Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 III 778



Urteilskopf

132 III 778

  93. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. G. GmbH gegen A. AG
und B. AG (Berufung)
  4C.210/2006 vom 23. Oktober 2006

Regeste

  Art. 2 Abs. 1 und 5 Ziff. 3 LugÜ; örtliche Zuständigkeit bei negativer
Feststellungsklage.

  Nach Art. 2 Abs. 1 LugÜ ist unabhängig davon, ob der Ansprecher eine
Leistungsklage oder der Anspruchsgegner eine negative Feststellungsklage
erhebt, der Wohnsitz des Beklagten massgebend für die örtliche
Zuständigkeit. Es bedarf ganz besonderer Umstände, um von der zentralen
Anknüpfung an den Wohnsitz bzw. Sitz des im Verfahren formell Beklagten
abzuweichen, die im vorliegenden Fall nicht gegeben sind (E. 2). Für die
Feststellung der Verletzung ausländischer Patente besteht keine
Zuständigkeit der inländischen Gerichte am Deliktsort nach Art. 5 Ziff. 3
LugÜ, da der Erfolgsort nur im Staat, für den das Patent erteilt wurde,
liegen kann und der inländische Handlungsort nicht die erforderliche
besondere Nähe zum Streitgegenstand aufweist (E. 3).

Sachverhalt

  A.- Die A. AG (Klägerin 1) und die B. AG (Klägerin 2) sind in Zürich
domiziliert, die C. GmbH (Klägerin 3), die D. GmbH (Klägerin 4), die E. GmbH
(Klägerin 5) und die F. AG (Klägerin 6) sind in Deutschland ansässig. Die
Klägerinnen stellen das Produkt M. her oder vertreiben es.

  Die G. GmbH (Beklagte) hat ihren Sitz in Deutschland. Sie ist Inhaberin
des europäischen Patents X. Sie beansprucht dieses Patent für mehrere
Vertragsstaaten.

  B.- Am 25. Mai 2005 stellten die Klägerinnen beim Handelsgericht des
Kantons Zürich folgende Rechtsbegehren:

   "1. Der schweizerische Teil des europäischen Patents X. sei nichtig zu
       erklären,

       eventualiter sei gerichtlich festzustellen, dass die Klägerinnen mit
       dem Produkt M. den schweizerischen Teil des europäischen Patents X.
       der Beklagten nicht verletzen oder verletzt haben.

    2. Es sei gerichtlich festzustellen, dass die Klägerinnen mit dem
       Produkt M. weder den deutschen noch den französischen Teil des
       europäischen Patents X. verletzen oder verletzt haben,

       insbesondere weil

       a) das beklagtische Patent X. ungültig oder nicht durchsetzbar ist; oder

       b) das Herstellen, Feilhalten, Vertreiben und in Verkehr bringen des
          Produktes M. durch die Klägerinnen weder in der Schweiz noch im
          Ausland das europäische Patent der Beklagten verletzt oder verletzt
          hat.

    3. Es sei gerichtlich festzustellen, dass der Beklagten gegenüber den
       Klägerinnen keinerlei durchsetzbare Forderungen, insbesondere weder
       Schadenersatz-, Gewinnherausgabe- oder Genugtuungsansprüche im
       Zusammenhang mit dem klägerischen Produkt M. oder mit den
       beklagtischen Patenten oder Patentanteilen zustehen."

  Die Beklagte schloss auf Nichteintreten bzw. Abweisung der Klage und erhob
Widerklage im Wesentlichen mit den Rechtsbegehren, es sei den Klägerinnen 1,
2 und 5 zu verbieten, in der Schweiz bestimmte Produkte, insbesondere die
unter der Bezeichnung M. vertriebenen, herzustellen, anzubieten, zu
verkaufen oder anderweitig in Verkehr zu bringen, in die Schweiz einzuführen
sowie aus der Schweiz auszuführen oder zu solchen Handlungen Dritter
anzustiften, bei ihnen mitzuwirken oder ihre Begehung zu begünstigen, und
die Klägerinnen 1, 2 und 5 seien für entsprechend patentverletzende
Handlungen zur Rechnungslegung sowie zu Schadenersatz oder Gewinnherausgabe
zu verpflichten.

  Auf Antrag der Beklagten beschränkte das Handelsgericht das Verfahren mit
Verfügung vom 30. September 2005 vorerst auf die Frage der örtlichen
Zuständigkeit bzw. des Rechtsschutzinteresses.

  C.- Mit Beschluss vom 3. April 2006 trat das Handelsgericht auf die Klage
der Klägerinnen 1 und 2 ein (Ziffer 1a); auf die Klage der Klägerinnen 3, 4
und 6 trat es nicht ein (Ziffer 1b). Auf die Klage der Klägerin 5 wurde
bezüglich Rechtsbegehren 1 eingetreten, bezüglich Rechtsbegehren 2 nicht
eingetreten und bezüglich Rechtsbegehren 3 insoweit eingetreten, als es um
Forderungen aus Verletzung des schweizerischen Teils des Streitpatents geht,
und nicht eingetreten insoweit, als es um Forderungen aus Verletzung
ausländischer Teile des Streitpatents geht. Das Gericht führte aus, dass das
LugÜ zur Anwendung gelangt. Zum Rechtsbegehren 1 stellte das Gericht fest,
dass die Klägerinnen 3, 4 und 6 in der Schweiz am

Markt nicht aufträten und auch nicht behaupteten, dass sie dies
beabsichtigten, weshalb sie kein Rechtsschutzinteresse an der beantragten
Feststellung der Patentnichtigkeit hätten. Die örtliche Zuständigkeit zur
Beurteilung des Rechtsbegehrens 2 bejahte das Gericht für die Klägerinnen 1
und 2 mit der Begründung, sie hätten ihren Sitz in der Schweiz und Art. 2
LugÜ schütze nicht den formell, sondern den materiell Beklagten. Die
Zuständigkeit nach Art. 5 Ziff. 3 LugÜ verneinte das Gericht mit der
Begründung, die Klägerinnen 1 und 2 könnten sich darauf nicht berufen, weil
sie ihren Sitz in der Schweiz haben und die Klägerinnen 3-6 nicht, weil die
Verletzung ausländischer Patente zur Diskussion stehe. Die Zuständigkeit
gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 LugÜ, auf die sich die Klägerinnen 3-6 beriefen,
verneinte das Gericht. Für das Rechtsbegehren 3 bejahte das Gericht die
Zuständigkeit nach Art. 5 Ziff. 3 LugÜ insoweit, als es um die Verletzung
des schweizerischen Teils des europäischen Patents geht, wobei es das
Feststellungsinteresse nur für die Klägerinnen 1, 2 und 5 bejahte. Aus Art.
2 LugÜ bejahte das Gericht die örtliche Zuständigkeit für die Klägerinnen 1
und 2 sowohl für Ansprüche aus Verletzung des schweizerischen als auch aus
Verletzung ausländischer Teile des Streitpatents.

  D.- Gegen den Beschluss des Handelsgerichts des Kantons Zürich vom 3.
April 2006 hat die Beklagte Berufung eingereicht. Sie stellt den Antrag, es
sei Dispositiv-Ziffer 1a des angefochtenen Entscheides aufzuheben und auf
die Klage der Klägerinnen 1 und 2 bezüglich Rechtsbegehren 1 einzutreten,
bezüglich Rechtsbegehren 2 nicht einzutreten und bezüglich Rechtsbegehren 3
insoweit einzutreten, als es um Forderungen aus Verletzung des
schweizerischen Teils des Streitpatents geht, und nicht einzutreten
insoweit, als es um Forderungen aus Verletzung ausländischer Teile des
Streitpatents geht. Sie rügt, die Vorinstanz habe den Gerichtsstand für die
Verletzung des deutschen und französischen Teils des Patents X. der
Beklagten zu Unrecht bejaht.

  Die Klägerinnen 1 und 2 beantragen die Abweisung der Berufung der
Beklagten, soweit darauf einzutreten ist.

  Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.  Die Vorinstanz hat ihre Zuständigkeit zur Beurteilung des
Rechtsbegehrens 2 für die in der Schweiz domizilierten Klägerinnen 1 und 2

mit der Begründung bejaht, die Klägerinnen könnten sich zur Begründung der
örtlichen Zuständigkeit auf ihren eigenen Wohnsitz berufen, da sie eine
negative Feststellung verlangten und sich der umstrittene Anspruch daher
materiell gegen sie richte, was die Zuständigkeit am allgemeinen
Wohnsitzgerichtsstand der Klägerin nach Art. 2 LugÜ begründe. Das
Handelsgericht verneinte dabei vorweg, dass die ausschliessliche
Zuständigkeit nach Art. 16 Ziff. 4 LugÜ auf das Klagebegehren 2 Anwendung
finde.

  2.1  Nach Art. 2 LugÜ sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet
eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit,
vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens vor den Gerichten des
Wohnsitzstaates zu verklagen. Der Wohnsitzgerichtsstand des Beklagten ist
der zentrale Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit des LugÜ überhaupt,
während der Wohnsitz oder Sitz des Klägers dafür regelmässig unbeachtlich
ist (BGE 129 III 738 E. 3.2 S. 744 mit Hinweis; GERHARD WALTER,
Internationales Zivilprozessrecht der Schweiz, 3. Aufl. 2002, S. 176; JAN
KROPHOLLER, Europäisches Zivilprozessrecht, Kommentar zu EuGVO,
Lugano-Übereinkommen und Europäischem Vollstreckungstitel, 8. Aufl. 2005, N.
9 f. vor Art. 2 EuGVO). Es handelt sich um die Konkretisierung der
allgemeinen Regel "actor sequitur forum rei" (BGE 130 III 285 E. 4 S. 289).
Unerheblich ist, ob der Ansprecher eine Leistungsklage oder der
Anspruchsgegner eine negative Feststellungsklage erhebt, denn in beiden
Fällen ist der Wohnsitz des Beklagten massgebend (KROPHOLLER, a.a.O., N. 1
zu Art. 2 EuGVO). Der Klägergerichtsstand steht für negative
Feststellungsklagen nicht zur Verfügung, woran der in BGE 130 III 285
publizierte Entscheid entgegen der Auffassung der Vorinstanz nichts ändert.
In diesem Urteil hat das Bundesgericht für die ausschliesslich dem
schweizerischen Recht bekannte Aberkennungsklage erkannt, dass es nicht
darauf ankommen könne, ob der Gläubiger statt einer Forderungsklage den Weg
der Betreibung wählt, und es daher Art. 2 Abs. 1 LugÜ nicht widerspreche,
wenn ausnahmsweise auf die materielle Berechtigung statt der formellen
Stellung im Prozess abgestellt werde (BGE 130 III 285 E. 5.3 S. 291 ff.).
Aus der Begründung dieses Entscheids ergibt sich eindeutig, dass es ganz
besonderer Umstände bedarf, um von der zentralen Anknüpfung an den Wohnsitz
bzw. Sitz des im Verfahren formell Beklagten abzuweichen. Materielle
Verhältnisse, welche die örtliche Zuständigkeit sinnvoll oder zur
Verhinderung einer "weiteren Prozessverzettelung" wünschbar erscheinen

lassen, vermögen die Zuständigkeit am gesetzlich nicht vorgesehenen
Klägergerichtsstand jedenfalls nicht zu begründen.

  2.2  Die Vorinstanz hat die Tragweite von Art. 2 Abs. 1 LugÜ verkannt,
indem sie ihre örtliche Zuständigkeit zur Beurteilung der negativen
Feststellungsklage in Ziffer 2 der Klagebegehren gestützt auf den Sitz der
Klägerinnen in der Schweiz bejahte. Zur Beurteilung der begehrten
Feststellung, dass die Klägerinnen 1 und 2 weder den deutschen noch den
französischen Teil des europäischen Patents X. der Beklagten verletzen, sind
die Gerichte in der Schweiz ohne Einverständnis der Beklagten nicht
zuständig. Folgerichtig ist die Vorinstanz auch unzuständig zur im Begehren
3 beantragten Feststellung, dass der Beklagten aus der Verletzung des
deutschen oder französischen Teils des Patents X. keine Forderungen
zustehen. Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob die Vorinstanz
zutreffend von der Annahme ausgegangen ist, die zwingende Zuständigkeit
gemäss Art. 16 Ziff. 4 LugÜ stehe ihrer Zuständigkeit zur Feststellung
(nicht erfolgter) Verletzung ausländischer Patente auch dann nicht entgegen,
wenn vorfrageweise die Feststellung der Patentnichtigkeit verlangt werde.
Diese Auffassung hat die Vorinstanz im angefochtenen Beschluss vertreten,
bevor der EuGH in der Rechtssache C-4/03 am 13. Juli 2006 entschieden hat,
dass die ausschliessliche Zuständigkeitsregel von Art. 16 Ziff. 4 EuGVÜ/LugÜ
alle Arten von Rechtsstreitigkeiten über die Eintragung oder die Gültigkeit
eines Patents unabhängig davon betrifft, ob die Frage klageweise oder
einredeweise aufgeworfen wird.

Erwägung 3

  3.  Soweit die Klägerinnen in der Berufungsantwort die Ansicht vertreten,
die Zuständigkeit schweizerischer Gerichte könnte am deliktischen
Handlungsort begründet sein, verkennen sie die Tragweite von Art. 5 Ziff. 3
LugÜ. Nach dieser Bestimmung kann eine Person mit Wohnsitz in einem
Vertragsstaat in einem anderen Vertragsstaat vor dem Gericht des Ortes
verklagt werden, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist, wenn eine
unerlaubte bzw. dieser gleichgestellte Handlung oder Ansprüche aus einer
solchen Handlung den Gegenstand des Verfahrens bilden. Diese Zuständigkeit
beruht auf der Erwägung, dass hier eine besondere Nähe zum Streitgegenstand
besteht und das Gericht am Ort, an dem das schädigende Ereignis eingetreten
ist, am besten in der Lage ist, die erforderlichen Beweise zu erheben und
den Streit zu entscheiden (KROPHOLLER, a.a.O., N. 73 zu Art. 5 EuGVO; HÉLÈNE
GAUDEMET-TALLON, Compétences et exécution des jugements en Europe, 3. Aufl.
2002,

S. 125 Rz. 171). Als eingetreten wird das schädigende Ereignis nach der hier
massgebenden Praxis des EuGH sowohl am Ort der Vornahme der deliktischen
Handlung wie am Ort des Erfolgs anerkannt (BGE 125 III 346 E. 4a S. 348;
GAUDEMET-TALLON, a.a.O., S. 172 Rz. 215). Für die Verletzung ausländischer
Patente käme höchstens der Handlungsort als Deliktsort in Betracht. Da eine
Patentverletzung eine Benutzungshandlung auf dem Gebiet des Staates, für den
das Patent erteilt wurde, voraussetzt, kann nämlich der Erfolgsort als Ort,
an dem die Rechtsgutverletzung eintritt, immer nur in diesem Staat liegen.
Gegen die Zuständigkeit der Gerichte am Handlungsort bei der Verletzung
ausländischer Patente im Inland spricht jedoch die Erwägung, dass die
Patentverletzung weder im Gerichtsstaat erfolgt ist noch dessen materielles
Recht zur Anwendung kommt, womit es an der für Art. 5 Ziff. 3 LugÜ
erforderlichen besonderen Nähe zum Streitgegenstand fehlt (KLAUS GRABINSKI,
Zur Bedeutung des Europäischen Gerichtsstands- und
Vollstreckungsübereinkommens [Brüsseler Übereinkommens] und des
Lugano-Übereinkommens in Rechtsstreitigkeiten über Patentverletzungen, in:
Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil [GRUR Int.]
2001 S. 201/204 f.; vgl. auch PIERRE VÉRON, Trente ans d'application de la
Convention de Bruxelles à l'action en contrefaçon de brevet d'invention, in:
Journal du Droit International [Clunet] 2001 S. 805/826 f.).