Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 46



Urteilskopf

132 V 46

  7. Auszug aus dem Urteil i.S. M. gegen Schweizerische Ausgleichskasse und
Eidgenössische Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden
Personen
  H 215/03 vom 28. November 2005

Regeste

  Art. 43ter Abs. 1 AHVG; Art. 2 Abs. 1 HVA; Anhang II zum FZA; Art. 22 Abs.
1 Bst. c und Art. 31 der Verordnung Nr. 1408/71: Orthopädische Anpassung von
Serienschuhen bei Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts.

  Die orthopädische Anpassung von Serienschuhen, nach schweizerischem Recht
ein Hilfsmittel im Sinne von Art. 43ter Abs. 1 AHVG und Art. 2 Abs. 1 der
Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung
(HVA), ist als Leistung bei Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Bst. a und
Titel III Kapitel I der Verordnung Nr. 1408/71 zu qualifizieren. (Erw.
3.2.3)
  In casu kein Anspruch eines in Spanien wohnhaften Bezügers einer Rente der
schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung auf Abgabe des
Hilfsmittels in der Schweiz. (Erw. 4)

Sachverhalt

  A.- M., geboren 1931, war seit Jahren auf die orthopädische Änderung von
Serienschuhen angewiesen, für deren Kosten jeweils die Invalidenversicherung
aufgekommen war. Nach seiner Pensionierung und Wohnsitznahme in Spanien
wollte er wiederum eine Anpassung in der Schweiz vornehmen lassen und
stellte am 28. Juni 2002 ein Gesuch um Übernahme der Kosten. Die
Schweizerische Ausgleichskasse lehnte es mit Verfügung vom 9. Juli 2002 ab
unter Hinweis auf den ausländischen Wohnsitz.

  B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies die Eidgenössische
Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen mit
Entscheid vom 16. Juni 2003 ab.

  C.- M. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und erneuert sein Gesuch um
Kostenübernahme durch die Alters- und Hinterlassenenversicherung.

  Die Schweizerische Ausgleichskasse und das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Gemäss Art. 43ter Abs. 1 AHVG und Art. 2 Abs. 1 der Verordnung über
die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Altersversicherung (HVA) haben nur in
der Schweiz wohnhafte Bezüger von Altersrenten der Alters- und
Hinterlassenenversicherung einen Leistungsanspruch (vgl. auch nicht
veröffentlichtes Urteil W. vom 23. Januar 1989, H 95/88). Es ist
unbestritten, dass der Beschwerdeführer Wohnsitz in Spanien hat. Die
Voraussetzungen für die beantragte Übernahme der Kosten für die
orthopädische Anpassung seiner Schuhe sind daher nach dieser Bestimmung
nicht erfüllt.

Erwägung 3

  3.  Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer gestützt auf das Abkommen
vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits
und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten - darunter
Spanien - andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen; FZA;
SR 0.142.112.681), welches am 1. Juni 2002 in Kraft getreten ist, Anspruch
auf die beantragte Kostenübernahme hat.
  (...)

  3.2
  3.2.1  In zeitlicher Hinsicht sind das FZA und die
Koordinierungsverordnungen anwendbar; denn die Verwaltungsverfügung bezieht
sich auf einen Zeitraum nach In-Kraft-Treten des Abkommens (vgl. Art. 94
Abs. 1 und Art. 95 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71).

  3.2.2  Der in Spanien niedergelassene Beschwerdeführer, der die
schweizerische Staatsangehörigkeit besitzt, war u. a. als Arbeitnehmer (vgl.
Art. 1 Bst. a Ziff. ii erster Gedankenstrich der Verordnung Nr. 1408/71) dem
schweizerischen Sozialversicherungssystem angeschlossen, sodass für ihn die
schweizerischen Rechtsvorschriften galten. Auch der persönliche
Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ist daher erfüllt (Art. 2 Abs.
1 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 von Anhang II
des FZA).

  3.2.3  Was den sachlichen Geltungsbereich der Koordinierungsverordnungen
betrifft, so hat die Zuordnung einer Leistung zu einem der in Art. 4 Abs. 1
der Verordnung Nr. 1408/71 aufgezählten Risiken der sozialen Sicherheit
unabhängig von der im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Abgrenzung
zwischen den verschiedenen Sozialversicherungszweigen auf der Grundlage der
das jeweilige Risiko betreffenden Bestimmungen der Verordnung für alle
betroffenen Staaten einheitlich zu erfolgen (vgl. Urteil des Gerichtshofs
der Europäischen Gemeinschaften [nachfolgend: EuGH] vom 10. Januar 1980 in
der Rechtssache 69/79, Jordens-Vosters, Slg. 1980, 75, Randnrn. 6 und 8).
Dementsprechend kann insbesondere eine innerstaatlich im Alters- oder
Invalidenversicherungsrecht geregelte oder von den Trägern dieser
Versicherungszweige auszuzahlende Leistung gemeinschaftsrechtlich als
Leistung bei Krankheit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Bst. a der Verordnung Nr.
1408/71 zu qualifizieren sein (vgl. Urteile des EuGH vom 10. Januar 1980 in
der Rechtssache 69/79, Jordens-Vosters, Slg. 1980, 75, Randnr. 9, und vom 8.
März 2001 in der Rechtssache C?215/99, Jauch, Slg. 2001, I-1901, Randnrn. 27
und 28).

  Hilfsmittel wie das im vorliegenden Verfahren streitige werden wegen eines
Gesundheitsschadens abgegeben, indem ihr Gebrauch den Ausfall gewisser Teile
oder Funktionen des Körpers ersetzen soll (BGE 115 V 194 Erw. 2c). Sie
beschlagen das Risiko "Krankheit und Mutterschaft" im Sinne von Art. 4 Abs.
1 Bst. a der Verordnung Nr. 1408/71, dem im Titel III der Verordnung Nr.
1408/71 ("Besondere Vorschriften für die einzelnen Leistungsarten") das
Kapitel 1 mit der Überschrift "Krankheit und Mutterschaft" gewidmet ist.
Dieses befasst sich im Gegensatz zum Kapitel 2 betreffend Invalidität
(Urteil des EuGH vom 10. Januar 1980 in der Rechtssache 69/79,
Jordens-Vosters, Slg. 1980, 75, Randnr. 7) und zum Kapitel 3 betreffend
Alter (vgl. Überschrift des Kapitels: "Alter und Tod [Renten]") nicht nur
mit Geld-, sondern auch mit Sachleistungen, zu denen - wie Art. 24 der
Verordnung Nr. 1408/71 zeigt - auch Hilfsmittel zählen (vgl. auch Erwähnung
orthopädischer Massschuhe im Beschluss Nr. 115 der Verwaltungskommission der
Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der
Wanderarbeitnehmer vom 15. Dezember 1982 über die Gewährung von
Körperersatzstücken, grösseren

Hilfsmitteln und anderen Sachleistungen von erheblicher Bedeutung, die unter
Artikel 24 Absatz 2 der Verordnung [EWG] Nr. 1408/71 fallen).

  Somit bezieht sich die orthopädische Änderung von Serienschuhen auf eines
der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten
Risiken. Zudem räumen die einschlägigen Bestimmungen den Begünstigten bei
Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf die
Leistung ein. Die Abgabe des streitigen Hilfsmittels gemäss AHVG stellt
daher eine in den sachlichen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71
fallende Leistung der sozialen Sicherheit (zu diesem Begriff: BGE 131 V 395
Erw. 3.2 mit Hinweisen) in Form einer Leistung bei Krankheit und
Mutterschaft im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Bst. a der Verordnung Nr. 1408/71
dar (vgl. EDGAR IMHOF, Eine Anleitung zum Gebrauch des
Personenfreizügigkeitsabkommens und der VO 1408/71, in: HANS-JAKOB MOSIMANN
[Hrsg.], Aktuelles im Sozialversicherungsrecht, Zürich 2001, 19 ff., 60 und
81). Die Koordinierungsverordnungen sind somit nicht nur in zeitlicher und
persönlicher, sondern auch in materieller Hinsicht anwendbar.

Erwägung 4

  4.

  4.1  Wie sich aus dem vom BSV mit seiner Vernehmlassung eingereichten
Schreiben der Gemeinsamen Einrichtung KVG, Internationale Koordination
Krankenversicherung, vom 27. Mai 2005 ergibt, hat sich der Beschwerdeführer
gemäss Nr. 17 des Schlussprotokolls zum Sozialversicherungsabkommen mit
Spanien von 1969 in Spanien für Sachleistungen bei Krankheit versichert.
Diese Bestimmung gilt nach Art. 7 Abs. 2 Bst. c in Verbindung mit Anhang III
Teil A Spanien-Schweiz Bst. b der Verordnung Nr. 1408/71 in der Fassung
gemäss FZA (Anhang II Abschnitt A Nr. 1 Anpassung i FZA) nach
In-Kraft-Treten des FZA auch im Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71
weiterhin. Gestützt darauf haben die in Spanien wohnenden Bezüger der
verschiedenen von der schweizerischen Gesetzgebung über Soziale Sicherheit
vorgesehenen Renten auf Antrag und gegen Bezahlung der von der zuständigen
spanischen Behörde jährlich festgesetzten Beiträge wie die Bezüger
spanischer Renten Anspruch auf die von der spanischen Gesetzgebung
vorgesehene Übernahme der Kosten für Sachleistungen.

  4.2  Als in Spanien wohnhafter und dort für Sachleistungen bei Krankheit
versicherter Rentner hat der Beschwerdeführer, obwohl er eine Rente der
schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung  bezieht, nur dann -
im Rahmen der Leistungsaushilfe, für Rechnung des spanischen Trägers -
Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Hilfsmittel durch einen
schweizerischen Träger, wenn er die Voraussetzungen entweder des Art. 31
oder des Art. 22 Abs. 1 Bst. c (in Verbindung mit Abs. 2 Unterabs. 2) der
Verordnung Nr. 1408/71 erfüllt. Nach beiden Vorschriften werden die
Sachleistungen vom Träger des Aufenthaltsorts gewährt und diesem vom Träger
des Wohnorts erstattet (Art. 36 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit
Art. 93 der Verordnung Nr. 574/72).

  4.2.1  Art. 31 der Verordnung Nr. 1408/71 regelt den Anspruch von Rentnern
auf Sachleistungen, wenn diese während eines Aufenthalts in einem
Mitgliedstaat, der nicht der Staat ihres Wohnorts ist, erforderlich werden.
Der in Art. 31 der Verordnung Nr. 1408/71 garantierte Anspruch auf
Sachleistungen ist nicht Personen vorbehalten, deren Zustand unverzüglich
Leistungen während ihres Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat
erfordert, d. h. nicht auf die Leistungen beschränkt, deren unverzügliche
medizinische Notwendigkeit festgestellt worden ist und die somit nicht bis
zur Rückkehr des betroffenen Rentners in seinen Wohnstaat aufgeschoben
werden könnten. Er ist auch nicht auf die Fälle beschränkt, in denen die
gewährte Sachleistung durch eine plötzliche Erkrankung erforderlich wurde;
insbesondere reicht der Umstand, dass die durch die Entwicklung des
Gesundheitszustands des Rentners während seines vorübergehenden Aufenthalts
in einem anderen Staat erforderliche Sachleistung möglicherweise mit einer
bestehenden und dem Versicherten bekannten Krankheit - etwa einer
chronischen Erkrankung - zusammenhängt, nicht aus, um den Betroffenen an der
Inanspruchnahme des Art. 31 der Verordnung Nr. 1408/71 zu hindern. Der Bezug
von Sachleistungen, die Art. 31 der Verordnung Nr. 1408/71 den Rentnern
garantiert, die sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten als dem, in
dem sie wohnen, hängt demnach nicht davon ab, dass die Krankheit, die der
betreffenden Sachleistung bedurfte, plötzlich während dieses Aufenthalts
aufgetreten ist und die unverzügliche Versorgung erforderlich gemacht hat.
Wenn jedoch der Bezug von Sachleistungen ausserhalb des Wohnstaats von der
betroffenen Person geplant

war und deren Aufenthalt von vornherein dem Zweck des Bezugs dieser
Sachleistungen dienen sollte, ist nicht Art. 31, sondern Art. 22 Abs. 1 Bst.
c (in Verbindung mit Abs. 2 Unterabs. 2) der Verordnung Nr. 1408/71
anzuwenden (vgl. Urteil des EuGH vom 25. Februar 2003 in der Rechtssache
C-326/00, IKA, Slg. 2003, I-1703, Randnrn. 26, 28, 40, 41 und 63; dazu Erw.
3.2.2).

  Aus Art. 31 dieser Verordnung lässt sich kein Anspruch des
Beschwerdeführers auf Sachleistungen eines schweizerischen Trägers ableiten.
Denn indem der Betroffene erklärte, er werde auch weiterhin beim Aufenthalt
in der Schweiz den bisherigen Schuhmacher konsultieren, brachte er zum
Ausdruck, dass die Aufenthalte in der Schweiz jeweils auch der Beschaffung
des streitigen Hilfsmittels dienten und der Bezug von Sachleistungen während
des Aufenthalts in der Schweiz damit geplant war. Anders verhielte es sich
nur, wenn im Einzelfall die Schuhe gerade während eines Aufenthalts in der
Schweiz kaputt gegangen wären, was sich aber prospektiv nicht beurteilen
lässt. Hier ging es denn auch nicht um die nachträgliche Übernahme von
Kosten, sondern der Beschwerdeführer reichte der Ausgleichskasse ein
ärztliches Zeugnis ein zum Nachweis, dass er - wie schon früher -
orthopädische Änderungen seiner Schuhe benötigen werde.

  4.2.2  Art. 22 Abs. 1 Bst. c Ziff. i (in Verbindung mit Abs. 2 Unterabs.
2) der Verordnung Nr. 1408/71 regelt den Anspruch auf Sachleistungen von
Rentnern, die in einem Mitgliedstaat wohnen und beim "zuständigen" Träger -
hier dem Träger des Wohnorts - die Genehmigung beantragen, sich in das
Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine ihrem Zustand
angemessene Behandlung zu erhalten (vgl. Urteil des EuGH vom 3. Juli 2003 in
der Rechtssache C?156/01, Van der Duin und ANOZ Zorgverzekeringen, Slg.
2003, I?7045 [v. a. Randnr. 36 mit Hinweisen]).

  Da keine Genehmigung eines spanischen Trägers vorliegt, kann der
Beschwerdeführer auch aus Art. 22 Abs. 1 Bst. c der Verordnung Nr. 1408/71
keinen Sachleistungsanspruch gegen einen schweizerischen Träger ableiten.

  4.3  Auch nach den Bestimmungen des FZA besteht damit gegenüber der
Schweizerischen Ausgleichskasse kein Anspruch auf die beantragte Erstattung
der Kosten für die orthopädische Anpassung der Schuhe in der Schweiz. Im
Ergebnis sind daher der angefochtene

Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission und die Verfügung der
Schweizerischen Ausgleichskasse vom 9. Juli 2002 zu bestätigen.