Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 132 III 726



Urteilskopf

132 III 726

  86. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen
Versicherung Y. (Berufung)
  5C.153/2006 vom 24. August 2006

Regeste

  Art. 9 Abs. 1 der Verordnung über die Rechtsschutzversicherung vom 18.
November 1992; Art. 169 Abs. 1 der Verordnung vom 9. November 2005 über die
Beaufsichtigung von privaten Versicherungsunternehmen; Anwendungsbereich des
in diesen Bestimmungen erwähnten Verfahrens.

  Das in den angeführten Bestimmungen erwähnte Verfahren ist lediglich für
Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der zur Regelung des Schadenfalls zu
ergreifenden Massnahmen vorgesehen, nicht für die Beantwortung der Frage, ob
überhaupt Versicherungsdeckung bestehe (E. 2 und 3.1).

Sachverhalt ab Seite 726

  Am 25. August 2003 unterzeichnete X. (Kläger) ein Gesuch um Benützung der
alten Turnhalle A. für eine Halloween-Party am 31. Oktober 2003, wobei auf
dem Gesuchsformular als Gesuchsteller der Einlegerverein Restaurant Z.
genannt wurde. Die Schulpflege A. bewilligte

das Gesuch am 9. September 2003. Die Einwohnergemeinde A. stellte dem
Einlegerverein am 13. August 2004 für verschiedene Verluste und Schäden
Rechnung über Fr. 11'969.15. Der Kläger bezeichnete sich selber in einem
Schreiben vom 4. November 2004 als Veranstalter des Anlasses; der
Einlegerverein sei in keiner Weise beteiligt gewesen. Gleichzeitig fragte er
die Versicherung Y. (Beklagte) als seine Rechtsschutzversicherung an, ob und
in welchem Umfang Versicherungsdeckung bestehe und ob sie die Angelegenheit
gegebenenfalls zur weiteren Regelung übernehmen wolle. Mit Schreiben vom 5.
November 2004 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass kein
Versicherungsschutz bestehe.

  Mit Klage vom 21. Februar 2005 stellte der Kläger im Wesentlichen die
Begehren, die Beklagte sei zu verpflichten, Deckungszusicherung zur
Vertretung durch den unterzeichneten Anwalt gegenüber der Forderung der
Einwohnergemeinde A. aus Mietvertrag vom 31. Oktober 2003 zu erteilen,
eventuell sei festzustellen, dass der Kläger gegenüber der Beklagten
Anspruch auf Deckungszusicherung habe. Die Beklagte beantragte Abweisung der
Klage. Am 17. November 2005 verpflichtete der Präsident I des
Bezirksgerichts Lenzburg die Beklagte, dem Kläger Deckungszusicherung zu
erteilen.

  Am 27. April 2006 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Klage in
Gutheissung der Appellation der Beklagten und nach Aufhebung des
angefochtenen Entscheids ab. Das Bundesgericht weist die vom Kläger gegen
dieses Urteil erhobene Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

  2.

  2.1  Der Kläger beruft sich auf Art. 9 der Verordnung über die
Rechtsschutzversicherung vom 18. November 1992 (RSV-VO; AS 1992 III 2355).
Diese Verordnung wurde zwar mit Art. 217 Ziff. 7 der Verordnung über die
Beaufsichtigung von privaten Versicherungsunternehmen vom 9. November 2005
(Aufsichtsverordnung, AVO; SR 961.011) per 31. Dezember 2005 aufgehoben. Es
ist aber allseits mit Recht unbestritten, dass die RSV-VO auf den
vorliegenden Fall noch anwendbar ist, weil sich der Vorfall im Jahre 2003
ereignete, die Schadenersatzforderung vom 13. August 2004 datiert und die
erste Schadenmeldung an die Beklagte am 4. November 2004 erfolgte. Im
Übrigen fand Art. 9 RSV-VO fast wörtlich Eingang in den neuen Art. 169 AVO.
Art. 169 Abs. 1 AVO sieht das Schiedsverfahren bei Meinungsverschiedenheiten
"hinsichtlich der Massnahmen zur Schadenerledigung" vor.

  2.2  Der Kläger macht geltend, gestützt auf Art. 9 Abs. 1 RSV-VO wäre die
Beklagte verpflichtet gewesen, ihn auf das für Streitigkeiten zwischen den
Parteien vorgesehene Schiedsverfahren aufmerksam zu machen. Da sie dies
nicht getan, sondern vielmehr die Durchführung eines Schiedsverfahrens
ausdrücklich abgelehnt habe, gelte das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers von
Gesetzes wegen als anerkannt und die Beklagte sei zu verpflichten, dem
Kläger Deckungszusicherung zu erteilen. Das Obergericht gelangte im
angefochtenen Entscheid zum Schluss, dass diese Bestimmung nur anwendbar sei
für Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der zur Regelung des Schadenfalls
zu ergreifenden Massnahmen und demnach nicht, wenn umstritten sei, ob
überhaupt eine Versicherungsdeckung vorliege.

  2.3  Gemäss Art. 9 Abs. 1 erster Satz RSV-VO sieht der
Versicherungsvertrag ein Verfahren vor, um jede Meinungsverschiedenheit zu
entscheiden, die zwischen der Versicherungseinrichtung und dem Versicherten
"hinsichtlich der zur Regelung des Schadenfalles zu ergreifenden Massnahmen"
auftritt. Sieht der Versicherungsvertrag kein Verfahren nach Absatz 1 vor
oder unterlässt es die Versicherungseinrichtung, den Versicherten im
Zeitpunkt der Ablehnung der Leistungspflicht darüber zu informieren, so gilt
das Rechtsschutzbedürfnis des Versicherten im entsprechenden Fall als
anerkannt (Art. 9 Abs. 3 RSV-VO).

  2.4  Nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 RSV-VO ist das Schiedsverfahren
von Gesetzes wegen nur vorgesehen, um Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich
der zur Regelung des Schadenfalles zu ergreifenden Massnahmen zu
entscheiden. Dies bedeutet, dass nach dem Wortlaut nur die
Meinungsverschiedenheiten betreffend die sog. Schadenregelungsmassnahmen
Gegenstand des Schiedsverfahrens bilden. Es handelt sich um
Meinungsverschiedenheiten über die Art und Weise, wie der Schadenfall zu
regulieren ist, nicht aber um den Streit über die Frage, ob für einen
Rechtsstreit Deckung besteht.

  2.5  Die wörtliche Auslegung entspricht der Entstehungsgeschichte der
Vorschrift: Im Nachgang zum Abschluss eines Abkommens der Schweiz mit der
europäischen Wirtschaftsgemeinschaft betreffend die Direktversicherung
(Botschaft vom 14. August 1991, BBl 1991 IV 1 ff.) sah sich die Schweiz
unter anderem veranlasst, Schutzvorschriften für die Versicherten zu
erlassen. So schreibt Art. 6 Abs. 1 der europäischen Richtlinie den
Mitgliedstaaten vor, alle zweckdienlichen

Massnahmen zu treffen, damit im Fall von Meinungsverschiedenheiten "über das
Vorgehen im Schadenfall" ("quant à l'attitude à adopter pour régler le
différend") ein gerechtes und effizientes für Neutralität und Objektivität
garantierendes Schiedsverfahren eingeleitet wird. Aus diesem Grund wurde
Art. 9 RSV-VO geschaffen (vgl. dazu ausführlich: Urteil 5C.148/2000 vom 14.
September 2000, E. 3b/aa mit zahlreichen Hinweisen). Auch aus dem Rückbezug
auf diese europäische Richtlinie ergibt sich, dass das Schiedsverfahren für
Streitigkeiten über das Vorgehen im Schadenfall vorgesehen ist und nicht zur
Beurteilung der Frage, ob überhaupt Deckung besteht.

  2.6  Entsprechend diesem Konzept hat das Bundesgericht in dem von den
Parteien angerufenen und vom Obergericht berücksichtigten Entscheid
5C.148/2000 zunächst geprüft, ob der dortige Streitgegenstand unter die
Deckung der Rechtsschutzversicherung falle, und es hat diese Frage
selbständig und verbindlich bejaht (E. 2). Bezüglich der Frage der Deckung
besteht nämlich ein gerichtlich durchsetzbarer Feststellungsanspruch (so
bereits BGE 119 II 368). In jenem Fall 5C.148/2000 war aber nicht nur
streitig, ob es an einer versicherungsvertraglichen Deckung mangle, sondern
es bestand auch eine Meinungsverschiedenheit über das Vorgehen im
Schadenfall, indem die Versicherung im Gegensatz zum Versicherten die
Meinung vertrat, es solle kein Prozess geführt werden, weil dieser keine
Erfolgschancen habe (Sachverhalt B). Da zur Beurteilung dieser Frage das
Schiedsgericht zuständig ist, hat sich das Bundesgericht mit Art. 9 RSV-VO
befasst und ist - nach Prüfung der gesetzlichen Grundlage von Art. 9 RSV-VO
(E. 3) - zum Schluss gelangt, dass die Versicherungsgesellschaft den
Versicherten über das Schiedsverfahren zu spät informiert habe. Das Gericht
hat aus diesem Grund das Rechtsschutzbedürfnis des Versicherten ungeachtet
darum anerkannt, ob tatsächlich Erfolgsaussichten bestanden oder nicht (E. 4
und 5). Diesem Entscheid ist daher zu entnehmen, dass zur Beurteilung der
Deckung entsprechend dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte der Norm
kein Schiedsverfahren durchzuführen ist.

  2.7  Diese Auslegung entspricht - soweit ersichtlich - auch der
einhelligen Lehre. So wird als unabdingbare Voraussetzung für ein
Schiedsverfahren verlangt, dass ein versicherungsvertraglich gedeckter
Schadenfall eingetreten sei; die Frage der Deckung sei keine Frage, die im
Schiedsverfahren zu klären sei; allenfalls könne

eine diesbezügliche Einrede vom Schiedsrichter vorfrageweise beurteilt
werden, wenn sie zusammen mit einem unter den Anwendungsbereich von Art. 9
RSV-VO fallenden Streit geltend gemacht werde (POLTERA, Der
Rechtsschutzversicherungsvertrag und das Verfahren bei
Meinungsverschiedenheiten in der Schadenabwicklung, Diss. St. Gallen 1999,
S. 127 ff.). Weiter wird auf Art. 6 der europäischen Richtlinie hingewiesen
und ausgeführt, das Schiedsverfahren sei "pour les divergences d'opinion en
matière de gestion des sinistres" vorgesehen und dürfe nicht vorgeschrieben
werden "pour les différends entre assureurs et assurés qui portent sur
d'autres objets (par exemple application d'une clause d'exclusion,
interprétation d'une disposition des conditions générales, etc.)" (DUTOIT,
Ordonnance sur l'assurance de la protection juridique du 18 novembre 1992,
in: SVZ 62/1994 S. 43/44 N. 115). Das Schiedsverfahren sei vorgesehen zur
Bereinigung des Vorgehens zur Beilegung eines Streitfalles (Inanspruchnahme
eines Anwalts, Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens, Kosten für ein
Beweisverfahren, Einlegung eines Rechtsmittels usw.), dagegen nicht zur
Bereinigung von Deckungsfragen, welche von den ordentlichen Gerichten zu
entscheiden seien (SÜSSKIND, Die Rechtsschutzversicherung, in: Plädoyer 1992
3 S. 40).

  2.8  Damit übereinstimmend sieht auch Ziff. 9.3.1 der Allgemeinen
Versicherungsbedingungen (AVB; Ausgabe 1997) vor, dass bei
Meinungsverschiedenheiten "über den Verlauf der Intervention" das
Schiedsverfahren durchgeführt werde. Auch vertraglich hat sich die Beklagte
demnach nicht verpflichtet, ein solches Verfahren durchzuführen, wenn es
nicht um den Verlauf der Intervention, sondern um die Frage geht, ob eine
Intervention durch den Versicherungsvertrag gedeckt sei.

Erwägung 3

  3.

  3.1  Aus all diesen Gründen liegt im vorliegenden Fall keine
Meinungsverschiedenheit hinsichtlich der zur Regelung des Schadenfalls zu
ergreifenden Massnahmen vor, so dass die Beklagte den Kläger im Zeitpunkt
der Ablehnung der Leistungspflicht nicht über das Schiedsverfahren
informieren musste. Bei dieser Sachlage gilt das Rechtsschutzbedürfnis des
Klägers nicht ohne weiteres als anerkannt. Da die Rechtsschutzversicherung
des Klägers für die vorliegende Streitigkeit keine Deckung gewährt, muss die
Berufung abgewiesen werden.