mit der im Sinn von Art. 397d ZGB das Gericht angerufen wird, von
einer materiellen Begründung abhängig gemacht werden darf, wenn die
betroffene Person anwaltlich vertreten ist. Die Beschwerdeführerin verneint
dies und rügt eine Verletzung von Art. 397d und 397f ZGB, ferner von Art. 31
Abs. 4 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK.

  2.1  Die von der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE) betroffene oder
eine ihr nahestehende Person kann gegen den Entscheid über die Unterbringung
oder Zurückbehaltung in einer Anstalt innert zehn Tagen "schriftlich das
Gericht anrufen" (Art. 397d Abs. 1 ZGB). Entsprechende Begehren sind
unverzüglich an das zuständige Gericht weiterzuleiten (Art. 397e Ziff. 3
ZGB).

  Die gerichtliche Beurteilung setzt ein schriftliches Begehren voraus, das
die Formerfordernisse von Art. 13 ff. OR erfüllen muss. Es ist
unterschriftlich zu bezeugen, dass gerichtliche Beurteilung verlangt wird.
Indes ist weder ein formeller Antrag noch eine Begründung erforderlich.
Diese bundesrechtlichen Formvorschriften sind abschliessend; die Kantone
dürfen weder sie verschärfen noch ein mündliches Begehren genügen lassen
(Urteil 1P.793/1991 vom 12. Dezember 1991, E. 4b, publ. in: EuGRZ 1991 S.
526 ff.; GEISER, Basler Kommentar, N. 16 zu Art. 397d ZGB; SPIRIG, Berner
Kommentar, N. 51 und 54 zu Art. 397d ZGB, N. 22 zu Art. 397f ZGB; IMHOF, Der
formelle Rechtsschutz, insbesondere die gerichtliche Beurteilung, bei der
fürsorgerischen Freiheitsentziehung, Diss. Freiburg 1999, S. 149 f. und 152;
SCHERWEY, Das Verfahren bei der vorsorglichen fürsorgerischen
Freiheitsentziehung, Diss. Basel 2004, S. 42; GEISER, Was haben die
Bestimmungen über die fürsorgerische Freiheitsentziehung gebracht?, in:
Patient - Patientenrecht, Genf 1984, S. 188).

  2.2  Die bundesrechtlich vorgegebenen Formerfordernisse sind bewusst
niedrig gehalten und sachlich gerechtfertigt: Zum einen darf

die Anrufung des Richters angesichts der Schwere des Eingriffs und der
häufigen Unbeholfenheit der davon Betroffenen nicht an formellen
Hindernissen scheitern. Zum anderen zeigt die Erfahrung, dass Einweisungs-
wie auch abweisende Entlassungsverfügungen oft kaum begründet sind, was eine
materiell begründete Anfechtung in vielen Fällen verunmöglichen oder
jedenfalls unverhältnismässig erschweren würde. Der Betroffene kann und darf
sich darauf beschränken, den Richter mit einem schriftlichen Ersuchen um
Beurteilung anzurufen. Es ist sodann Sache des zuständigen Gerichts, sich
durch Beizug der einschlägigen Akten sowie persönliche Anhörung des
Betroffenen und gegebenenfalls auch der involvierten Behörden die
notwendigen Entscheidgrundlagen zu verschaffen.

  2.3  Verbietet das Bundesrecht den Kantonen, weitere Formerfordernisse
aufzustellen, gilt dies einerseits auch bei anwaltlicher Vertretung, darf
doch der von FFE-Massnahmen Betroffene nicht allein aus diesem Grund
schlechter gestellt werden, und stösst andererseits der Verweis auf die in §
39 Abs. 2 VRPG/AG vorgeschriebene Begründungserfordernis von vornherein ins
Leere. Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang immerhin
festgehalten, dass Art. 397f Abs. 3 ZGB zwingend die mündliche Einvernahme
der betroffenen Person vorschreibt und damit das FFE-Verfahren im
Unterschied zum verwaltungsrechtlichen bzw. -gerichtlichen
Standardverfahren, das § 39 Abs. 2 VRPG/AG im Auge hat, mündlich ist, womit
die Begründung an der Verhandlung vorgetragen werden kann; überdies ist es
der Sache nach ein erstinstanzliches Verfahren, auch wenn es im Kanton
Aargau formell als Beschwerdeverfahren ausgestaltet ist. Sodann kann die
anwaltliche Verbeiständung mit Blick auf die mündliche Verhandlung
ungeachtet der fehlenden Begründungserfordernis Sinn machen; aus eben diesem
Grund ist die allfällige Bestellung eines Rechtsanwaltes in Art. 397f Abs. 2
ZGB explizit erwähnt.