Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 V 27



Urteilskopf

132 V 27

  4. Auszug aus dem Urteil i.S. J. gegen Schweizerische Mobiliar
Versicherungsgesellschaft und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
  U 325/05 vom 5. Januar 2006

Regeste

  Art. 40 Satz 1 UVG (in Kraft gewesen bis 31. Dezember 2002); Art. 51 Abs.
3 UVV; Art. 69 Abs. 2 ATSG: Überentschädigungsberechnung; Globalrechnung.

  Es ist grundsätzlich zulässig, schon vor Erlöschen des Taggeldanspruchs
eine bereits eingetretene Überentschädigung festzustellen und die bis zu
diesem Zeitpunkt zu viel bezahlten Taggeldleistungen zurückzufordern. Danach
sind Taggelder der Unfallversicherung  auszurichten, welche höchstens der
auf einen Kalendertag umgerechneten Differenz zwischen dem mutmasslich
entgangenen Verdienst und den Rentenleistungen der Invalidenversicherung
betragen. Führen Änderungen der Berechnungsfaktoren zu einem höheren
Taggeld, ist dieses entsprechend zu erhöhen. Nach Ablauf der Bezugsdauer ist
eine (definitive) globale Überentschädigungsberechnung durchzuführen.
(Präzisierung der Rechtsprechung; Erw. 3.1)
  Art. 39 UVG; Art. 49 f. UVV: Leistungskürzung und
Überentschädigungsberechnung.

  Eine Leistungskürzung ist schon bei der Überentschädigungsberechnung
selber zu berücksichtigen. Es widerspricht dem Gesetz, eine allfällige
Überentschädigung bei ungekürztem Taggeld der Unfallversicherung zu
ermitteln und erst den daraus resultierenden Betrag zu kürzen. (Erw. 3.2)

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

  3.  Gemäss Art. 40 Satz 1 UVG (in Kraft gewesen bis 31. Dezember 2002)
werden, wenn keine andere Koordinationsregel dieses Gesetzes eingreift,
Geldleistungen, ausgenommen Hilflosenentschädigungen, soweit gekürzt, als
sie mit den anderen Sozialversicherungsleistungen zusammentreffen und den
mutmasslich entgangenen Verdienst übersteigen. Nach Art. 51 Abs. 3 Satz 1
UVV entspricht der mutmasslich entgangene Verdienst jenem Verdienst, den der
Versicherte ohne schädigendes Ereignis erzielen würde. Art. 40 UVG ist
insbesondere anwendbar, wenn Taggelder

der Unfallversicherung mit Rentenleistungen der Invalidenversicherung
zusammentreffen (BGE 126 V 194 oben mit Hinweisen).

  Vorliegend hat die Schweizerische Mobiliar Versicherungsgesellschaft eine
globale Überentschädigungsberechnung für die Zeit vom 16. Juni 2000 bis 30.
November 2002 unter Berücksichtigung der Leistungen der
Invalidenversicherung (ganze Rente samt Zusatzrente für die Ehefrau und zwei
Kinderrenten ab 1. Juni 2001) durchgeführt. In der Verfügung vom 5. Mai 2003
wies der Unfallversicherer darauf hin, dass ab 1. Dezember 2002 allfällige
Taggeldleistungen auf der Basis des koordinierten Taggeldes der
Unfallversicherung von Fr. 33.55 erbracht würden. Das entsprach der auf
einen Kalendertag umgerechneten und danach um 50 % gekürzten Differenz
zwischen dem mutmasslich entgangenen Verdienst und den Rentenleistungen der
Invalidenversicherung ([[Fr. 67'439.-/365] - [Fr. 42'960.-/365]]/2 = Fr.
33.525). Im Einspracheentscheid vom 9. September 2003 wurde das koordinierte
Taggeld der Unfallversicherung auf Fr. 33.50 festgesetzt.

  3.1  Die vorinstanzlich bestätigte Vorgehensweise der Mobiliar
widerspricht an sich der Rechtsprechung, sollten auch nach dem 30. November
2002 weiterhin Unfalltaggelder ausgerichtet worden sein. Danach ist eine
allfällige Überentschädigung durch eine Globalrechnung über die gesamte
Periode des Taggeldbezugs zu ermitteln (BGE 117 V 395 ff. Erw. 3 mit
Hinweis). Die Berechnung ist in der Regel frühestens vorzunehmen, wenn das
Ende der Taggeldleistungen feststeht und ein Rückforderungsanspruch
feststellbar ist (RKUV 2000 Nr. U 376 S. 182 Erw. 2b [Urteil vom 27.
Dezember 1999, U 96/99]).

  Indessen ist Folgendes zu beachten: Mit der globalen Abrechnung für die
gesamte Bezugsdauer soll ein sachlich gerechtfertigter Ausgleich zwischen
Perioden mit unterschiedlichen Einkommensverhältnissen gewährleistet werden.
Eine Aufteilung in verschiedene Abrechnungsperioden hätte in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle eine Benachteiligung der Versicherten zur
Folge. Es kommt dazu, dass sich die Einteilung der Zeitabschnitte auf keine
zuverlässigen Kriterien stützen könnte und insofern weitgehend willkürlichen
Charakter hätte. Ein solches Vorgehen würde daher auch die Grundsätze der
Rechtsgleichheit und der Rechtssicherheit gefährden (BGE 117 V 395 Erw. 3a
mit Hinweis). Sinn und Zweck der globalen Überentschädigungsberechnung nach
Ablauf

der Taggeldbezugsdauer kann jedoch nicht sein, dass in diesem (späten)
Zeitpunkt die zu viel ausgerichteten Taggeldleistungen von unter Umständen
beträchtlichem Umfang rückerstattet werden müssen. Dies liegt weder im
Interesse der versicherten Person noch des Unfallversicherers. Es muss daher
schon vor Erlöschen des Taggeldanspruchs (Art. 16 Abs. 2 UVG) grundsätzlich
möglich sein, eine bereits eingetretene Überentschädigung festzustellen und
die bis zu diesem Zeitpunkt zu viel ausbezahlten Taggeldleistungen
zurückzufordern, soweit zulässig allenfalls durch Verrechnung mit den
Leistungen der Invalidenversicherung. Danach sind konsequenterweise
Unfallversicherungs-Taggelder auszurichten, welche höchstens der auf einen
Kalendertag umgerechneten Differenz zwischen dem mutmasslich entgangenen
Verdienst und den Rentenleistungen der Invalidenversicherung betragen.
Führen Änderungen der Berechnungsfaktoren (mutmasslich entgangener
Verdienst, Renten der Invalidenversicherung, Grad der Arbeitsunfähigkeit) zu
einem höheren Taggeld, ist dieses entsprechend zu erhöhen. Nach Ablauf der
Bezugsdauer ist eine (definitive) globale Überentschädigungsberechnung
durchzuführen. Ein solches Vorgehen ist zulässig. In diesem Sinne ist die
Rechtsprechung (BGE 117 V 394 Erw. 3a und RKUV 2000 Nr. U 376 S. 182 Erw. 2b
[Urteil vom 27. Dezember 1999, U 96/99]) zu präzisieren.

  Das Vorgehen der Mobiliar ist somit grundsätzlich nicht zu beanstanden.
Die Überentschädigungsberechnung für die Zeit vom 16. Juni 2000 bis 30.
November 2002 gemäss Verfügung vom 5. Mai 2003 und Einspracheentscheid vom
9. September 2003 ist jedoch fehlerhaft, wie die nachstehenden Ausführungen
zeigen.

  3.2  Die Kürzung um 50 % der Differenz zwischen dem mutmasslich
entgangenen Verdienst und den Rentenleistungen der Invalidenversicherung ist
in der vorinstanzlichen Beschwerde beanstandet worden. Es fehle hiefür die
gesetzliche Grundlage. Das kantonale Gericht hat dem entgegengehalten,
Gesetz und Verordnung (Art. 39 UVG und Art. 49 f. UVV) sprächen
übereinstimmend und ohne Einschränkung davon, dass "Geldleistungen" gekürzt
würden. Darunter fielen offensichtlich auch Geldleistungen der
Unfallversicherung, welche mit Leistungen anderer Sozialversicherer
koordiniert seien. Die Kürzung lediglich des infolge Koordination
verminderten Taggeldes falle im Übrigen betragsmässig geringer aus als ohne
Koordination.

  Aus dem Gesetz ergibt sich klar, dass gegebenenfalls sowohl eine Kürzung
aufgrund von aussergewöhnlichen Gefahren und Wagnissen (Art. 39 UVG) als
auch eine Reduktion wegen Überentschädigung (alt Art. 40 UVG bzw. neu Art.
69 ATSG) vorzunehmen ist. Hingegen regelt das Gesetz nicht ausdrücklich, ob
zunächst die Kürzung nach Art. 39 UVG vorzunehmen und bloss die gekürzte
Geldleistung in die Überentschädigungsberechnung einzubeziehen sei oder ob
zuerst bei ungekürzter UVG-Geldleistung die Überentschädigungsrechnung
vorzunehmen und erst der resultierende Betrag nach Art. 39 UVG zu kürzen sei
(vgl. FRÉSARD/ MOSER-SZELESS, Refus, réduction et suspension des prestations
de l'assurance-accidents: état des lieux et nouveautés, in: HAVE 2005 S. 127
ff., 134 f.). Die Vorinstanz und die Beschwerdegegnerin sind von der zweiten
Lösung ausgegangen. Diese lässt sich mit der Überlegung rechtfertigen, dass
der Versicherte, der ein zur Kürzung führendes Fehlverhalten begangen hat,
nicht aus koordinationsrechtlichen Gründen den Konsequenzen dieses
Fehlverhaltens soll entgehen können. Sie könnte auch e contrario damit
begründet werden, dass - anders als in Bezug auf die Komplementärrenten
(Art. 31 Abs. 4 UVV) - in Bezug auf die Taggelder nicht ausdrücklich
festgehalten ist, worauf die Kürzung nach Art. 39 UVG vorzunehmen ist.
Indessen sprechen gewichtige Argumente für die gegenteilige Ansicht,
namentlich die Systematik des Gesetzes: alt Art. 40 UVG betrifft das
Zusammenwirken von UVG-Geldleistungen mit Leistungen anderer
Sozialversicherungen. Dies setzt voraus, dass zunächst die Leistung nach
UVG-interner Regelung (wozu auch Art. 39 UVG gehört) ermittelt und erst
anschliessend die so festgelegte Leistung in die
Überentschädigungsberechnung einbezogen wird. Dieses Vorgehen führt in
vielen Fällen dazu, dass das Taggeld der Unfallversicherung schliesslich
höher ausfällt als nach dem von der Beschwerdegegnerin und der Vorinstanz
gewählten Vorgehen. Dies bedeutet aber keine unzulässige Bevorzugung des
Versicherten zu Lasten des Unfallversicherers: Dieser muss in jedem Fall
maximal das nach den Regeln von Art. 39 UVG gekürzte Taggeld bezahlen, bloss
fällt die weitergehende koordinationsrechtliche Reduktion des Taggeldes
allenfalls geringer aus. Dies kann entgegen der von der Beschwerdegegnerin
vorinstanzlich vertretenen Auffassung nicht als ungerechtfertigte, vom
Gesetzgeber nicht gewollte Bevorzugung
des koordinierten Leistungsbezügers betrachtet werden: Es ergibt

sich einfach daraus, dass das IVG den Kürzungstatbestand von Art. 39 UVG
nicht kennt, was zwangsläufig zur Folge hat, dass derjenige, der eine Rente
nach IVG erhält, im Falle einer aussergewöhnlichen Gefahr oder eines
Wagnisses besser gestellt ist als derjenige, der einzig Leistungen nach UVG
erhält. Dies ist gesetzlich gewollt. Insgesamt ergibt sich aus diesen
Überlegungen, dass entgegen der vorinstanzlichen Betrachtung zuerst die
Leistungskürzung nach Art. 39 UVG bzw. Art. 49 UVV vorzunehmen und erst
anschliessend dieser gekürzte Betrag in der Überentschädigungsberechnung zu
berücksichtigen ist.

  Vorliegend betrüge bei im Übrigen unveränderten Bemessungsfaktoren das um
50 % gekürzte Taggeld der Unfallversicherung Fr. 72.45 ([0,8 x [Fr.
66'111.-/365]]/2). Dies ist mehr als die auf den Kalendertag umgerechnete
Differenz zwischen mutmasslich entgangenem Verdienst und Rentenleistungen
der Invalidenversicherung von Fr. 67.05. Das koordinierte Taggeld der
Unfallversicherung ab 1. Dezember 2002 beliefe sich somit auf Fr. 67.05 und
nicht bloss auf Fr. 33.50.